Social Media könnte die Gesellschaft zersetzen – sagen diese 17 Forscher:innen
Facebook, Twitter und Co. sind vielleicht gefährlicher, als wir annehmen, warnt eine Gruppe von Wissenschaftler:innen. Sie stellt eine klare Forderung.
Als die Mitarbeiter:innen des staatlichen Gesundheitssystems in Großbritannien (NHS) vergangenes Wochenende nach ihrem schweren, monatelangen Coronaeinsatz zur Arbeit kommen, staunen sie nicht schlecht. Auf dem Trafalgar Square in London hat sich eine lautstarke versammelt. Dort lässt sich die Ex-Krankenschwester bei einer Ansprache filmen, in der sie die beiwohnende Menge dazu auffordert, E-Mail-Adressen und Namen der NHS-Mitarbeiter:innen zu sammeln – um sie »zur Rechenschaft« zu ziehen. Doch es kommt noch schlimmer: Den Kampf gegen Covid-19 und die Impfkampagne vergleicht die in England mittlerweile berühmt-berüchtigte allen Ernstes mit den Kriegsverbrechen der Nazis. Unter jubelnden Rufen endet sie mit einem Verweis auf die Nürnberger Prozesse und darauf, – eine kaum noch verhohlene Drohung und Gewaltaufforderung.
Ausschnitte der Ansprache werden Minuten später auf sozialen Medien geteilt und erreichen natürlich auch die NHS-Mitarbeiter:innen. Eine von ihnen twittert: »Ich kann es nicht fassen […] als Intensivärztin, die alles gegeben hat, um Leben zu retten,
Doch zwischen den zahllosen entsetzten Kommentierenden finden sich auch Befürworter:innen von Shemiranis Ansichten. Sie verbreiten Zweifel an der Wirksamkeit von Impfungen, offiziellen Zahlen und Ansichten, über die aufgeklärte Mitlesende nach über einem Jahr Pandemie nur den Kopf schütteln können. Ein Nutzer bringt es auf den Punkt:
Was passiert mit den Menschen? Warum glauben so viele Verschwörungstheorien, erbärmlichen Unsinn und Lügen? Die Demokratie ist auf eine informierte Bevölkerung angewiesen, um zu überleben. Demagogie lebt von Unwissenheit.
Eine Antwort wäre: Social Media ist das, was passiert.
Auf den sozialen Netzwerken kann jeder nahezu alles verbreiten – auch dreiste Lügen – und damit weltweit Zuhörer:innen finden. Damit sind Facebook, Twitter, Instagram, Youtube und Co. perfekte Orte für Demagog:innen und alle, die von Desinformation profitieren.
Und das könnte eventuell sogar zersetzend für unsere Gesellschaft sein, sagen nun 17 Forscher:innen aus so unterschiedlichen Bereichen wie Philosophie, Biologie und Umweltwissenschaften. Sie haben gemeinsam eine Forschungsarbeit veröffentlicht – die eigentlich ein Weckruf an uns alle ist.
Was soziale Medien mit uns machen und wo sie gefährlich werden
Mit dem Aufschwung des Internets in den vergangenen 21 Jahren setzte sich auch eine neue Form der Kommunikation durch: soziale Medien. Statt wie früher im persönlichen Gespräch oder als Rede vor Publikum können über Facebook, Twitter und Co. im Prinzip alle jederzeit mit allen anderen ins Das Ergebnis ist eine kollektive Intelligenz – kurz: viele machen mit, am Ende haben alle die Möglichkeit, etwas beizutragen. Auf den ersten Blick macht dies Kommunikation demokratischer und fördert den freien Austausch von Informationen, vorbei an früheren Filtern wie Medien, nichtstaatlichen Interessengruppen und staatlichem Einfluss.
Doch das muss nicht zwangsläufig dazu führen, dass dadurch die »besten Ideen« gewinnen. Ganz im Gegenteil könnten Facebook, Twitter und Co. vielleicht sogar globalen Schaden anrichten und die Gesellschaft von innen heraus zersetzen. So argumentieren nun auch 17 Forscher:innen in ihrer im Juni 2021 erschienenen, gemeinsamen Arbeit »Stewardship of global collective behavior« (Verantwortung für globales kollektives Verhalten). Sie sehen das Internet nicht als Medium für globale Kommunikation, sondern als Technologie, die vor allem drastisch verändert hat, wie wir Informationen erhalten, die Welt verstehen und zu einem Konsens über den Umgang mit Problemen kommen – mit kaum abzusehenden Konsequenzen.
Perspective Daily:
Früher galten soziale Medien in der öffentlichen Wahrnehmung noch als harmlose Spielerei. Man verbindet sich mit alten Schulfreunden und teilt Fotos von Katzen, Urlaub und dem Abendessen. Wann hat sich das verändert?
Wolfram Barfuß:
In den vergangenen Jahren ist die Debatte über soziale Medien und deren Auswirkungen vielschichtiger geworden. Das begann schon um 2010 herum mit dem und Die damaligen Revolutionen hin zu demokratischeren Systemen wurden noch eher als positiv wahrgenommen. Doch in den vergangenen 5 Jahren wurden andere negative Aspekte deutlicher: Abhängigkeiten von sozialen Medien, Desinformation und Onlinehass, um nur einige zu nennen.
Worin besteht denn der Unterschied zwischen sozialen Medien und traditioneller Kommunikation genau?
Barfuß:
Ein Aspekt ist die Einfachheit der Kommunikation. Es ist unfassbar simpel und niedrigschwellig, Informationen zu senden und zu erhalten. In der Forschungsarbeit ist das eine von den von uns skizzierten 4 Schlüsselaspekten von Social Media, die unsere Sozialdynamiken verändert haben.
Und die anderen 3?
Barfuß:
Die schiere Menge an teilnehmenden Menschen, die Möglichkeit, jederzeit auch über die eigene soziale Schicht und lokale Kontakte hinaus zu kommunizieren und damit Fremde zusammenzubringen, und zuletzt der Einfluss von Algorithmen auf die Auswahl der angebotenen Informationen.
Diese 4 Schlüsselaspekte klingen jetzt erst einmal gar nicht so schlimm. Warum ist der Einfluss von sozialen Medien auf unser Zusammenleben aus eurer Perspektive trotzdem bedenklich?
Pawel Romanczuk:
Wir sehen bereits heute, dass soziale Medien extreme negative Auswirkungen auf unser Zusammenleben haben können – etwa auf das Vertrauen in Medien und Organisationen, aber auch auf die soziale Stabilität ganzer Länder. Das kann im Extremfall sogar zu Ausbrüchen von Gewalt führen. Ganz konkret sahen wir das in Myanmar, wo die Daran sehen wir auch, dass die Prozesse auf sozialen Medien keine reinen Onlinephänomene sind, sondern in unser reales Leben eingreifen können. Aktuellere oder der versuchte Sturm des Reichstags in Deutschland. Auch ihr Ausgangspunkt lag jeweils in der Kommunikation entsprechender Gruppen über soziale Medien.
Was passiert denn dabei genau auf sozialen Medien?
Romanczuk:
Das ist das Problem. Wir wissen es nicht genau. Wir können nur sagen, dass dort eine Beeinflussung stattfindet, können aber nichts Konkretes über die Abläufe und Wirkungsweisen der Algorithmen sagen. Da aber die sozialen Medienunternehmen mit Werbung Ihr Geld verdienen ist es relativ nachvollziehbar, dass die Algorithmen einen anderen Zweck verfolgen als das Wohlergehen der Gesellschaft. Und wir können sehen, dass soziale Medien (darunter auch Messengerplattformen) für immer größere Teile der Welt, die keine so etablierte Medienlandschaft haben wie Deutschland, die Hauptnachrichtenquelle sind.
Barfuß:
Es fehlt der Forschung schlussendlich die Einsicht in diese Plattformen. Das ist ein Problem, denn Social Media ist im Grunde genommen ein komplexes System, das die Plattformen beständig im Detail verändern – etwa um vorgeblich gegen Desinformationen vorzugehen. Doch ob diese Maßnahmen wirken oder nicht, lässt sich kaum nachprüfen, weil viele Unternehmen ihre Daten unter Verschluss halten. Letztendlich kontrollieren private Unternehmen vollständig ihre Infrastrukturen – die einen großen Einfluss auf die Gesellschaft haben.
Könnte man nicht auch argumentieren, dass viele negative Effekte von Social Media einfach an mangelnder Medienerfahrung in vielen Ländern liegen?
Romanczuk:
So könnte man argumentieren. Doch so schnell wird das nicht vorbeigehen. Denken wir an eine der letzten großen Medienumbrüche der Menschheit zurück: den Buchdruck. Wir müssen uns vor Augen führen, dass religiöse Konflikte im Zusammenhang mit der Reformation, inklusive des 30-jährige-Krieges, auch teilweise auf den Buchdruck zurückgeführt werden können.
Also hätte man den Buchdruck besser nicht erfinden sollen? Das kann doch nicht die Antwort sein.
Romanczuk:
Nein, das heißt ja nicht, dass der Buchdruck etwas Schlechtes war – es heißt nur, dass er massive Veränderungen der Gesellschaft zur Folge hatte. Und wir müssen uns auch klarmachen, wie langsam und lokal der Buchdruck eingeführt wurde, während wir bei digitalen Medien von einer rasanten globalen Entwicklung in nur wenigen Jahren sprechen. Und soziale Medien entwickeln sich beständig weiter.
Und die Wissenschaft hinkt hinterher, oder?
Romanczuk:
Mehr noch. Wir konnten während der Covid-19-Pandemie beobachten, wie bestimmte Fehlinterpretationen davon, wie Wissenschaft arbeitet, durch soziale Medien verstärkt wurden. Das ist von Forscher:innen nur schwer wieder geradezurücken. Manche werden auch über soziale Medien direkt attackiert und verabschieden sich ganz aus diesem Raum.
Barfuß:
Natürlich ist es auch aus wissenschaftlicher Sicht zu einfach zu sagen: Es gibt »die eine« Wahrheit. Natürlich gehört das Zweifeln in den Prozess der Wissenschaft – auf wissenschaftlicher Basis. Aber es gibt einfach ein bestimmtes Grundverständnis von der Welt, abgeleitet aus der Idee der Aufklärung, auf das wir bauen können müssen. Doch genau dieses selbstverständliche Grundverständnis ist durch die digitale Kommunikation in den letzten 10 Jahren unterminiert worden. Ein gutes Beispiel für Desinformation gegen Fakten und wissenschaftlichen Konsens ist auch der menschengemachte Klimawandel.
Dabei ist gerade beim Klimawandel das entschiedene Handeln dagegen potenziell überlebenswichtig. Sind soziale Medien damit gar ein »Risiko für die Menschheit«, wie manche Medien als Überschrift für eure Studie titelten?
Romanczuk:
Das ist mir schon etwas zu viel als Framing. Die Größenordnungen der Effekte dürften aber schon enorm sein. Doch Genaueres wissen wir noch nicht. Und genau darum geht es.
Die Lösung der Forschung: Mehr Forschung, mit Nachdruck!
Pawel Romanczuk und Wolfram Barfuß und den anderen 15 Forscher:innen ist völlig klar, vor welchen enormen Herausforderungen die Menschheit in den kommenden Jahrzehnten steht – von Pandemien über Klimawandel bis zur Nahrungssicherung einer wachsenden Weltbevölkerung. Ihre Arbeit zeigt, dass gerade in einer solchen Situation, in der es auf gemeinsame Anstrengungen und klaren politischen Willen ankommt, die Dynamiken auf sozialen Medien störend, verzögernd und sogar hindernd wirken könnten.
Eine Handlungsanweisung haben die Forscher:innen nicht. Sie wollen soziale Medien weder verbieten noch stärker regulieren. Stattdessen verstehen sie ihre Arbeit aber als Appell: Soziale Medien und die Dynamiken darauf dringend intensiver zu untersuchen. Ihre konkrete Forderung lautet, die Forschung am kollektiven Verhalten zu einer Krisendisziplin der Wissenschaft zu erheben – auf dieselbe Stufe wie etwa die Klimaforschung.
Denn so entstehen schnell intensive Kooperationen über Disziplinen hinweg, die dieses komplexe Phänomen besser begreifen können. Sie könnten dann etwa Mechanismen identifizieren, die gegen Falschinformationen wirken, und Empfehlungen für Netzwerkbetreibende und die Politik entwickeln.
Nun könnte man sagen: »Forschende fordern mehr Forschung, na klar.« Und in gewisser Weise ist diese Forderung tatsächlich selbstgefällig. Doch sie könnte und sollte auch für Politiker:innen und den Rest der Gesellschaft eine Mahnung sein: Soziale Medien beeinflussen das Denken und Handeln von Milliarden Menschen. Grund genug, sie dringend genauer unter die Lupe zu nehmen und offene Fragen zu klären.
Allein ein Blick zurück auf die Impfgegnerproteste in London drängt 3 ungeklärte Fragen auf, worauf vielleicht nicht die Wissenschaft, sondern wir alle Antworten finden müssen:
Wie lässt sich über Desinformationen diskutieren und berichten, ohne diese zu reproduzieren?
Wie geht eine Gesellschaft gegen Provokationen von Menschen vor, die von Lügen und Anfeindungen profitieren?
Wie viel Verantwortung tragen Plattformen für Desinformationen und ihre Konsequenzen?
Diskutiert unter dem Beitrag mit mir darüber.
Mit Illustrationen von
Doğu Kaya
für Perspective Daily
Dirk ist ein Internetbewohner der ersten Generation. Ihn faszinieren die Möglichkeiten und die noch junge Kultur der digitalen Welt, mit all ihren Fallstricken. Als Germanist ist er sich sicher: Was wir heute posten und chatten, formt das, was wir morgen sein werden. Die Schnittstellen zu unserer Zukunft sind online.