Wie Drogen: Machen uns Smartphones zu Dopaminjunkies?
Ja, sagt Stanfords Suchtexpertin Anna Lembke. Wie genau, erklärt sie im Interview. Ein zentraler Faktor: die Verbindung zwischen Lust und Schmerz in unserem Gehirn.
Smartphones sind unglaublich praktisch. Das muss man im Jahr 2021 wirklich niemandem mehr erklären. Wikipedia, Suchmaschinen, Navigationssysteme, Streaming und Onlinechats – immer griffbereit – sprechen für sich.
Aber lange schon wird vermutet, dass das technologische Wunderwerk ein 2-schneidiges Schwert sei. Es gibt Nachteile, die auch du sicher kennst. Ob an der Supermarktkasse oder im Bett, immer wieder schielen wir hektisch auf den kleinen Bildschirm, ganz automatisch, obwohl wir auf gar keine Nachricht warten. Wir werden nervös, wenn unser Handy mal verlegt ist. Kommt dir das bekannt vor?
Anna Lembke interessiert sich für diese dunkle Seite der Smartphones. Sie ist Suchtexpertin an der renommierten Universität Stanford in Kalifornien und behandelt seit über 20 Jahren Menschen mit Suchterkrankungen – und sieht Parallelen.
Onlineshopping, Videostreams, Games, Social Media oder auch Pornos sind nur einen Handgriff entfernt und bieten jederzeit die Möglichkeit, negative Gedanken per Knopfdruck zu verdrängen. Das könne auf Dauer nicht gut gehen, sagt die Suchtexpertin. Oft genug schlage der Versuch, diesen Gefühlen aus dem Weg zu gehen, ins Gegenteil um. Die Statistiken zur psychischen Gesundheit aus dem Zeitalter der Digitalisierung und des technischen Fortschritts sind auffällig: Die stärksten Zuwächse wurden in Regionen mit den höchsten Einkommen verzeichnet.
Eine Antwort hat Anna Lembke 2020 in der Netflix-Dokumentation »The Social Dilemma« gegeben; dort ging sie hart mit den sozialen Medien ins Gericht. Nun hat sie ein Buch geschrieben, das Apple, Google und Facebook wenig gefallen dürfte.
Felix Franz:
Ihr Buch »Dopamin Nation« ist vor Kurzem herausgekommen. Worum geht es?
Anna Lembke:
Im Wesentlichen stelle ich die Hypothese auf, dass die steigenden Raten von Depressionen und Angstzuständen auf der ganzen Welt nicht in erster Linie auf soziale Verwerfungen oder frühkindliche Traumata oder angeborene psychische Erkrankungen zurückzuführen sind, obwohl all diese Dinge eine Rolle spielen. Bei einem großen Teil geht es darum, dass wir von allem zu viel haben. Diese Wohlfühlverhaltensweisen – ich nenne sie auch Wohlfühldrogen – können unsere Gehirne auf eine Weise verändern, die uns unglücklicher macht.
Was meinen Sie mit Wohlfühldrogen?
Anna Lembke:
Das können Onlineaktivitäten, Wohlfühlpillen oder verschiedenen Formen der Unterhaltung sein, bei denen wir uns ständig selbst befriedigen und ablenken. Die Prämisse des Buches ist, dass wir uns im Grunde zu Tode amüsieren. Wir haben mehr Zugang zu Drogen und Verhaltensweisen, die uns gegen schmerzhafte Erfahrungen, Alleinsein und unangenehme Gedanken abschirmen.
Anna Lembke ist eine amerikanische Psychiaterin und Direktorin der Stanford Addiction Medicine Dual Diagnosis Clinic an der Stanford University. Sie ist Spezialistin für die Opioid-Epidemie in den Vereinigten Staaten.
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Quelle:
Stanford Medicine
Wie kamen Sie darauf?
Anna Lembke:
Ich habe viele Menschen therapiert, die süchtig nach waren. Je mehr sie nahmen, desto weniger halfen ihre Tabletten. Ich begann mich zu fragen, ob all diese Freizeit- und Unterhaltungsangebote, die wir nutzen, um uns gut zu fühlen, nicht durch denselben grundlegenden Mechanismus dazu beitragen, dass wir immer unglücklicher werden.
Und welche Rolle spielt das Smartphone genau dabei?
Anna Lembke:
Im Grunde ist der Bildschirm selbst ein Verstärker und alles, was verstärkend, angenehm oder belohnend ist, führt dazu, dass unser Gehirn freisetzt, den Lustneurotransmitter im Belohnungsweg des Gehirns.
Ist es nicht ein bisschen übertrieben, hier von Sucht zu sprechen? Ich meine, früher wurde vermutet, dass Menschen abhängig vom Fernsehschauen waren.
Anna Lembke:
Beim Fernsehen haben wir nur eine begrenzte Anzahl von TV-Sendern. Viele davon sind ziemlich nervig und von Werbung unterbrochen. Außerdem ist es meist stationär. Das Smartphone folgt uns überallhin. Es sendet Benachrichtigungen und es gibt ein unendliches, personalisiertes Angebot. Wir können komplett kontrollieren, was wir tun und uns anschauen. Dieser Kontrollaspekt ist besonders wichtig, um süchtig zu werden. Die Art und Weise kontrollieren zu können, wie wir unsere momentanen Gefühle verändern, ist eine unglaubliche Erleichterung. Außerdem kommt es bei Sucht auch auf die Menge an. Wer einen ganzen Eimer Kokain zu Hause hat, ist weitaus gefährdeter, süchtig zu werden. Der Inhalt auf vielen Social-Media-Plattformen ist quasi unendlich. Niemand könnte jemals alle Tiktok-Videos schauen. Zudem analysiert ein hoch entwickelter Algorithmus unser Klickverhalten und gibt uns immer mehr von dem, was wir mögen. Davon loszukommen ist schwierig, selbst wenn wir es wollen.
Und was hat Dopamin damit zu tun?
Anna Lembke:
Wissenschaftler nutzen Dopamin als eine Art universelle Währung, um das Suchtpotenzial einer Erfahrung zu messen. Je mehr Dopamin in den Belohnungsbahnen des Gehirns vorhanden ist, desto größer ist das Suchtpotenzial der Erfahrung. Eine der interessantesten Erkenntnisse der letzten 75 Jahre auf dem Gebiet der Neurowissenschaften ist,
Inwiefern?
Anna Lembke:
Dieselben Teile des Gehirns, die Lust verarbeiten, verarbeiten auch Schmerz. Und sie arbeiten wie Gegengewichte in einem Gleichgewicht. Wenn wir uns beispielsweise mit unserem Smartphone beschäftigen, erleben wir einen verstärkenden, angenehmen Moment, eine Ausschüttung von Dopamin. Das Gleichgewicht kommt ins Ungleichgewicht und kippt leicht auf die Seite des Vergnügens. Mittelfristig will der Körper aber wieder im Gleichgewicht sein, also reguliert unser Gehirn die Dopaminproduktion herunter. Man kann sich das so vorstellen wie eine Waage. Auf der einen Seite liegt das Dopamin, auf der anderen Seite, der Schmerzseite, springen kleine Kobolde, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Aber diese Kobolde springen nicht direkt wieder herunter. Die Wippe tippt in Richtung Schmerzen und es kommt zu Nachwirkungen.
»Dopamine Nation« ist im August 2021 in den USA erschienen. Eine deutsche Ausgabe ist in Planung.
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Quelle:
Penguin/Random House
Wie ein Kater nach Alkoholkonsum. Aber wie werden wir die Kobolde wieder los?
Anna Lembke:
Das passiert automatisch. Wer lange genug wartet und das Telefon weglegt, stellt das Gleichgewicht – wir nennen es die wieder her. Wenn wir uns aber weiterhin mit dem Gerät beschäftigen, schütten wir zusätzliches Dopamin aus. Wir brauchen immer Dopamin, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Irgendwann verändern wir unseren Sollwert im Wesentlichen so, dass sich unser Gleichgewicht auf die Schmerzseite verschiebt, wenn wir nicht mit unserem Telefon beschäftigt sind. Wir erleben die universellen Symptome des Entzugs, Unruhe, Angst, Schlaflosigkeit, Depression, intensive geistige Beschäftigung mit unserer Droge. Das Telefon, wo ist es? Weißt du, wer angerufen hat? Was verpasse ich? Muss ich rangehen? Und das ist im Wesentlichen ein physiologisches Phänomen, bei dem wir dazu getrieben werden, die Droge zu nehmen. Nicht um uns gut zu fühlen oder um etwas zu erreichen, sondern einfach um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Das ist das gleiche Phänomen, das bei Heroin, Kokain, Cannabis und Alkohol und jeder einzelnen süchtig machenden Substanz auftritt.
Diese machen natürlich zusätzlich körperlich stark abhängig. Kann man wirklich Handys mit Heroin vergleichen?
Anna Lembke:
Natürlich haben verschiedene Substanzen und Erfahrungen ganz unterschiedliche Suchtpotenziale. Wenn Sie ihr Smartphone für 24 Stunden wegschließen, kann ihr Körper das Gleichgewicht in der Regel wiederherstellen. Bei härteren Drogen dauert das viel länger und ist auch weitaus schmerzhafter.
Wenn jemand dieses Problem bei sich erkennt, was würden Sie raten?
Anna Lembke:
Erst mal schlage ich ein Dopaminfasten vor, um herauszufinden, ob die Smartphonenutzung tatsächlich mitverantwortlich für die negativen Gefühle ist. Da reichen normalerweise 24 Stunden. Und dann, falls Sie sich nach der ersten Entwöhnung besser fühlen und das Handy wieder benutzen wollen, sollten Sie feste Zeiten bestimmen, in denen Sie smartphonefrei sind. Das gibt dem Körper die Möglichkeit, die Homöostase wiederherzustellen.
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass wir zu gut darin geworden sind, Schmerzen zu verhindern. Wie meinen Sie das?
Anna Lembke:
Unsere sehr alte neurologische Maschinerie zur Verarbeitung von Lust und Schmerz in unserem Gehirn ist im Laufe der Evolution und bei allen Arten weitgehend unverändert geblieben. Sie ist perfekt an eine Welt der Knappheit angepasst. Ohne das Streben nach Lust würden wir nicht essen, trinken oder uns fortpflanzen. Ohne Schmerz würden wir uns nicht vor Verletzungen und Tod schützen. Die Menschen sind zu gut darin geworden, Vergnügen zu suchen und Schmerz zu vermeiden. Infolgedessen haben wir die Welt von einem Ort der Knappheit in einen Ort des überwältigenden Überflusses verwandelt. Die Wissenschaft lehrt uns, dass jedes Vergnügen seinen Preis hat. Und das spüren wir gerade am eigenen Leib. Unsere Gehirne sind für diese Welt des Überflusses nicht geschaffen. Tom Finucane, der Diabetes im Zusammenhang mit Bewegungsmangel und Überernährung untersucht, sagt dazu: »Wir sind Kakteen im Regenwald.« Und wie Kakteen, die an ein trockenes Klima angepasst sind, ertrinken wir in Dopamin.
Felix Franz arbeitet als freier Journalist in Paris und Berlin für internationale Fernsehsender wie die BBC und schreibt Reportagen, wenn er unterwegs ist. Manchmal filmt er auch mit seinem Gimbal und kombiniert die unterschiedlichen Formate. Er interessiert sich für Demokratie, Gesellschaft und Umwelt.