»Nein, die Deutschen sind nicht untereinander integriert«
Schwerer Start: Im Schatten der Kölner Silvesternacht entstand »Abwab«, die erste arabisch-deutsche Flüchtlingszeitung. Ihr Chefredakteur Ramy al-Asheq provoziert und kritisiert, um Dialoge zu eröffnen.
13. Februar 2017
– 9 Minuten
Oliver Berg / dpa
In Köln arbeitet Abwab-Chefredakteur Ramy al-Asheq in den eigenen 4 Wänden. Der syrisch-palästinensische Schriftsteller kam 2014 nach Deutschland und entwarf die Idee für die Flüchtlingszeitung. heißt übersetzt »Türen«. Symbolisch möchten die mittlerweile über 50 Autoren mit ihren Beiträgen über Deutschland Türen öffnen; neben hilfreichen Informationen zur neuen Umgebung können Geflüchtete auch gesellschaftliche Diskurse über Integration, Rassismus und Gleichberechtigung in ihrer eigenen Sprache mitverfolgen und mitgestalten. Seit Beginn hat die Zeitung ihre Auflage fast verdoppelt.
Ramy al-Asheq, genau 1 Jahr lang sind Sie jetzt Chefredakteur der ersten arabischen Zeitung in Deutschland, die in Flüchtlingslagern, Kulturcafés und Büchereien verteilt wird. Ihr Eindruck: Ist das Blatt wirklich nur etwas für Geflüchtete?
Ramy al-Asheq:
Richtig, wir sind als Zeitung von Geflüchteten für Geflüchtete an den Start gegangen. Die Idee des Herausgebers New European Media Ltd. war eine Art Informationszentrale – sprich: offene Türen – für Neuankömmlinge zu schaffen. Die Fragen beantwortet wie: Was sagt die Verfassung? Was macht die grüne Bewegung? Wer haut im Karneval auf den Putz? Doch wir haben uns weiterentwickelt, mehr Perspektiven und Erfahrungen gesammelt. Jetzt wird es Zeit, dass wir uns zu einer Plattform entwickeln, die Probleme wie Diskriminierung, Rassismus sowie bespricht und eigene Ideen und Lösungsansätze aufzeigt.
Einige sehen Geflüchtete als Engelchen, andere als Teufel.
Bekommen wir schon einmal einen Vorgeschmack auf die neue Blattlinie: Was gibt es denn an positiven Stereotypen auszusetzen?
Ramy al-Asheq:
Weil auch positive Stereotypen nun einmal Stereotypen sind. Das Gefälle in Deutschland ist tief: Einige sehen Geflüchtete als Engelchen, andere sehen uns als Teufel. Beide Sichtweisen sind falsch. Wir sind in erster Linie Menschen mit guten und schlechten Eigenschaften. Als ich nach Deutschland kam, schmetterten mir Menschen entgegen. Ich selbst bin nicht gläubig und würde mich nicht einmal als Araber bezeichnen, weil ich als de facto staatenlos bin. Dennoch muss ich mir die Konzepte und Vorstellungen von Menschen in diesem neuen Umfeld bewusstmachen, um sie kritisch besprechen zu können.
Offene Türen für deutsche Leser
Diese Kritik richtet sich klar gegen die Stereotypen von Geflüchteten in Deutschland, aber deutsche Leser bekommen davon nichts mit. Denn die meisten Artikel in Abwab sind auf Arabisch und davon wenige übersetzt.
Ramy al-Asheq:
Wir arbeiten daran, die Türen für deutsche Leser weiter zu öffnen: Wir haben mittlerweile mehr deutsche Autoren als vor einem Jahr und eine deutsche Redakteurin. Denn wir haben verstanden, dass es keinen Sinn macht, »Selbstgespräche« zu führen. Wir sollten nicht über Deutschland reden, sondern mit den Deutschen, um mehr voneinander zu verstehen. Selbst mit den Mitgliedern der AfD und anderer rechter Parteien wollen wir diskutieren.
Das klingt nach einem Gesprächsangebot: Ist die AfD überhaupt Thema in Abwab?
Ramy al-Asheq:
Wir informieren über die Politik der AfD, aber wir veröffentlichen darüber keine Meinungsstücke.
Warum?
Ramy al-Asheq:
AfD und Pegida begegnen Geflüchteten nicht jeden Tag auf der Straße. Rassismus tut es. Deshalb schreiben wir mehr darüber … Aber während ich so darüber nachdenke, finde ich, dass wir uns endlich an das Thema heranwagen sollten. Ich verspreche, so bald wie möglich etwas dazu zu schreiben.
»Diese Integration ist eine große Lüge!«
Wenn Sie Ihre Meinung sagen, können auch schon einmal die Fetzen fliegen. Ihr Artikel kritisierte die Integrationskurse, Organisationen, die Geflüchteten Benutzerhandbücher für deutsche Toiletten in die Hand drückten, und Geflüchtete selbst, die Integration missverstehen.
Ramy al-Asheq:
Viele Menschen haben mich damals missverstanden. Ich sprach über diese Integration als Lüge, nicht über die Integration an sich. Ich denke, dass, wenn wir so weitermachen, sich die Menschen nicht integrieren, sondern werden. Das heißt, dass sie ihre eigene Identität, Bräuche und Kleidung für ein Leben als Deutsche eintauschen oder irgendwo isoliert leben müssen.
Der Artikel wurde mit einer Antwort der unter dem Titel veröffentlicht. Sie bezeichnete Ihre Aussagen als kontraproduktiv. Warum entschlossen Sie sich, beide Texte bei Abwab zu veröffentlichen?
Ramy al-Asheq:
Ich glaube an Dialog und Diskussion. Ich behaupte nicht, die Wahrheit zu kennen. Wann immer ich meine Meinung sage, erwarte ich die Perspektive meines Gegenübers dazu. Deshalb wäre es sinnlos, unseren Lesern meine Meinung ohne die Gegenmeinung von Frau Schayani zu präsentieren.
Ich behaupte nicht, die Wahrheit zu kennen.
Blicken wir einmal über die Grenzen Deutschlands hinweg: Gab es Integrationsdebatten in Syrien vor dem Krieg?
Ramy al-Asheq:
Diskussionen und Debatten fehlen in den syrischen Medien und in der Gesellschaft. Ich würde sogar behaupten, dass es dort so etwas wie Integration nicht gibt. In Syrien leben viele Menschen entsprechend ihres religiösen oder ethnischen Hintergrunds getrennt voneinander. Menschen aus dem Süden des Landes haben Vorurteile gegenüber Bewohnern aus Aleppo in Nordsyrien und umgekehrt. Vergleichbar ist das mit den Vorurteilen von Berlinern und Bayern. Also sind wir wieder in Deutschland und mir stellen sich die Fragen: Sind Deutsche integriert?
Die Antwort?
Ramy al-Asheq:
Nach der suche ich als Journalist. (lacht) Ich habe viel Recherche betrieben und meine vorläufige Antwort ist: Nein, die Deutschen sind nicht untereinander integriert. Für mich heißt Integration einander kennen, das Recht darauf, anders zu sein, zu respektieren und miteinander zu leben. Und natürlich wirtschaftlich, gesellschaftlich, politisch und kulturell am Leben in Deutschland teilzunehmen. Integration nur in Bezug auf Geflüchtete zu diskutieren, ist zu kurz gedacht.
Diskriminierung unter Geflüchteten
Sie haben auch geschrieben, dass manche Geflüchtete sich besser integriert fühlen als andere. Woher kommt dieser Vorwurf?
Ramy al-Asheq:
Es gibt Geflüchtete, die sich für etwas Besseres halten, nur weil sie in Bars gehen oder eine deutsche Freundin haben. Sie denken, dass sie deshalb besser integriert sind als zum Beispiel muslimische Frauen mit Kopftuch. Dazu kommt die Unterteilung der Geflüchteten durch die deutsche Regierung in 5-Sterne-Geflüchtete und solche aus vermeintlich Deshalb diskriminieren manche Syrer Afghanen in Unterkünften, weil sie glauben, dass diese ihnen die Aufnahmeplätze in Deutschland wegnehmen würden. Aber: Kein Mensch ist illegal – dieser Spruch gefällt mir sehr gut. Also ist auch kein Geflüchteter illegal, wenn er Schutz und eine Unterkunft sucht. Das können wir in Abwab vermitteln.
Sie sprechen viel über Geflüchtete. Zählen Sie sich selbst noch dazu?
Ramy al-Asheq:
Ich wurde in Syrien als Geflüchteter geboren, wie auch mein Vater. Denn meinen Großvater hatten die Israelis 1948 aus seinem Haus und vom Land gejagt. Ich hatte nie einen syrischen Pass. Dafür wurde ich trotzdem in Syrien nicht diskriminiert und deshalb hatte ich kein Problem mit meinem Status. Als ich nach Deutschland kam, hörte ich das Wort »Flüchtling« zum ersten Mal. Die Bedeutung ist anders als im Englischen oder Arabischen. Es klingt, als wäre ich durchgebrannt. Außerdem begreifen viele Außenstehende das Flüchtlingssein nicht als Situation, sondern als Identität. Ein bisschen hat das etwas von Affen im Zoo. Ich gehe doch in ein Konzert, um Musikern zuzuhören. Der Geflüchtete ist kein Ausstellungsstück, diese Bezeichnung sollte nur auf dem Papier existieren.
Ein Opfer ist ein Opfer, egal wo du bist.
Seit 2014 sind Sie in Deutschland und schauen dem Krieg aus der Ferne zu. Wie sehen Sie Syrien in den Nachrichten?
Ramy al-Asheq:
Für uns Syrer ist das schwer zu ertragen. Die Menschen, die im Krieg dort sterben, sind nicht einfach nur Zahlen. Wenn Menschen in Aleppo bombardiert werden, trauern die Syrer um diese Opfer. Ähnlich wie nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001, als Amerikaner und Europäer ihre Opfer betrauerten, die arabische Welt aber relativ wenig Anteil nahm. Das sehe ich kritisch. Wir sollten mehr Menschlichkeit zeigen. Denn ein Opfer ist ein Opfer, egal wo du bist.
Ausländische Täter, deutsche Täter
Wie sollten Medien berichten?
Ramy al-Asheq:
Ich finde, die Herkunft des Täters dürfte nicht öffentlich gemacht werden. Nach meiner Wahrnehmung berichten Medien stärker über Straftaten, wenn ein Ausländer sie begangen hat. Das geht für mich gegen den Pressekodex. Denn das kann den Rassismus in Deutschland befeuern.
Die Presse sollte also Details verschweigen?
Ramy al-Asheq:
Ich finde es wichtiger, den journalistischen Fokus auf die Tat und nicht auf die Nationalität des Täters zu legen. Denn dieser Fokus bestimmt auch, wie viel Solidarität die Opfer am Ende bekommen. Die Frau starb. Nur wenige Medien berichteten darüber, aber sie vermuteten, dass der Autofahrer aus Absicht gehandelt hatte. Ich muss fragen: Was wäre passiert, wäre der Täter ein Ausländer gewesen? Ich sehe, dass für die Berichterstattung über scheußliche Taten verschiedene Maßstäbe an Täter und Opfer angelegt werden.
Gibt es noch andere Dinge, die Ihnen in Deutschland besonders aufstoßen?
Ramy al-Asheq:
Was mich schockiert hat: Dass es in Deutschland erst 2016 eine neues Sexualstrafrecht unter dem Slogan »Nein heißt Nein« gab. Das hätte ich hier schon früher erwartet.
Gleichberechtigung muss überall auf der Welt thematisiert werden.
In Abwab gibt es eine eigene Kategorie für feministische Texte »Abwabha: Ihre Türen«. Warum ist Ihnen das Thema so wichtig?
Ramy al-Asheq:
Schon in Syrien habe ich über Frauenrechte geschrieben. Das Problem dort sind die frauenfeindlichen Gesetze, denn sie schützen die Kriminellen und beeinflussen die Sicht der Gesellschaft. Zum Beispiel wandern Ehrenmörder nur für kurze Zeit ins Gefängnis. Am Ende werden sie noch für ihre Tat für die Familie gefeiert. Es gibt auch keine Gleichberechtigung in den politischen und wirtschaftlichen Bereichen. Heißt: Kein Kurde, kein Christ und schon gar keine Frau. Dagegen haben wir auch 2011 demonstriert. In Deutschland haben wir nun mehr Freiheit, darüber zu schreiben, ohne dafür in Gefahr zu geraten. Gleichberechtigung muss nicht nur in Syrien, sondern überall auf der Welt thematisiert werden.
Das klingt so, als wollten Sie das Thema noch größer ziehen?
Ramy al-Asheq:
Ja, am 8. März ist Internationaler Frauentag. Für unsere nächste Ausgabe haben wir uns deshalb etwas Besonderes überlegt: Die Redaktion fällt komplett in Frauenhände, um feministische Perspektiven noch stärker nach vorne zu bringen. Denn auch mit Geflüchteten, die aus verschiedensten Gesellschaften kommen, wollen wir über Frauenrechte sprechen.
Juliane schlägt den journalistischen Bogen zu Südwestasien und Nordafrika. Sie studierte Islamwissenschaften und arbeitete als freie Journalistin im Libanon. Durch die Konfrontation mit außereuropäischen Perspektiven ist ihr zurück in Deutschland klar geworden: Zwischen Berlin und Beirut liegen gerade einmal 4.000 Kilometer. Das ist weniger Distanz als gedacht.