Vom Gorilla, der ein Einhorn sein wollte
Der Berliner Lieferdienst Gorillas wollte schnell wachsen und trotzdem einer von den Guten sein. Doch seit Monaten häufen sich Meldungen über schlechte Arbeitsbedingungen, Streiks und Kündigungen. Was ist da los?
Es war einmal ein Gorilla, der gern ein Einhorn sein wollte. Eines Morgens fasste er sich ein Herz, ging zum Krokodil und sagte: »Krokodil, ich möchte ein Einhorn werden, Einhörner sind cool. Zuerst kaufe ich Hörner. Und dann stelle ich viele andere Gorillas ein. Zusammen liefern wir als Einhörner Essen aus. Und am Ende sind wir alle reich.« Das Krokodil blickte ihn an und sagte: »Ok. Klingt gut, mach mal. Hier hast du 10 Euro. Ein Teil von deinem Einhorn-Ding gehört dann aber mir. Wenn du eines Tages Geld verdienst, möchte ich etwas davon haben. Und trödele damit nicht so. Das Geld liegt bei mir auch nicht im Fluss herum.« So würde diese Geschichte vielleicht in einem Kinderbuch anfangen.
Der Gorilla würde weiter zur Giraffe, zur Schlange und wohl auch noch zum Teufel (dem tasmanischen, natürlich) gehen, um mehr Geld zu sammeln. Alle finden es super. Am Ende sagt der weise Start-up-Guru Uhu: »Du kannst sein, wer du willst, sogar ein Einhorn. Wenn du dich nur gehörig anstrengst, deine Kund:innen und deine Einhörner zufriedenstellst. Aber gib Gas. Wir wollen, dass du Erfolg hast und wächst.« Der Gorilla würde das Geld bekommen und seine Einhörner losschicken. Er würde sich sehr anstrengen, um schnell Geld zu verdienen – und seine Einhörner zu Höchstleistungen antreiben.
Von null auf Einhorn – mit einer guten Geschichte
Vielleicht hast du es schon erraten: Es geht hier um den Lebensmittel-Lieferdienst Gorillas, der seit Mai 2020 in
Aber welche Rolle spielt das Einhorn in dieser zugegebenermaßen etwas schiefen Kinderbuchfabel? Gorillas wollte unbedingt ein Einhorn werden. Als Einhorn gelten Unternehmen, die von Investoren auf mehr als eine Milliarde US-Dollar geschätzt und nicht an der Börse gehandelt werden. Mitgründer Kağan Sümer hat das innerhalb von etwa einem Jahr geschafft: von null auf 1 Milliarde US-Dollar Unternehmenswert. 305 Millionen Euro haben Sümer und Team in Finanzierungsrunden eingesammelt – so schnell gelang das alles bislang keinem anderen Start-up aus Deutschland.
Sümer setzte auf Geschwindigkeit: Das Unternehmen verspricht, Lebensmittel innerhalb von nur 10 Minuten per Fahrrad zu Kund:innen nach Hause zu bringen, ohne Mindestbestellwert, zu Supermarktpreisen. Die Lieferung kostet 1,80 Euro, unter 10 Euro kommen noch mal 2,10 Euro dazu. Seinen Fahrer:innen versprach Gorillas, sie besser zu behandeln als andere Essenslieferdienste: Anstellung statt Bezahlung pro Fahrt, 10,50 Euro Stundenlohn, coole Klamotten statt peinlichem Pink, eine eingeschworene Gemeinschaft statt einer Flotte von Einzelkämpfer:innen. Noch heute steht auf der Website von Gorillas: »Alles für die Rider.
Fairer Lohn und sichere Arbeitsbedingungen sowie der Unternehmensgewinn, den Gorillas eines Tages einfahren will, müssen aus der Marge der gelieferten Produkte plus Lieferpauschale kommen. Kaum vorstellbar, damit im Discounterland Deutschland großen Gewinn einzufahren – zumal auch schon viele Supermärkte Wocheneinkäufe zu Kund:innen nach Hause bringen.
Doch die Investor:innen glaubten an das Geschäftsmodell und stellten Hunderte Millionen Euro bereit, damit Gorillas schnell wachsen kann. In 21 deutschen Städten fährt das Unternehmen bereits aus, in 7 europäischen Ländern und New York City ist der Dienst schon am Start, vornehmlich in Ballungsgebieten. Bei den Investoren ist das Ende der Geberlaune noch nicht in Sicht, unterschiedliche Akteure haben weitere gigantische Geldbeträge in Aussicht gestellt.
Zusätzlich zu der großen eigenen Expansion tummeln sich der bereits deutlich größere türkische
Er treibt seine Einhorn-Gorillas zu Höchstleistungen an. Und er spart offenbar, wo es geht. Die Gorilla-coole Fassade bröckelt – seit Monaten. Es scheint, als sei das Vorhaben, sich mit Discountern und fast identischen Konkurrenten in Deutschland und auf internationaler Ebene zu messen, kaum möglich, ohne dabei die Mitarbeiter:innen auszulaugen.
Der Glanz verblasst
Seit Anfang 2021 gibt es immer wieder Klagen der Rider, wie Gorillas die Fahrer:innen nennt. Es geht um zu heftigen Zeitdruck, darum, dass die schweren Rucksäcke auf die Knochen gehen, dass die Fahrräder nicht nur in Ausnahmefällen nicht verkehrstüchtig sind, Bremsen zum Teil nicht funktionieren. Lohn soll nicht immer pünktlich kommen, Abrechnungen fehlerhaft sein. Im Winter schickte das Unternehmen Rider trotz Schnee, Eis und Kälte nach draußen. Klingt frostig, aber gar nicht mehr so cool.
Berichte, Mitarbeiter:innen trauten sich nicht, aufs Klo zu gehen, machen die Runde. All das erinnert verdächtig an Arbeitsbedingungen,
Gorillas hat ethisch schon verloren
Wie auch immer dieses Verfahren ausgeht, der Fall von Gorillas zeigt einerseits: Die Fahrer:innen von Lieferdiensten sollten schnell einen Betriebsrat gründen und sich gewerkschaftlich organisieren, um schlagkräftig und rechtssicher für bessere Bedingungen kämpfen zu können. Gorillas betonte zuletzt, das Unternehmen würde die Bildung eines Betriebsrates unterstützen, die Rucksäcke durch Lastenräder ersetzen und das Werkstattpersonal aufstocken. Am Ende muss sich die Chefetage aber an Taten messen lassen.
Gorillas hat andererseits ethisch schon auf ganzer Linie verloren. Denn statt zu zeigen, dass das Unternehmen wirklich anders tickt als andere Lieferdienste, statt Dialog und Ausgleich zu suchen, setzt es mit den Kündigungen auf ganz übliche Mittel der Einschüchterung – es wirkt fast schon hilflos. Es wird schwer, diesen Schaden wieder auszubügeln.
Den Anspruch, den das Unternehmen auf seiner Website anmeldet, hat es bereits verraten. Statt zum Wohle seiner Angestellten zu handeln, handelt es anscheinend eher zum Wohle der Investoren. Kund:innen müssen das wissen, wenn sie bestellen. Die Logik ist, um zurück zum Anfangsbild zu kommen: Das verkleidete Einhorn soll schneller rennen, damit der Unternehmer schneller expandieren kann. Und wenn es aus der Puste kommt, muss es eben Platz für die nächsten machen.
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