An den Außengrenzen verrät die europäische Gemeinschaft ihre Werte. Was wir dadurch verlieren und was wir dagegen tun können, weiß Erik Marquardt, der ein Buch darüber geschrieben hat.
Erik Marquardt ist einer dieser Menschen, bei denen man sich fragt, wie sie das eigentlich alles schaffen. Als Fotojournalist war er mit Geflüchteten auf der Balkanroute unterwegs, er hat das Versagen der europäischen Wertegemeinschaft in den Lagern auf Lesbos miterlebt und Seenotrettungsaktionen auf dem Mittelmeer begleitet. Im Jahr 2019 ließ er sich ins Europaparlament wählen. Eine bewusste Entscheidung »vor dem Hintergrund, dass der Journalismus zwar Probleme aufzeigen, sie aber nicht lösen kann«, wie er heute sagt.
Seitdem ackert Marquardt auf der politischen Ebene, aber auch in den sozialen Medien und mit zivilgesellschaftlichen Organisationen für eine humanere europäische Flüchtlingspolitik. Als Mitinitiator der Luftbrücke Kabul machte er zuletzt der Bundesregierung Druck – indem die Initiative kurzerhand ein eigenes Flugzeug zur
Jetzt hat Marquardt ein Buch geschrieben. »Europa schafft sich ab« heißt es, er erzählt darin von der Diskrepanz zwischen dem europäischen Bekenntnis zu Menschenrechten und der Wirklichkeit, die er seit 2015 auf seinen Reisen an die europäischen Außengrenzen erlebt hat.
Meinen Anruf nimmt er im Taxi entgegen, er ist schon auf dem Weg zum nächsten Termin.
Katharina Wiegmann:
Wie glaubwürdig findest du es, wenn die EU-Kommission den Abbau des Rechtsstaats in Polen kritisiert, während gleichzeitig an den Außengrenzen sehr oft Recht gebrochen wird, indem Asylsuchende brutal zurückgewiesen werden?
Erik Marquardt:
Das Schicksal von Geflüchteten und der Umgang mit Menschen an den europäischen Außengrenzen zeigen, dass es nicht nur ein Recht für Menschen gibt. Es zeigt, dass in Europa nicht unbedingt geachtet werden oder die Würde jedes einzelnen Menschen unantastbar ist, sondern dass mit mindestens zweierlei Maß gemessen wird.
Die Rechtsstaatlichkeit in Polen ist das eine. Aber die systematischen Menschenrechtsverletzungen an den europäischen Außengrenzen sind ein Problem, bei dem man sich fragen muss, welche Rolle die EU-Kommission spielt. Warum hat das EU-Recht dort offensichtlich keine Geltung mehr? Und wie konnte es eigentlich dazu kommen, dass es normal geworden ist, Menschen an den Außengrenzen zu entwürdigen, zu entrechten und zu misshandeln, ohne dass breite Empörung darüber ausbricht?
Die Tatsache, dass die EU an den Außengrenzen ihr eigenes Wertefundament unterläuft, steht im Mittelpunkt deines Buches »Europa schafft sich ab«. Was genau meinst du damit?
Erik Marquardt:
Europa hat nach 2 Weltkriegen und dem Nationalsozialismus begriffen, dass stabile Demokratien gewisse Grundsätze erfordern. Wir haben uns auf universelle Menschenrechte und die geeinigt, die eine Konsequenz aus den Gräueltaten im Zweiten Weltkrieg war, vor denen viele Millionen Menschen nicht fliehen konnten und deswegen ermordet wurden.
Dann kommt die Achtung der Menschenwürde als unerschütterliche Wahrheit dazu – im Grundgesetz steht sie nicht ohne Grund an erster Stelle. Die Menschenwürde sollte unabhängig davon geachtet werden, welche Gründe Menschen haben, die an unseren Außengrenzen auftauchen; unabhängig davon, wie sie dort hingekommen sind.
Was genau funktioniert aktuell nicht?
Erik Marquardt:
An den europäischen Außengrenzen werden die Menschenrechte politischen Zielen untergeordnet. Um das Ziel zu erreichen, dass weniger Menschen an den Außengrenzen ankommen, nimmt man in Kauf, dass Menschen entwürdigt und entrechtet werden, dass keine rechtsstaatlichen Verhältnisse mehr herrschen. Und genau das ist ein Angriff nicht nur auf die Geflüchteten, die darunter am meisten leiden, sondern auch auf den Kern Europas.
Der Titel deines Buches nimmt Bezug auf den Bestseller »Deutschland schafft sich ab« des ehemaligen SPD-Politikers Thilo Sarrazin. Warum fandest du das passend?
Erik Marquardt:
Viele Menschen in Europa und Deutschland glauben, Migration führe dazu, dass europäische Werte und Grundsätze verschwinden; dass also die Migration daran schuld sei, wenn sich Europa oder Deutschland abschaffe. Ich glaube, dass das Gegenteil der Fall ist. Wenn man für seine politischen Ziele all das über den Haufen wirft, was wir aus der Geschichte gelernt haben, dann schaffen wir genau das ab, für das Europa stehen sollte.
Bei der Lektüre deines Buches war ich davon überrascht, wie viel Bedeutung du der »öffentlichen Meinung« zumisst. Welche Rolle spielt sie in der Migrations- und Asylpolitik?
Erik Marquardt:
Minderheitenrechte lassen sich auf Dauer nicht schützen, wenn sich Mehrheiten aktiv dagegenstellen. Auch dann nicht, wenn sie in Gesetzen festgeschrieben sind. Die öffentliche Meinung ist also sehr, sehr relevant, weil man nicht davon ausgehen kann, dass Politikerinnen und Politiker in Parlamenten sich nur darum kümmern, was sie als richtig empfinden.
Viele orientieren sich leider an dem, wovon sie glauben, dass es der öffentlichen Meinung entspricht. Da gibt es eine Fehlwahrnehmung, die dazu geführt hat, dass seit 2015 nicht versucht wurde, Herausforderungen der Migrationspolitik zu bewältigen, sondern Leuten zu gefallen, die gar kein Interesse an einer gut funktionierenden Asylpolitik haben.
Die Frage, die logisch daran anschließt: Welche Verantwortung tragen Medien?
Erik Marquardt:
Es gibt Studien, die zeigen, dass Zeitungen 32-mal so häufig über ausländische Straftäter berichten, So entsteht der Eindruck, dass »kriminelle Ausländer« ein großes Problem seien, dabei ist es vielleicht gar nicht so groß.
Berichterstattung ist oft sehr hektisch; auch um hohe Klickzahlen zu bekommen. Die Überschriften müssen dann offenbar emotionalisierend und pauschalisierend sein: Was knallt jetzt besonders?
Wie ginge es besser?
Erik Marquardt:
Jemand, der vor 3 Jahren aus Syrien gekommen ist, die Sprache gelernt und jetzt eine Ausbildung abgeschlossen hat, wird es damit eher selten auf die Titelseite einer großen Boulevardzeitung in Deutschland schaffen, obwohl es ein großer Erfolg ist. Diese positiven Nachrichten fehlen.
Es gibt kein vollständiges Bild davon, was in der Migrationspolitik gut und was schlecht funktioniert. Es fehlt konstruktive Berichterstattung darüber, wie Dinge verbessert werden können. Ich glaube, dass mehr Leute den Raum bekommen sollten, konstruktive Vorschläge zu diskutieren. Auf der anderen Seite sollte weniger darüber nachgedacht werden, wie man jeder noch so absurden oder rechtsradikalen Haltung Raum geben kann.
Das ist auch Von rechts wurde immer geschrien: Warum können wir nicht in die Talkshows? Wir haben doch auch eine Meinung! Was dazu führte, dass völlig abwegige Minderheitenpositionen so dargestellt werden, als hätten sie irgendeine Relevanz. Das führt zu einer Normalisierung dieser menschenverachtenden und rassistischen Positionen.
Als Beatrix von Storch 2016 auf Facebook schrieb, gab es noch einen riesigen Sturm der Entrüstung. Inzwischen ist das offenbar so normal, dass es keine große Empörung ausgelöst hat, als 3 Menschen an der griechischen Grenze erschossen wurden,
Migration muss langweiliger werden
In einem anderen Interview hast du einmal gefordert:
Es sei schlicht realistisch zu akzeptieren, dass die EU mit ein paar Hunderttausend Geflüchteten im Jahr klarkommen müsse. An wen richtet sich deine Forderung konkret und wie sähe die politische Konsequenz aus?
Erik Marquardt:
Auf der legislativen Ebene müssen Gesetze, Regeln und Verfahrensweisen geschaffen werden, die dieser Normalität von Migration entsprechen. Im Moment wird versucht, immer neue Gesetze zur Fluchtabwehr zu erfinden, weil man denkt, das könnte vielleicht auf Dauer abschrecken.
Und dann gibt es auf der exekutiven Ebene natürlich die Frage: Wie gehen wir mit bestimmten Herausforderungen um, die nicht in Gesetzen abgebildet werden können? Zum Beispiel mit Es wird auch in den nächsten Jahren passieren, dass Menschen aus Libyen versuchen, Richtung Europa aufzubrechen.
Wenn sich 27 EU-Innenminister treffen, weil 27 Leute auf einem Schlauchboot irgendwo im Mittelmeer gefunden wurden und nicht klar ist, in welchen Hafen diese Menschen fahren können, dann ist das auf der einen Seite eine Form der Einzelfallbetreuung, bei der man mehr von seinen Politikern erwarten kann.
Auf der anderen Seite erzeugt es Berichterstattung, wenn sich so viele wichtige Leute in Europa treffen, um sich um ein paar Gerettete auf dem Mittelmeer zu kümmern. Das erzeugt natürlich den Eindruck, das Boot sei voll. Dass man bei 500 Millionen Einwohnern in Europa aus 27 Menschen keine große Sache machen sollte, wird dann vielleicht erst auf den zweiten Blick klar.
In der europäischen Migrations- und Asylpolitik werden Verantwortlichkeiten ständig im Kreis geschoben. Deutsche Politiker:innen beschwören, es müsse europäische Lösungen geben, doch die werden dann von der ablehnenden Haltung nationaler Regierungen blockiert …
Erik Marquardt:
Ich nenne das den Europa-Trick. Der Europa-Trick funktioniert so, dass man so tut, als würde man eine Lösung auf der europäischen Ebene brauchen, um handeln zu können, während man selbst auf der europäischen Ebene dazu beiträgt, dass nicht gehandelt wird. Aus meiner Sicht muss die Lösung sein, dass handlungswillige Staaten vorangehen.
Wie genau?
Erik Marquardt:
In Deutschland gibt es über 250 Kommunen und auch 3 Bundesländer, die gerne mehr Menschen aufnehmen würden. Wenn man diese Aufnahmebereitschaft nutzt und sie dazu auch noch fördert, dann schafft man eine Situation, in der es sich lohnt, solidarisch zu sein. Momentan muss man sich dafür rechtfertigen, Menschen in Not zu helfen. Das wird auf Dauer in Europa nicht erfolgreich sein. Es muss schon Anreize dafür geben, sich nach europäischen Werten und Menschenrechten zu richten.
Für diesen Artikel habe ich mit der Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan darüber gesprochen, wie solche Anreizstrukturen geschaffen werden könnten:
Seit Jahren signalisieren Kommunen in ganz Deutschland und Europa Aufnahmebereitschaft. Warum kommen wir nicht in die Umsetzung? Was oder wer steht dem im Weg?
Erik Marquardt:
Eine Ideologie, die darauf basiert, dass Migrationspolitik dann erfolgreich ist, wenn jedes Jahr weniger Menschen ankommen als im Vorjahr. Es ist eine Pervertierung des Asylrechts, so zu tun, als müsse man mit Symptombekämpfung dafür sorgen, dass möglichst wenige Menschen Schutz in Europa finden.
Inwiefern ist das eine Pervertierung?
Erik Marquardt:
Das Asylrecht geht davon aus, dass man Menschen Schutz bieten will und nicht verhindern möchte, dass sie Schutz finden. Ich glaube auch, dass es einen Unterschied macht, welche Personen in welchem Ministerium sitzen und welche politischen Überzeugungen sie in bestimmten Themenfeldern haben.
CDU und CSU haben in den vergangenen Jahren keinerlei Interesse daran gezeigt, Schutzbedürftige aufzunehmen. Wir haben es auch bei Afghanistan wieder gesehen, wo zwar öffentlich behauptet wurde, man würde viele Menschen evakuieren wollen. Aber wenn beispielsweise das Bundesland Thüringen sagt: Wir würden noch Familienangehörige von Schutzsuchenden aus Afghanistan aufnehmen, dann wird das vom Innenministerium und Herrn Seehofer persönlich abgeblockt.
Es gibt eine Differenz zwischen dem, was man öffentlich vorgibt zu sein, nämlich human und hilfsbereit, und dem, was man in der Praxis versucht, um alles zu verhindern, was zu diesem Ergebnis führen könnte. Das ist erschreckend, auch weil deswegen Menschen sterben.
»Wir können nicht zuschauen, wie europäische Regierungen in Afghanistan versagen«
Als die Taliban Mitte August vor Kabul standen, war die Empathie groß, vor allem für die sogenannten Ortskräfte, also Menschen, die in Afghanistan für die Bundeswehr oder andere deutsche Organisationen gearbeitet haben. Du hast dich sehr für ihre Evakuierung eingesetzt und auch die mitorganisiert. Wie viele Menschen konntet ihr retten?
Erik Marquardt:
Bislang etwas über 400, und wir planen noch weitere Transporte. Wir müssen schauen, wie lange das Geld noch reicht, das wir an Spenden eingenommen haben. Wir versuchen vor allem zu helfen, indem wir Menschen beraten. Wir haben viele Tausend Mails bekommen von Schutzsuchenden, die evakuiert werden wollen. Nicht jede Person wird das Recht bekommen, evakuiert zu werden. Wir schauen auch, was es für gefährdete Menschen abseits von Deutschland für Möglichkeiten gibt, aus Afghanistan zu fliehen.
Das kostet viele Ressourcen und ist viel Arbeit für einen kleinen Verein, der erst vor 6 Wochen in dieses Projekt eingestiegen ist.
Ihr bleibt also weiter dran?
Erik Marquardt:
Natürlich. Wir können ja nicht zuschauen, wie die Bundesregierung und andere europäische Regierungen in Afghanistan versagen und erreichen wollen, dass niemand mehr über dieses Versagen berichtet.
Wir müssen ganz praktisch Menschen helfen und gleichzeitig schauen, wie wir die Aufmerksamkeit auf diesem Thema halten, damit Druck hoch bleibt: auf diese Bundesregierung, auf die nächste, und auch auf die Europäische Kommission. Leider funktioniert Politik ja so, dass die Themen, bei denen es öffentlichen Druck gibt, bearbeitet werden und die Themen, bei denen es keinen Druck gibt, hinten runterfallen. Ich glaube, dass die Menschen in Afghanistan nach 20 Jahren internationalem Militäreinsatz in dem Land und einer Geschichte, die es verdient haben, dass man sie jetzt nicht einfach im Stich lässt.
Wird eine neue Regierungskoalition aus SPD, FDP und Grünen etwas ändern? Was erwartest du?
Erik Marquardt:
Ich erwarte, dass dieses Chaos zugunsten einer rechtsstaatlichen und humanen Asylpolitik beseitigt wird. Dass Deutschland die Möglichkeiten, die es hat, nutzt, um Menschen in Not zu helfen. Wenn man die Wahlprogramme nebeneinanderlegt, gibt es natürlich Unterschiede. Die FDP ist in der Asyl- und Migrationspolitik manchmal weiter weg von den Positionen der Grünen und der SPD. Ich glaube aber, dass auch die FDP ein Interesse daran hat, Verfahren effizienter und rechtsstaatlicher zu gestalten.
Vor einigen Wochen hat ein journalistisches Rechercheteam Videos von der kroatischen Grenze veröffentlicht. Sie zeigen, wie Menschen, die in Europa Asyl suchen, Ungefähr zur gleichen Zeit wurde ein Brief von 12 europäischen Minister:innen an die EU-Kommission öffentlich,
Es wirkt also nicht so, als würde sich in absehbarer Zeit etwas in Richtung einer humaneren Asyl- und Migrationspolitik verändern. Gibt es etwas, was dir trotzdem Hoffnung macht?
Erik Marquardt:
In modernen Demokratien und großen Konstrukten wie der Europäischen Union wird sich nicht von heute auf morgen alles ändern.
Ich freue mich darüber, dass es in den letzten Jahren viele Zehntausende gab, die sich engagiert haben, darunter auch viele Prominente, die ihre Öffentlichkeit und ihre Reichweite genutzt haben, um für einen anderen Umgang mit den Schwächsten zu werben. Die Zivilgesellschaft formiert sich und versucht, von unten eine neue Migrationspolitik vorzuschlagen. Es gibt Vereine wie Sea-Watch oder die Seebrücke, die kontinuierlich mit viel Kraft daran arbeiten, dass sich etwas ändert. Ich finde, das gibt Grund zur Hoffnung.
Als Politikwissenschaftlerin interessiert sich Katharina dafür, was Gesellschaften bewegt. Sie fragt sich: Wer bestimmt die Regeln? Welche Ideen stehen im Wettstreit miteinander? Wie werden aus Konflikten Kompromisse? Einer Sache ist sie sich allerdings sicher: Nichts muss bleiben, wie es ist.