6 Buchempfehlungen für den Herbst
Draußen wird es wieder ungemütlich – höchste Zeit für ein gutes Buch. Das sind unsere Lesetipps für dich.
Wann hast du das letzte Mal ein Buch gelesen? Wenn du jetzt denkst, dass das schon viel zu lange her ist, bist du nicht allein.
Haben die Menschen also heute tatsächlich
Ratschläge, die helfen sollen, den inneren Schweinehund zu überlisten und endlich wieder mit dem Lesen anzufangen, finden sich im Netz viele: ein Netflix-Verbot, das Smartphone abzuschalten oder feste Lesezeiten einzuplanen sind 3 häufig genannte Erste-Hilfe-Maßnahmen. Ein weiterer Tipp: Ein richtig gutes Buch aussuchen, das du nicht mehr weglegen kannst, wenn du einmal angefangen hast. Bei der Auswahl wollen wir dir helfen. Deshalb hat die PD-Redaktion in den Neuerscheinungen gewühlt, die Nasen fleißig zwischen die Bücherseiten gesteckt und 6 Tipps zusammengestellt.
Zukunftsentwürfe aus China: »Die Wandernde Erde«
von Dirk WalbrühlDie Welt steht vor dem Untergang, denn die Sonne wird bald erlöschen und zuvor als Roter Riese die Erde verbrennen. Doch Wissenschaftler:innen fassen einen Plan: Sie bauen riesige Fusionstriebwerke, verschieben den ganzen Planeten aus der Umlaufbahn und bringen ihn weg von der Katastrophe auf den Weg zu einem neuen Sternensystem. So beginnt eine der fantastischen Kurzgeschichten von Liu Cixin, die im Graphic-Novel-Band »Die Wandernde Erde« genauso fantastisch illustriert und nun ins Deutsche
Und das ist höchste Zeit: Denn Liu Cixin ist bei Weitem kein Unbekannter. Der chinesische Science-Fiction-Autor wird längst international gefeiert und mit zahlreichen
Das liegt sicher auch an der ungewöhnlichen Perspektive, die Liu Cixin einnimmt. Denn wie in der Science-Fiction üblich blickt der Autor vor dem Hintergrund seiner – in diesem Falle chinesischen – Kultur in eine fiktive Zukunft. Cixin zeigt dabei eine Denkweise, die unserer Jetztzeit und unseren Erwartungen einen Zerrspiegel vorhält. Denn statt dystopischen Untergangsszenarien skizziert er Gedankenexperimente und Lösungen – selbst wenn diese Hunderte Generationen Zeit brauchen oder so atemberaubend sind, wie mal eben die Erde zu verschieben.
In Zeiten von Herausforderungen wie der Erderwärmung und wachsender sozialer Spannung sind es vielleicht diese großen, oft optimistischen Visionen, die faszinieren. Doch sie zeigen auch die Schattenseiten auf: von kollektiven Anstrengungen bis zum harten Durchgreifen der Regierung.
Liu Cixin: Die Wandernde Erde (Graphic Novel). Splitter-Verlag, 25 Euro.
Dolce Vita für alle: »Süß«
von Katharina WiegmannOffiziell sei Feminismus um sie herum längst Konsens, schreibt Ann-Kristin Tlusty gleich zu Beginn ihres Buches. Aber was heißt das eigentlich? Feminismus ist nicht gleich Feminismus. So war in den vergangenen 10 Jahren der
Von wegen. Noch immer werden weiblich gelesene Personen von allen Seiten mit guten Ratschlägen und Empowerment-Geschichten bombardiert. Probleme im Job? Lasse dich halt nicht so oft unterbrechen! Altersarmut? Investiere in ETFs! Und überhaupt: Liebe dich selbst, deinen Körper, deinen Zyklus, dann wird das alles schon. Arbeite daran. Arbeite an dir.
Tlustys Buch, laut Cover eine »feministische Kritik«, schlägt nicht in diese Kerbe. In ihrem sehr lesenswerten Essay nimmt sie Verhältnisse statt Individuen in den Blick. Sie beschreibt 3 »Mythen der Weiblichkeit«, die historisch gewachsenen Vorstellungen, dass Frauen sanft, süß und zart seien (oder zu sein haben).
Die sanfte Frau kümmert sich,
Von diesem verinnerlichten Patriarchat schreibt Tlusty, wenn sie Beobachtungen über sich selbst und Erzählungen ihrer Freund:innen anstellt, ohne jedoch in die Individualisierungsfalle zu tappen. Und so lernt man in diesem Essay auch viel über die strukturellen Ursachen, die dafür sorgen, dass unsere Gesellschaft sanfte, süße und zarte Menschen systematisch abwertet und benachteiligt (egal welches Geschlecht sie haben). Was jetzt? »Dolce Vita für alle«, meint Tlusty. Wer wissen will, wie wir das erreichen könnten, sollte ihr Buch lesen.
Ann-Kristin Tlusty: Süß. Hanser, 18 Euro.
Tödliche Profitgier trifft auf eine entschlossene Gemeinschaft: »Wie schön wir waren«
von Lara MalbergerBis vor Kurzem habe ich noch nie ein Buch gelesen, das in einem afrikanischen Land spielt und von einem Menschen geschrieben wurde, der selbst afrikanische Wurzeln hat. Umso neugieriger war ich auf Imbolo Mbues Perspektive, als ich auf ihr Buch »Wie schön wir waren« aufmerksam geworden bin. Imbolo verbrachte die ersten 17 Jahre ihres Lebens in Kamerun, studierte dann an der Columbia-Universität in den USA und lebt heute in New York.
In ihrem Roman erzählt sie die Geschichte des fiktiven afrikanischen Dorfes Kosawa, das seit Jahren in Angst lebt. Grund dafür ist ein amerikanischer Ölkonzern, der unzählige Löcher in den Boden um Kosawa bohrt. Durch die Bohrungen und Lecks in den Pipelines gelangt mit der Zeit immer mehr Öl in die Umwelt und verschmutzt Böden und Flüsse. Das Land wird unfruchtbar und Kinder sterben, weil sie das ölverseuchte Wasser trinken. Über Jahre spitzt sich die Lage immer weiter zu, doch der verantwortliche Konzern unternimmt nichts – außer immer wieder Hilfe zu versprechen, die nie kommt. Auch der korrupte Dorfvorsteher von Kosawa hilft nicht. Eines Tages entscheiden die Bewohner:innen des Dorfes, all das nicht länger hinzunehmen. Thula, eine junge Frau, wird über die Jahre zur Anführerin des Protests. Doch der Kampf gegen die Mächtigen, der 1980 beginnt und 2020 noch immer andauert, scheint zum Scheitern verurteilt zu sein.
Das Unrecht, das dem Dorf und seinen Bewohner:innen widerfährt, macht beim Lesen immer wieder fassungslos und wütend. Dabei ist es trotz der fiktiven Handlung nicht fern der Realität. Bis heute beuten westliche Unternehmen Mensch und Natur im
Imbolo Mbue: Wie schön wir waren. Kiwi-Verlag, 23 Euro.
Über die Bewahrer:innen unserer Nahrungsvielfalt: »Eating to Extinction«
von Désiree SchneiderSigwazu sitzt im Gebüsch und pfeift. Es ist kein melodisches Pfeifen, eher eine Abfolge von kurzen, hohen Lauten. Er wartet auf eine Antwort aus den Wipfeln der Afrikanischen Affenbrotbäume. »Ach-ech-ech-ech«, kommt die Antwort eines olivgrauen Vogels. Der Deal ist abgeschlossen: Der Vogel führt den Jäger zu einem Bienennest und die Beute wird geteilt.
Ohne den Großen Honiganzeiger würde Sigwazu stundenlang nach den Bienennestern suchen, um an den köstlichen und kalorienreichen Wildhonig zu gelangen. Und der Vogel würde ohne Sigazu nicht lebend an das von ihm begehrte Bienenwachs kommen. Diese einzigartige Zusammenarbeit zwischen Mensch und Tier ist über Jahrtausende gewachsen. Nun ist sie bedroht, denn die Landwirtschaft verkleinert das Gebiet der
Die menschliche Ernährung hat sich in den letzten 150 Jahren stärker verändert als in den vorangegangenen eine Million Jahren.
Dies ist nur eine von vielen faszinierenden und bewegenden Geschichten, die Dan Saladino in seinem Buch
»Eating to Extinction« zeigt eine Welt, die sich in einer Krise befindet, und macht zugleich Hoffnung, dass wir das Ruder noch herumreißen können. Die einzelnen Geschichten sind kurz, prägnant und wunderschön geschrieben. Ich habe die fast 500 Seiten regelrecht verschlungen. Das Buch ist bisher leider nur auf Englisch verfügbar. Aufgrund der hohen Medienresonanz stehen die Chancen jedoch gut, dass es bald übersetzt wird.
Dan Saldino: Eating to Extinction: The World’s Rarest Foods and Why We Need To Save Them. Random House UK, 18,99 Euro.
Die philosophische Basis für eine Postwachstumswelt: »Wie wollen wir leben?«
von Benjamin FuchsDer britische Umweltökonom Tim Jackson hat 2011 mit
10 Jahre später hat Jackson nun nachgelegt. Wer aber, angelehnt an den Untertitel des neuen Buchs »Wie wollen wir leben? Wege aus dem Wachstumswahn«, eine Vision dafür erwartet, wie nun die Postwachstumswelt aussieht und wie wir alle dorthin gelangen, wird enttäuscht sein.
Es ist eher das, was man im Filmgeschäft ein Prequel nennen würde. Statt Fortsetzung mit Happy End gibt es eine Reise zu dem, was Tim Jackson als philosophische Grundlage für eine Postwachstumserzählung sieht. Er beschreibt, dass der Kapitalismus auf Darwinismus basiere, und argumentiert, dass Kooperation in der Natur ebenso vorhanden sei wie Wettbewerb. Warum Menschen in sinnvoller Arbeit tiefere Erfüllung finden können als im Konsum. Und wo Buddhismus und Kapitalismus vom gleichen Startpunkt aus unterschiedliche Lösungen finden.
Bei der Buchvorstellung erklärte Jackson, sein Buch sei nicht für Menschen gedacht, die gerne mal eine ökonomische Analyse läsen, sondern eher für literarisch-philosophisch interessierte Leser:innen. Wer aber die Analyse mit direkten Maßnahmen gegen immer mehr Wachstum sucht, findet diese eher in Jacksons Buch »Wohlstand ohne Wachstum«.
Tim Jackson: Wie wollen wir leben? Wege aus dem Wachstumswahn. Oekom, 22 Euro.
Ein Buch, das an unseren tiefsten Ängsten und Wünschen rührt: »Allein«
von Stefan BoesWas bedeutet es, allein zu sein? In dieser Frage sind wir alle wohl im Laufe der vergangenen knapp 2 Jahre Expert:innen geworden. Daniel Schreiber widmet sich ihr nun ausführlich in seinem gerade erschienenen Buch, dem etwa 150 Seiten langen literarischen Essay »Allein«. Er trifft damit das Lebensgefühl einer Gesellschaft, die sich zurückgezogen hat, die aber zugleich nach Sinn und Halt in einer Gemeinschaft sucht.
In seinem vorigen Buch »Zuhause« (2017) ging Daniel Schreiber, der in Berlin lebt, der Frage nach, wo der Ort ist, an dem wir leben wollen. Damals ging es ihm um
Schreiber kritisiert, dass wir andere Erzählungen von Nähe und Intimität häufig außer Acht ließen, tiefe Freundschaften etwa. Dabei seien sie häufig die beständigsten und befriedigendsten Beziehungen: »Um die inneren Wogen zu glätten, hilft es, sich in die Gesellschaft von Menschen zu begeben, die man gut kennt und denen man vertraut«, schreibt Schreiber.
»Allein« ist ein berührendes, Augen öffnendes Buch über den Wert sozialer Gemeinschaften, über den Wert der Freundschaft, aber auch über den Wert des individuellen Lebenswegs, auf dem auch das Alleinsein seine Berechtigung und seine Bedeutung hat.
Daniel Schreiber: Allein. Hanser, 20 Euro.
Titelbild: Alisa Anton - CC0 1.0