Dieser übersehene Wissensschatz könnte viele Arten retten
Mehr als 1/3 der Forschung zum Naturschutz wird nicht auf Englisch verfasst – und bleibt so fast unbemerkt. Warum ist das so? Und was geht dabei verloren?
11. November 2021
– 7 Minuten
pdaily
Seite um Seite, Kapitel um Kapitel liest sich Kerstin Jantke durch deutschsprachige Naturschutzforschungen. Die Umweltwissenschaftlerin hat Das Wichtige daran: Die Arbeiten sind auf Deutsch, nicht auf Englisch – fast schon eine Seltenheit in der Forschung. Denn normalerweise wird Veröffentlichungen in anderen Sprachen von der internationalen Wissenschaft kaum Beachtung geschenkt.
Mir ist bei dieser Arbeit klar geworden, wie schade es ist, dass es so eine unglaubliche Menge an wissenschaftlichen Erkenntnissen gibt, die einfach übersehen wird. Und dass wir es uns angesichts der anstehenden Krise nicht leisten können, so etwas zu ignorieren.Kerstin Jantke, Umweltwissenschaftlerin
Um zu zeigen, wie wichtig hier der Blick über den Tellerrand ist und warum die internationale Wissenschaft Sprachbarrieren überwinden muss, hat Jantke an einer teilgenommen. Unter der Leitung der australischen Universität Queensland haben sie und 59 andere Forschende in ihrer jeweiligen Erstsprache jahrelang nicht-englische Studien zum Thema Biodiversitätsschutz untersucht und bewertet.
So hat das Team über 400.000 Fachartikel aus den Bereichen Ökologie und Naturschutz in 16 Sprachen analysiert.
Die beiden wichtigsten Erkenntnisse der Studie sind:
Die internationale Naturschutzforschung deckt weltweit 25% mehr Fläche ab als bisher angenommen.
Es gibt wirkungsvolle Naturschutzmaßnahmen für den Erhalt von 9 Amphibienarten, 64 Säugetierarten und
Hätte das internationale Forschungsteam die Fachartikel nicht analysiert und durch ihre Studie in die englischsprachige Wissenschaftsblase geholt, wären die Schutzmaßnahmen wahrscheinlich noch lange unter dem Radar geblieben. Warum ignoriert die internationale Wissenschaft solche wichtigen Erkenntnisse? Warum wird nicht einfach gleich alles ins Englische übersetzt? Und gäbe es eine Lösung, solche Wissensschätze für alle zugänglicher machen? Diese Fragen beantwortet mir Kerstin Jantke in einem Videointerview.
Désiree Schneider:
Frau Jantke, warum werden so viele Fachpublikationen auf Englisch geschrieben und nur wenige ins Englische übersetzt?
Kerstin Jantke:
Englisch spielt in der globalen Wissenschaftskommunikation eine unersetzliche Rolle als
Wenn ich als Wissenschaftlerin etwas veröffentliche, kann ich das normalerweise nur einmal. Ich muss mich also entscheiden, wo ich meine Arbeit einreiche. Die wichtigsten internationalen Fachpublikationen Deswegen entscheiden sich viele Wissenschaftler für eine englische Publikation – für die Reichweite. Dabei trete ich das Urheberrecht an den Verlag ab – und damit oft auch das Recht, den Text in einer anderen Sprache zu veröffentlichen. Dafür müsste ich eine Ausnahmegenehmigung bei dem entsprechenden Verlag erwirken. Das ist Arbeit und auch nicht mein Hauptziel als Wissenschaftlerin. Ich nutze meine Zeit eher für neue Forschung zum Schutz der biologischen Vielfalt, um den Wissensstand in der Nachhaltigkeitsforschung voranzubringen.
Wichtig ist auch die Frage: Wie oft wird mein Artikel zitiert? Da habe ich in der Forschung bessere Chancen, wenn ich ihn der globalen Wissenschaftscommunity auf Englisch zur Verfügung stelle, als wenn ich die Reichweite durch eine andere Sprache begrenzen würde.
Wäre es dann nicht besser, einfach alle wissenschaftlichen Arbeiten auf Englisch zu veröffentlichen?
Kerstin Jantke:
Nein, das wäre zum Nachteil lokaler Entscheidungsträger. Wenn ich zum Beispiel für eine Behörde oder eine NGO in Deutschland arbeite, die Schutzmaßnahmen für die lokale Biodiversität durchführt, würde ich die Ergebnisse auf Deutsch veröffentlichen. Ich will regionale oder nationale Amtsträger erreichen, damit sie informierte Entscheidungen fällen können, oder Menschen in geografischer Nähe mit ähnlichen Problemen, die daraus lernen können. Das geht nun einmal in der eigenen Sprache am besten. Nicht alle sprechen Englisch.
Wie können nicht-englische Wissensschätze der internationalen Forschungscommunity zugänglicher gemacht werden?
Kerstin Jantke:
Es gibt eine immense Zahl an wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die jeden Tag steigt. Ich weiß nicht, ob es Sinn machen würde, wenn es all dies doppelt – also in der Landessprache und auf Englisch – gäbe. Es wird heutzutage aber immer einfacher, automatisierte Übersetzungstools zu nutzen. Die werden immer besser.
Ein anderes Problem ist jedoch, die Artikel bei der Recherche auch zu finden. Viele ältere wissenschaftliche Arbeiten sind nicht digital verfügbar – besonders in Deutschland. Viele Zeitschriften und Bücher vergilben in den Bibliotheken. Sie werden bei der Onlinesuche nicht immer gefunden. Wir haben nicht mal eine gute deutschsprachige Suchmaschine für wissenschaftliche Literatur.
Gibt es Sprachräume oder Regionen, in denen besonders wenige englischsprachige Studien zu finden sind?
Kerstin Jantke:
Ja, in der Forschung rund um Schutzmaßnahmen für die Biodiversität ist das so. Wir haben zwar nur Fachpublikationen in 16 Sprachen untersucht – was immens viel Aufwand war – und werden dabei auch vieles übersehen haben, doch hat sich klar abgezeichnet, in welchen Regionen es kaum englischsprachige Literatur gibt. Dazu haben wir eine Karte angelegt.
Was zeigt die Karte?
Kerstin Jantke:
Auf der Weltkarte sind alle Orte markiert, die wir gefunden haben, an denen Studien mit erfolgreichen Naturschutzmaßnahmen durchgeführt wurden. Die hell- bis mittelblauen Quadrate sind Orte, an denen es viele englischsprachige Fachartikel gab. Je dunkler das Blau wird, desto mehr gab es. In Regionen mit schwarzem Viereck haben wir jedoch keine englischsprachigen Studien zum Thema gefunden. Das ist besonders in Asien, in Russland, im nördlichen Teil von Afrika und auch in Lateinamerika der Fall. Also in vielen Regionen, in denen die Biodiversität besonders vielfältig und bedroht ist. In Zahlen gefasst, ist die geografische Abdeckung der verfügbaren Informationen über Naturschutzmaßnahmen durch die Studie um 25% gestiegen.
Wie haben Sie die wissenschaftlichen Artikel für die Studie ausgewählt?
Kerstin Jantke:
Da gab es klare Vorgaben. Zuerst haben wir geschaut, welche Fachpublikationen in der jeweiligen Sprache überhaupt Artikel veröffentlichen, die für uns relevant sind. Wir waren auf der Suche nach wissenschaftlichen Artikeln, die wirksame Naturschutzmaßnahmen behandeln. Dafür haben wir die Überschrift und Zusammenfassung jeder Studie durchgelesen. Hat sich ein Artikel mit Naturschutzmaßnahmen beschäftigt, musste er ihren Erfolg oder Misserfolg auch mit Fakten belegen und bewerten. Außerdem mussten die Maßnahmen so dokumentiert werden, dass andere sie nachverfolgen und selbst anwenden können. Das Forschungsteam musste insgesamt Hunderttausende Studien durchsehen, von denen sich am Ende nur knapp über 1.200 qualifiziert haben.
Wie geht es mit dem Projekt weiter?
Kerstin Jantke:
Nun werden die geprüften Studien nach und nach in eine öffentliche Datenbank der University of Cambridge eingearbeitet. Sie nennt sich und ist – natürlich – auf Englisch.
Der Klimawandel hat bereits viele Kipppunkte erreicht. Die gute und die schlechte Nachricht zugleich: Er ist menschengemacht. Wir können also etwas dagegen tun. Als Umweltjournalistin geht Désiree folgenden Fragen nach: Wie können wir unseren Konsum nachhaltiger gestalten? Was müssen Firmen tun? Und wo muss sich das System ändern? Denn jeder Mensch und jedes Unternehmen kann Teil des Problems sein – oder der Lösung.