Armut ist in Deutschland längst kein Randphänomen mehr
»EineSorgeWeniger« hilft armen Menschen in Notlagen unbürokratisch und schnell. Warum Armut so oft unsichtbar ist, wie sie im reichen Deutschland im Jahr 2021 aussieht und was eine neue Regierung tun kann, um sie wirksam zu bekämpfen – eine Serie in 3 Teilen.
»Einmal Wasser, Marsch! Jetzt wird aus der Schnecke ein Speedy Gonzales«, ist eine fröhliche, aber bestimmte Stimme aus dem Hintergrund zu hören. Sie gehört der Krankenschwester einer Berliner Klinik. Gerade hat sie die Infusion von
Um diesen Prozess möglichst lange herauszuzögern, ist sie jetzt im Krankenhaus und bekommt eine Woche lang Medikamente per Tropf verabreicht. »Es ging mir schon an den ersten Tagen viel besser. Ich hoffe, das hält jetzt ein halbes Jahr.« Alle 6 Monate soll sie die Behandlung künftig wiederholen – Hoffnung nach Jahren der Verschlechterung.
Sasa Zatata ist gelernte Industriekauffrau für Verlag und Medien. Ihr Ziel vor der Erkrankung: eines Tages für die SPD in den Bundestag einzuziehen. Im Jahr 2019 fand sie sich nach der Diagnose Morbus Bechterew in einer neuen Lage wieder. Nun war klar, es würde nicht mehr besser werden. Sie konnte nicht mehr arbeiten und musste finanzielle Hilfe beim Amt beantragen. In der schwierigsten Phase reichte ihr Geld nicht einmal für genug Essen.
Dieser Artikel ist der Einstieg in seine 3-teilige Serie bei Perspective Daily. Sie soll einen Einblick geben, wie Menschen in Deutschland mit Armut leben. Warum haben viele von ihnen das Gefühl, sich für ihre Armut rechtfertigen zu müssen? Wer hilft ihnen im wirklichen Leben? Wird alles besser, wenn die neue Regierung Hartz IV durch ein Bürgergeld ersetzt?
Armut – ein Massenphänomen im reichen Deutschland
Aus der Mitte der Gesellschaft in die Armut, dieser Weg ist gar nicht so weit. Vor allem nicht für Aufsteiger:innen, die keine einkommensstarke Familie im Rücken haben. Seit ihrer Kindheit war Sasa Zatatas Leben von Arbeit geprägt. Schon früh half sie in der Gastronomie der Eltern aus, verdiente ihr eigenes Geld. Mit Mitte 30 konnte sie zwar neben einem Wirtschaftsabitur und einer abgeschlossenen Ausbildung 18 volle Beitragsjahre in die Rentenkasse nachweisen, aber keine Rücklagen ansparen.
Die Arbeit, die bisher ihr Leben bestimmt und ausgefüllt hatte, musste Zatata durch die Krankheit aufgeben. Mit dem Wegfall der Arbeit kam bald auch die Armutserfahrung hinzu. Sasa Zatata ist pflegebedürftig, ein Verfahren für die dauerhafte
Laut der letzten verfügbaren Zahlen (2019) sind
Armut sei schon lange kein »Rand(gruppen)phänomen mehr, als das sie bis heute gern verharmlost wird, sondern immer mehr zur Mitte der Gesellschaft vorgedrungen«, schreiben die Ungleichheitsforschenden Carolin Butterwegge und ihr Mann Christoph in ihrem aktuellen Buch
Als armutsgefährdet gilt derzeit nach den Maßstäben der Europäischen Union, wer weniger als 60% des sogenannten
Armut ist hier nicht absolut definiert, also zum Beispiel dadurch, dass die grundlegendsten Bedürfnisse nicht erfüllt sind, sondern relativ – nach der Einkommensverteilung in der Gesellschaft. Sie wird im Vergleich mit anderen wahrgenommen und deswegen auch so definiert.
Armutsbekämpfung per Twitter?
Doch wie stark sich vergleichende Wahrnehmung und konkretes Erleben vermischen, zeigt sich im Fall von Sasa Zatata, wo das Arbeitslosengeld II phasenweise nicht mehr für Essen ausreichte.
Hilfe fand sie in dieser Situation nicht beim Staat, sondern bei
3 Jahre und eine Diagnose später fand sich Sasa – inzwischen schwanger – selbst in einer schwierigen Situation wieder. Sie musste aus ihren Ersparnissen einen Umzug bezahlen, zugleich gingen Waschmaschine und Spülmaschine kaputt. Das Problem kommt bei vielen Menschen auf, die in Armut leben. Solange keine Sonderausgaben anfallen, kommen die meisten durch finanzielle Disziplin über die Runden. Zum Ansparen für schlechte Zeiten reicht das Budget vom Amt aber nicht. Geht etwa eine Waschmaschine oder ein Handy kaputt, wird es eng.
»EineSorgeWeniger« sammelte per Twitter für einen neuen Waschtrockner. »Als unser Kind da war und die Ämter unsere Anträge wochenlang nicht bearbeitet haben, habe ich von der Stiftung zur Überbrückung auch noch einmal Lebensmittelgutscheine bekommen.«
Die Gründe für ihr Engagement liegen in der eigenen Biografie der Macher:innen der Initiative. »Ich habe einen DDR-Background«, sagt Konstantin, der zusammen mit Natalie Schöttler inzwischen in Amsterdam als
Auslöser, konkret zu helfen, sei dann aber die
Aus dieser Erfahrung heraus entstand erst die Initiative und schließlich die Stiftung. Heute vermittelt sie Lebensmittelgutscheine an Menschen, die zum Teil tagelang nichts mehr gegessen haben, oder sammelt online für konkrete Gegenstände wie Waschmaschinen, Kleidung oder Smartphones. Wer Hilfe braucht, meldet sich meist
So sieht es aus, wenn die Stiftung zu einer Hilfsaktion bei Twitter aufruft.
Der Bedarf ist groß, nicht alle Anfragen können die Helfenden erfüllen, schon aus Zeitgründen. Schöttler und Seefeldt betreiben die Hilfe neben ihrem Hauptjob gemeinsam mit Co-Gründerin Mona Schiller, die in Potsdam lebt. Die Direkthilfe ist nur ein Teil der Stiftungsarbeit. »Wir wollen die Politik nicht aus der Verantwortung entlassen«, sagt Natalie Schöttler. Ihr konkreter Ansatz: »Man muss mit Betroffenen sprechen, man muss ihnen eine Stimme geben und die Möglichkeit, Empowerment zu spüren.«
Armut, Scham und Schuldgefühle
Sich Gehör verschaffen und laut und deutlich die eigene Position vertreten, das kennt Sasa Zatata. Vor ihrer Krankheit war sie schon beruflich politisch aktiv, ist SPD-Mitglied, Ortsvereinsvorsitzende in Berlin-Hellersdorf und stellvertretende Landesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (ASF) Berlin. Derzeit engagiert sie sich noch ehrenamtlich, soweit es ihre Krankheit zulässt.
Ich lebe meine Armut offen aus, weil sie politisch ist und es zu meiner Verantwortung als Politikerin gehört, damit sichtbar zu sein.
Das tun aber nur wenige. Die Angst vor Stigmatisierung ist groß. Die Kehrseite ist die Unsichtbarkeit von Armut. »Wir vergessen viel zu oft Menschen, die nicht mehr arbeiten können: Alleinerziehende, Pflegende, Kranke. Wir sind nur etwas wert, wenn wir produktiv sind.«
Etwas schärfer formuliert es die Zeit-Journalistin Anna Mayr. Sie ist selbst in armen Verhältnissen aufgewachsen. Im Perspective-Daily-Interview zu ihrem Buch
Christoph Butterwegge hat viel zum Thema Kinderarmut und soziale Ungleichheit in Deutschland geforscht. Der Kölner Politikwissenschaftler spricht im Telefoninterview von einer Täter-Opfer-Umkehr, in der sich die politisch Verantwortlichen von ihrer Schuld freisprächen und sie denjenigen zuwiesen, die von Armut betroffen seien. »Das funktioniert ziemlich gut, wenn man sieht, dass viele der Betroffenen sich dann auch tatsächlich selbst die Schuld geben, sich als Loser fühlen und von der Gesellschaft auch als Versager stigmatisiert werden.«
Auch das Hartz-IV-System könnte dabei eine Rolle spielen, ist es doch darauf angelegt, Menschen zu Arbeit zu bewegen, die zum Beispiel unterhalb der eigentlichen Qualifikation und der gewohnten Bezahlung liegt. Einen wichtigen Grundstein dafür legte Altkanzler Gerhard Schröder (SPD), der den Satz
Solch radikale Sätze degradieren Langzeitarbeitslose mit einem Handstreich zu unwilligen, parasitären Menschen, die nichts zum Gemeinwohl beitragen. Doch diese Verurteilung ist falsch und geht am eigentlichen Punkt vorbei: Menschen, die wenig verdienen, nicht oder nur Teilzeit arbeiten, haben dafür sehr unterschiedliche Gründe.
Alleinerziehende sind von Armut besonders häufig betroffen
So gelten 43% der Familien mit alleinerziehenden Elternteilen als einkommensarm. Oft ist der Grund, dass Alleinerziehende, meist Frauen, gar nicht Vollzeit arbeiten können, selbst wenn sie es wollten.
So wie
Rechnen könne sie gut und sie habe auch einen klaren Überblick über ihre Finanzen. Wenn eine Waschmaschine oder ein Handy kaputt gehe, könne sie sich höchstens mit stromfressenden Modellen aus zweiter Hand helfen – die meistens nur kurz hielten.
Der Gedanke, sparen zu müssen, ist neben dem Schamgefühl bei Clara Neust etwas, worum sich ihre Gedanken immer wieder drehen. Auch heute vermeidet sie Termine, bei denen sich Familien aus dem Kindergarten im Eiscafé treffen – zu teuer.
Von »EineSorgeWeniger« erhielt sie einen Laptop, ein Smartphone und Hilfe für Weihnachtsgeschenke. Für sie aber ganz zentral: »Es war eine emotionale Stütze für mich. Immer wenn nichts mehr ging, war jemand da, der geholfen hat, ohne mich zu beschämen.« Durch die Twitterhilfe diskutiere sie jetzt auch online über politische Lösungen. »Die Scham über mich selbst ist der Wut auf das System gewichen.«
Heute studiert Clara Neust Soziale Arbeit neben der Betreuung ihres 5-jährigen Sohnes. Hartz IV bezieht sie weiter und hofft, dass sie nicht eines Tages gezwungen wird, das Studium zugunsten irgendeines Teilzeitjobs aufzugeben. Denn mit abgeschlossenem Studium könnte sich ihre Perspektive nachhaltig verbessern.
Im zweiten Teil liest du darüber, wie andere Menschen ihre Situation in Armut erleben, warum wohltätiges Engagement nicht ausreicht und wie die »OneWorryLess Foundation« mit »EineSorgeWeniger« zu politischen Lösungen beitragen möchte.
Hier findest du die anderen beiden Teile der Serie:
Mit Illustrationen von Doğu Kaya für Perspective Daily