Sind »die Flüchtlinge« schuld, wenn Deutschland die Krise kriegt?
5 Irrtümer über die »Flüchtlingskrise«
An den Grenzen stehen 60 Millionen Flüchtlinge. Wie sollen wir dieser Massen Herr werden? Wir können nicht die ganze Welt retten.
Weder heute noch im Sommer 2015 standen »60 Millionen Flüchtlinge« an der deutschen oder europäischen Grenze. Und mit einem Blick auf die Statistiken des
Das Zitat ist ein extremes, aber nicht untypisches Beispiel dafür, wie die Fakten in der politischen Debatte um die »Flüchtlingskrise« eine oft untergeordnete Rolle spielen. Schon das Wort »Krise« ist aus mehreren Gründen
Es wird Zeit, eine sachliche Grundlage für die Debatte zu schaffen. Die Daten und Fakten stehen zur Verfügung und können von jedem ausgewertet werden. Politische Lösungen, die auf Irrtümern aufbauen, können nicht funktionieren. Im Gegenteil: Politische Destabilisierung, wirtschaftlicher Schaden und soziale Probleme sind nicht in erster Linie Ergebnis der Wanderungsbewegungen selbst. Sie sind das Resultat eines unverantwortlichen politischen Diskurses und fehlerhaften politischen Handelns.
Fertige Lösungen, das sei vorweggesagt, wird dieser Artikel nicht bieten. Aber er wird mit einigen der häufigsten Fehlannahmen über die »Flüchtlingskrise« aufräumen.
Flüchtlingszahlen weltweit auf Rekordstand
Irrtum 1: Wir erleben derzeit eine »Flüchtlingskrise«
Die Zahlen stimmen. Für die Diskussion in Deutschland und Europa sind sie in dieser Form aber gar nicht relevant. Das UNHCR zählt alle Vertriebenen weltweit. Dazu gehören neben
Aber wie sieht die Lage mit Blick auf Deutschland aus?
»Ob wir schon in dem Stadium sind, wo die Lawine im Tal unten angekommen ist oder ob wir in dem Stadium im oberen Ende des Hanges sind, weiß ich nicht.« – Finanzminister Wolfgang Schäuble vergleicht im November die Ankunft von Flüchtlingen mit einer Naturkatastrophe
Hätte Deutschland 2015 besser vorbereit sein können? Ja, denn die Bundesregierung war von dem möglichen Kollaps der Aufnahmeeinrichtungen in Südeuropa gewarnt worden. Schon 2009 stoppte das Bundesverfassungsgericht
Weder die weltweite Zahl der Geflüchteten noch die konkrete Zuwanderung nach Deutschland stellt somit eine »Krise« dar. Wenn eine Krise vorliegt, dann ist es eine der deutschen Migrationspolitik, die über Jahre systematisch
Das Ergebnis war die Überforderung der deutschen Asyl-, Sozial- und Schulsysteme 2015, die nur durch einen aufopfernden Einsatz von vielen Freiwilligen bewältigt werden konnte. Lehrer, kommunale Angestellte und andere Berufsgruppen mussten und müssen jeden Tag eigentlich unzumutbare Herausforderungen meistern. Eine staatliche Aufgabe, die Fürsorge für Geflüchtete, fiel damit auf einmal in die Hände von Privatmenschen, die darauf weder vorbereitet noch dafür ausgestattet waren. Es hätte in der Macht der Politik gelegen, diese Zustände zu verhindern.
Ich bin daher den vielen Ländern dankbar, die großzügig Notleidende aufnehmen, angefangen bei verschiedenen europäischen Staaten, besonders Italien, Deutschland, Griechenland und Schweden.
Irrtum 2: Deutschland akzeptiert besonders viele Flüchtlinge
Deutschland leistet viel für die Aufnahme und Versorgung von Geflüchteten – allerdings nur seit 2015 und im direkten Vergleich zu anderen europäischen Staaten und den USA.
Nach Pakistan und der Türkei belegt Deutschland den 6. Platz unter den Ländern, die weltweit die meisten Geflüchteten aufgenommen haben.
3 Sichtweisen auf die Aufnahme von Geflüchteten.
Mit einem Geflüchteten pro 69 Bewohner kommt Deutschland auf Platz 14, wenn man die Gesamtbevölkerung zum Maßstab macht.
Vor 2015 tat die Bundesregierung zudem ihr Bestes, die Zahl der Geflüchteten in Deutschland so klein wie möglich zu halten.
Diese Darstellung soll die persönliche Leistung der vielen Freiwilligen und auch der staatlichen Behörden, die sich zum Teil schon lange vor 2015 um die Belange von Geflüchteten gekümmert haben, nicht schmälern.
In der Aufregung um die vielen illegalen Grenzübertritte seit einigen Jahren ist zudem völlig untergegangen, dass es von Seiten der Bundesregierung zuvor keinerlei Bemühungen gab, den Migrationsdruck auf Länder im globalen Süden oder an den
Als Außenminister Deutschlands und Italiens wollen wir am Horn von Afrika konkret zeigen, welchen besonderen Mehrwert Außenpolitik leisten kann, um Fluchtursachen zu bekämpfen und Transitstaaten zu unterstützen.
Irrtum 3: Deutschland kann »Fluchtursachen im Ausland bekämpfen« oder die europäischen Grenzen gegen ungewollte Einwanderung schließen
Um der unkontrollierten Einwanderung von Vertriebenen Herr zu werden, verfolgt die deutsche Politik vor allem 2 Ansätze. Zum einen sollen Fluchtursachen bekämpft, also Kriege verhindert und beendet sowie Armut in der Welt beseitigt werden. Zum anderen investiert Deutschland zusammen mit den anderen EU-Mitgliedstaaten massiv in eine stärkere Sicherung der Außengrenzen. Darunter fallen auch politische Abkommen mit wichtigen Transitländern, damit Geflüchtete gar nicht erst an den EU-Außengrenzen ankommen.
»Was wir jetzt noch brauchen, ist ein Regelwerk, eine Art Garantie, wie sich der Zustrom von Flüchtlingen künftig drastisch begrenzen lässt.« – CSU-Chef Horst Seehofer im September 2016
Um es kurz zu machen: Beide Ansätze sind zum Scheitern verurteilt, wenn ihr Ziel die Verhinderung unkontrollierter Migration sein soll.
Am wenigsten aussichtsreich ist die Bekämpfung von Fluchtursachen im Ausland. Diese Idee beruht auf der Theorie, dass europäische Länder durch finanzielle, politische und militärische Mittel die innenpolitische und wirtschaftliche Lage anderer Staaten maßgeblich beeinflussen können. Präventive Diplomatie soll den
Besonders bei Konflikten, die den größten Teil der nach Europa Fliehenden hervorbringen, wird die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit deutlich. In Somalia hilft die EU seit 2007 beim Aufbau einer afrikanischen Interventionsarmee und der Streitkräfte der somalischen Regierung, um das Bürgerkriegsland aus der Krise zu führen. Allein die Soldaten der Mission der Afrikanischen Union in Somalia AMISOM unterstützt sie derzeit mit 20 Millionen Euro im Monat. Insgesamt hat die EU 1,3 Milliarden Euro in AMISOM investiert.
Der Erfolg ist mäßig. Zwar konnten Teile des Landes aus den Händen der
Es gibt natürlich auch Beispiele für erfolgreiche militärische und wirtschaftliche Interventionen. Der Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg und der anschließende Marshallplan, mit dem der europäische Wiederaufbau nach Kriegsende teilweise finanziert wurde, hatten enorme und langfristige positive Auswirkungen. Das ließen sich die USA aber auch Einiges kosten: 16,1 Millionen amerikanische Soldaten waren während des Krieges im Einsatz, von denen
Zum Vergleich:
»Er muss den illegalen Grenzübertritt verhindern, notfalls auch von der Schusswaffe Gebrauch machen. So steht es im Gesetz.« – Frauke Petry, Parteisprecherin der AfD auf die Frage, wie ein Grenzpolizist einen illegalen Grenzübertritt verhindern soll.
Auch eine stärkere Sicherung der Grenzen bringt letztlich inakzeptable politische, finanzielle und menschliche Kosten mit sich. 2016 verfügte allein die
Wer nicht bereit ist, Hilfesuchende an Europas Außengrenzen zu erschießen, der muss sich eingestehen, dass die physische Sicherung der Grenzen gegen Zuwanderung ein hoffnungsloses Unterfangen ist.
Wohl auch, weil sich Europas Regierungen das insgeheim eingestehen, versucht die EU derzeit intensiv, Abkommen mit Transitländern zu schließen, damit Geflüchtete gar nicht erst vor Europas Außengrenzen ankommen oder sie schnell wieder in »sichere« Drittländer abgeschoben werden können.
Wir haben offenbar einige völlig verrohte Personen importiert, die zu barbarischen Verbrechen fähig sind, die in unserem Land bislang kein Alltag waren.
Irrtum 4: Geflüchtete sind mehr/weniger/gleich kriminell wie Deutsche und ein Sicherheitsrisiko
Geflüchtete begehen Straftaten und zumindest einige dieser Verbrechen sind äußerst schwerwiegend. Wie stark sie die Sicherheit gefährden, darüber wird hitzig debattiert.
Selbst die Einschränkung auf Religionszugehörigkeit, Alter, Geschlecht, Nationalität oder eine Kombination dieser Merkmale hilft bei der Analyse des Gefahrenpotenzials kaum weiter.
»Mit einem Migrationshintergrund haben diese Taten nichts zu tun.« – Jan Korte (Die Linke)
So besitzen nach Angaben der Polizei überdurchschnittlich viele »Intensivstraftäter« die Staatsangehörigkeit eines nordafrikanischen Landes, sind jung und männlich. Dass Menschen aufgrund solcher Statistiken Angst vor dieser Gruppe Zuwanderer entwickelt haben, ist verständlich.
Die Diskussion über das Sicherheitsrisiko, das diese oder jene Gruppe darstellt, kann aus diesen Gründen zu nichts führen und ist in erster Linie ein
Die Entwicklung der Asylzahlen zeigen: Die Maßnahmen der Bundesregierung entfalten ihre Wirkung. Es ist gelungen, das Migrationsgeschehen zu ordnen, zu steuern und die Zahl der Menschen, die zu uns kommen, zu begrenzen.
Irrtum 5: Ab jetzt wird alles besser
Es herrscht Aufbruchsstimmung im Flüchtlingsland Deutschland.
Allein in der Geschichte der Bundesrepublik wurden die politisch Verantwortlichen schon mehrfach von Flüchtlingsbewegungen überrascht. Das hat die erste hier diskutierte Fehlannahme gezeigt. Wir drohen, dieselben Fehler wieder zu begehen,
Situationen wie 2015 können sich jederzeit wiederholen. Was würde passieren, wenn Ägypten, das bevölkerungsreichste Land Nordafrikas, ähnlich wie das Nachbarland Libyen oder Syrien kollabieren sollte? Was, wenn das türkische Regime entscheidet, dass eine Destabilisierung der EU vorteilhafter ist als politische und finanzielle Zugeständnisse? Wer weiß schon, ob organisierte Kriminalität und politische Interessen nicht weiteren Millionen Binnenvertriebenen die Flucht ins Ausland ermöglichen oder sie erzwingen?
Die aktuelle Migrationspolitik der Bundesregierung und der EU steht damit in einem unauflösbaren Spannungsverhältnis. Wir wollen den Zuzug von Geflüchteten verhindern, damit unsere Gesellschaften nicht verunsichert und unser politisches System nicht destabilisiert wird. Aber was, wenn sich der Zuzug nicht verhindern lässt?
Der Weg zu einer neuen Debatte über Vertreibung und Europas Rolle im Umgang mit Geflüchteten führt über eine neue Würdigung der Faktenlage, von der ein Teil in diesem Artikel zur Sprache gekommen ist.
Titelbild: Frontex - copyright