»Alleinstehende Männer fallen bei Hilfsangeboten oft durchs Raster«
Roja Massoumi ist Psychologin und arbeitet mit schutzsuchenden Männern, die häufig stigmatisiert werden. Bei Perspective Daily legt sie den Finger in die Wunde und reflektiert über ihre eigene Rolle.
Roja Massoumi, 31, ist klinische Psychologin. Sie wuchs in Deutschland auf. Das hat sie dem Zufall und dem Mut ihrer Eltern zu verdanken, die nach der
»Ich bin als
Als Jugendliche bekam ich regelmäßig von Individuen und Institutionen gesagt, was ich alles nicht schaffen und erreichen könne. Meine Eltern haben enorme Stärke und Widerstand bewiesen, haben allen Hindernissen standgehalten und ihren Kindern ein gutes Leben in Deutschland ermöglicht. Ich wusste schon früh, dass ich meine Privilegien der Kraft meiner Eltern zu verdanken habe und dass ich Glück hatte, mit einem deutschen Pass in Sicherheit aufzuwachsen. Meine eigene Familiengeschichte trieb mich an, mein Wissen und Können sinnvoll zu nutzen – und jene Menschen zu unterstützen, denen dieses Glück nicht zugesprochen wurde. Nach meinem Studium arbeitete ich als Psychologin in mehreren Organisationen im Bereich Flucht und Migration. Da ich bilingual aufgewachsen bin, war es für mich naheliegend, nach Lesbos zu gehen, wo ich mit den mehrheitlich afghanischen Schutzsuchenden als Psychologin in ihrer Muttersprache Farsi kommunizieren kann.
Seit einem Jahr arbeite ich nun hier, seit August auch als Koordinatorin für ein Mental-Health-Projekt für Erwachsene auf Lesbos. Wir haben schnell erkannt, dass Männer, die allein geflohen sind, häufig vom System benachteiligt werden. Die meisten von ihnen sind 19–28 Jahre alt, mussten ihre Familien in Gefahr zurücklassen und werden nun ihrer Jugend beraubt. In diesen wichtigen Lebensjahren haben sie schon mehr er- und überlebt als die meisten jungen Männer, die in Sicherheit in Europa aufwachsen. Dafür sollten sie ausschließlich Respekt und Anerkennung bekommen. Stattdessen erleben sie häufig Stigmatisierung, Polizeigewalt sowie Rassismus und werden von grundlegenden Hilfsangeboten ausgeschlossen.
Für Familien, Kinder und Frauen wird eher gespendet und sie erhalten leichter konkrete Hilfsangebote. Sie gelten als
Seit dem Brand in Moria im vergangenen Jahr nimmt die Zahl der Campbewohner:innen auf Lesbos stetig ab. Zuletzt, weil aufgrund sogenannter Push-Backs Menschen illegal und gewaltsam von der Einreise nach Europa abgehalten werden,
Die meisten Menschen, denen ich auf Lesbos begegne, haben traumatische Erfahrungen in ihrem Herkunftsland gemacht. Sie waren gezwungen, vor Konflikten, Kriegen, Verfolgung und Gewalt zu fliehen. Auch auf ihrer Flucht erlebten sie traumatisierende Ereignisse – in letzter Zeit vermehrt durch die Push-Backs, Gewalt durch Polizei oder Grenzbeamte. Solche Erlebnisse hören auch nach der Ankunft in Europa für die schutzsuchenden Menschen nicht auf. Eine sichere, stabile Umgebung wird den Menschen, mit denen ich arbeite, verweigert.
Dadurch haben viele über mehrere Jahre komplexe Traumatisierung erlebt und zeigen teils chronische und anhaltende psychische Symptome. Es sind politische Faktoren, die ihre Symptome über Jahre aufrechterhalten und verschlechtern. Unser Projekt versucht, unterstützend an einem Punkt einzuwirken, an dem die schutzsuchenden Menschen noch auf dem Weg in ein hoffentlich sicheres Leben sind. Wir bieten alleinstehenden Männern psychologische Einzelgespräche an. Die meisten Männer in unserem Projekt zeigen traumabezogene Symptome wie Schlaflosigkeit, Panikattacken,
Wie gute Absichten zum Problem werden können: der »White Savior«
Wir arbeiten eng mit sogenannten Cultural Mediators zusammen. Sie leben zum Teil selbst im Camp und warten auf die Entscheidung ihres Asylverfahrens. Ohne diese Kolleg:innen aus der Community wäre unsere Arbeit undenkbar. Im Psychologiestudium wird über das Verhalten von Menschen, ihre Gefühle und Gedanken gelehrt. Doch all diese Lehren wurden ausschließlich aus westlichen Kulturkreisen gezogen. Dass Menschen aus nicht-westlichen Kulturkreisen andere Ausdrucksweisen haben, wird missachtet und führt häufig zu falschen Diagnosen der Menschen, denen wir hier begegnen. Die Cultural Mediators in unserem Team helfen uns daher nicht nur beim Sprach- und Kulturverständnis, sondern weisen uns auch auf mögliche Fehler aufgrund unserer eurozentristischen Ausbildung hin.
Wir merken, dass die Arbeit, die unser Team leistet, von den Menschen dankend angenommen wird. Dennoch kann man diese Arbeit auf struktureller Ebene durchaus kritisieren und sollte die Rolle von Nichtregierungsorganisationen kritisch hinterfragen. Wir müssen immer im Hinterkopf behalten, dass wir Gefahr laufen, ein System aufrechtzuerhalten, indem wir Menschen Überlebensstrategien mitgeben, während das politische System nicht darauf ausgelegt ist, ihnen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.
Zum anderen können wir schnell dem Narrativ des
Ich finde es wichtig, diesen und viele andere Aspekte in der Arbeit von Nichtregierungsorganisationen zu thematisieren und sie in Organisationen zu integrieren. Dazu ist ein hohes Maß an Selbstreflexion der Motive und Arbeit an einem selbst unvermeidlich. Auch wenn es unbequem wird, ist es unabdingbar, sich dieser Aspekte bewusst zu werden – und sich zu fragen, wie wir Menschen begegnen.«
Das Mental-Health-Programm, für das sich Roja engagiert, ist Teil der Arbeit von Medical Volunteers International, einem Hamburger Verein, der in Griechenland und Bosnien medizinische und psychologische Hilfe für Geflüchtete und Menschen in Not leistet. Hier kannst du den Verein mit einer Spende unterstützen.
Redaktion: Katharina Wiegmann
Titelbild: Fellipe Lopes - copyright