»Trauer trägt man ein Leben lang mit sich«
Der Schmerz, einen Menschen zu verlieren, lässt sich nicht heilen. Liegt dennoch ein Sinn darin? Die Journalistin und Trauerrednerin Louise Brown weiß aus Erfahrung, wie uns Trauer verändert und was uns hilft, mit ihr zu leben.
Louise Brown ist 36 Jahre alt, als sie das erste Mal mit dem Tod konfrontiert wird. Damals arbeitet sie als Journalistin, berichtet aus Krisengebieten, interviewt Gefängnisinsassen und Obdachlose. Sie kennt das Elend der Welt aus nächster Nähe. Doch als sie selbst das Schicksal trifft, gibt es die schützende Distanz nicht mehr, die eine Journalistin zur Welt halten kann. Innerhalb kurzer Zeit sterben ihre Eltern: erst ihre Mutter, 3 Monate später ihr Vater. Der plötzliche Verlust wirft sie aus der Bahn. »Ich, die gestandene Journalistin, die auf der ganzen Welt gewesen war, hatte einen wesentlichen Flecken auf der menschlichen Landkarte umschifft«, schreibt sie
Das Gefühl, vor einem Abgrund zu stehen und wie betäubt, haltlos in die Dunkelheit zu stürzen, so beschreibt Louise Brown die erste Zeit nach dem Tod ihrer Eltern. Das Sterben war zuvor in ihrer Familie nie ein Thema. Ihre Eltern wuchsen während des Krieges auf, der Vater in London, die Mutter in Hamburg. Ob sie sich selbst oder ihre Kinder später nicht mehr mit den Verlusten und der Zerstörung der Kriegsjahre konfrontieren wollten, darüber kann Louise Brown nur mutmaßen. Der Tod schien in ihrem Leben abwesend zu sein. Als ihre Großmutter starb, fuhr sie nicht mit zur Beerdigung.
Auf das Leben als Trauernde sei sie völlig unvorbereitet gewesen. »Ich konnte das überhaupt nicht kapieren und akzeptieren, dass meine Eltern tatsächlich irgendwann nicht mehr da sein würden«, sagt sie. »Ich war super naiv, total ignorant.« Nach dem Tod der Eltern funktionierte sie nach außen hin, innerlich aber sei sie wie gelähmt gewesen. Sie sei wie in einer Zwischenwelt gefangen gewesen. Manchmal habe sie sich gefragt, ob sie verrückt werde. Damals habe sie geglaubt, sie müsse die Trauer überwinden, erzählt sie. Heute weiß sie, dass es darauf nicht ankommt.
Louise Brown wollte ihrem Schmerz etwas Sinnstiftendes abgewinnen.
Als sie spürt, dass der Schmerz nicht nachlässt, beginnt die Journalistin zu tun, was Journalistinnen immer tun: Fragen stellen, lesen, recherchieren. Sie setzt sich mit dem Tod und ihrer eigenen Trauer auseinander. Irgendwann führt sie ein Interview mit einem Bestatter. Am Ende des Gesprächs fragt er die Journalistin, ob sie schon einmal darüber nachgedacht habe, Trauerreden zu schreiben. Ohne es zu merken, nimmt ihr Leben in diesem Moment eine Wendung.
Anderthalb Jahre nach dem Gespräch mit dem Bestatter steht sie das erste Mal bei einer Trauerfeier am Rednerpult. Von da an begleitet sie Hinterbliebene, hört ihnen zu und spricht zu ihnen. Louise Brown wollte dem Schmerz ihrer eigenen Trauer und der Endlichkeit des Lebens, die sie selbst erst begreifen lernen musste, etwas Sinnstiftendes abgewinnen. Sie wurde Trauerrednerin.
Seitdem versucht sie, den Hinterbliebenen etwas von ihrem Schmerz zu nehmen. Und lernt selbst immer besser zu verstehen, was es bedeutet, sich für immer zu verabschieden und allein zurückzubleiben, wenn ein geliebter Mensch gegangen ist. »Heute bin ich, so glaube ich zumindest, ein wenig klüger, was die Trauer angeht. Aber nur ein wenig«, schreibt sie in ihrem Buch, in dem sie von ihren Begegnungen mit Trauernden erzählt. »Ich weiß zum Beispiel, dass sich die Trauer bei jedem anders auswirkt und es im Gegensatz zu langjährigen Vorstellungen keine festgelegten, zeitlich abgeschlossenen Trauerphasen gibt.«
»Der Tod ist eine höchst individuelle Angelegenheit«
Die Frage nach dem richtigen Umgang mit Trauer beschäftigt die Menschen schon immer. In allen Kulturen und Religionen hat der Tod eine besondere Bedeutung. Auf die Frage, wie wir damit umgehen, haben die Menschen in den vergangenen Jahrhunderten und Jahrtausenden sehr unterschiedliche Antworten gefunden.
»Alles hat seine Zeit«, heißt es in der Bibel, auch das Sterben und das Weinen. Das Judentum sieht ein Jahr für die Trauer vor, anschließend endet sie. Muslime trauern je nach Glaubensrichtung unterschiedlich: oft still und zurückhaltend, manchmal auch gar nicht, zumindest nicht offen. Je nach Tradition endet für Muslime die Trauerzeit mit festen Ritualen. Im Buddhismus ist der Tod ein neuer Anfang, die Zeit der Trauer markiert nur einen Übergang.
Auch in der antiken Philosophie war für viele einflussreiche Denker klar, dass die Trauer zum Leben dazugehört, aber irgendwann enden muss. Der Stoiker Seneca gibt in seinen Schriften Ratschläge zur Überwindung der Trauer und setzt dabei auf den Verstand: »Wenn die Vernunft unseren Tränen kein Ende setzt – das Schicksal wird es auch nicht tun«, schreibt der Philosoph
Ist Trauer nicht immer zu groß für einen Menschen?
Der Stoizismus, eine philosophische Strömung,
Aber gibt es das, ein Übermaß an Trauer? Bedeutet zu trauern nicht gerade das: den Schmerz eines Verlustes zu ertragen, der so groß ist, dass er sich kaum tragen lässt? Ist Trauer nicht immer zu groß für einen Menschen?
»Es gibt keine festen Trauerphasen«
Die Vorstellung, dass Trauer ein vorübergehender Zustand ist und der Schmerz über den Verlust irgendwann vergeht, ist auch heute noch weitverbreitet. Viele Trauernde stoßen irgendwann auf die 5 Phasen des Trauerns. Dieses Modell legt nahe, dass Trauer in verschiedenen, aufeinander folgenden Stufen verläuft: Leugnung, Wut, Verhandeln, Depression und schließlich Akzeptanz.
Louise Brown hat die Erfahrung gemacht, dass ein solches Phasenmodell Menschen tatsächlich hilft, weil es Orientierung bietet und beim Verstehen der eigenen Emotionen hilft. Sie sieht die Phasen aber nicht als starres Modell an. Als solches sei es von der Psychiaterin und Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross auch nicht angelegt gewesen.
In ihrem 1969 erschienenen Buch »On Death and Dying« (auf Deutsch: »Interviews mit Sterbenden«) beschreibt Kübler-Ross eigentlich die Phasen, die Sterbende durchlaufen. Diese Phasen seien bei anderen Verlusterfahrungen ähnlich ausgeprägt, verlaufen laut der Forscherin aber nicht linear. Es kommt zu Rückschlägen, die Frage nach dem Warum kehrt wieder, die Trauer um vergebene Chancen oder der Zorn darüber, dass das Schicksal diesen Menschen getroffen hat und nicht einen anderen.
»Die verschiedenen Phasen können immer wieder hochkommen«, sagt Louise Brown. Vielleicht weil man einen Ort besucht, der an den verstorbenen Menschen erinnert – oder weil ein neuer Verlust auch alte Wunden aufreißt. »Der Tod ist eine höchst individuelle Angelegenheit«, sagt sie. Wichtiger, als sich an Stufen zu orientieren, die man vermeintlich zurücklegt, sei es zu akzeptieren, dass die Trauer eine lebenslange Begleiterin ist. Manchmal ist sie weniger sichtbar, leiser. Und dann kehrt sie mit aller Macht in unser Bewusstsein zurück. Die Stufen der Trauer zu nehmen, um anschließend weiterzuleben wie vorher – diese Erwartung an sich selbst, oder auch von außen, können Trauernde kaum erfüllen.
Manche Betroffene entwickeln eine komplizierte Trauer, die behandelt werden muss.
»Trauer ist etwas, was man ein Leben lang mit sich trägt. Und dieses Mittragen ist für mich ganz entscheidend«, sagt Louise Brown. Erst wollte sie die Trauer hinter sich lassen, dann, nach einigen Jahren, dachte sie, dass das doch mal weniger werden müsse. »Heute betrachte ich die Trauer wie eine kleine innere Narbe. An manchen Tagen spürt man es weniger und an anderen mehr«, sagt sie. Trauer sei nichts, was man abhakt.
Es gibt Menschen, denen es leichter fällt, die Trauer in ihr Leben zu integrieren. Sie schaffen es mit der Zeit, die schmerzhafte Trauer in eine heilsamere Trauer zu verwandeln. Aber es gibt eben auch viele Menschen, die noch nach Jahren tief berührt sind von dem Verlust. Sie spüren oft eine große Schwere in sich, die kaum nachlässt. Zu diesen Menschen gehörte ich, glaube ich, auch. Das zu erkennen und zu akzeptieren, hat mir geholfen. Ich hätte das gern früher gewusst.
Wer trauert, ist nicht krank. Doch in einigen Fällen sind Menschen auch nach langer Zeit nicht in der Lage, den Verlust zu akzeptieren. Die Beschäftigung mit der verstorbenen Person nimmt so viel Raum ein, dass Hinterbliebene unfähig sind, sich wieder in ihr soziales Umfeld einzufinden.
Bei manchen Menschen ist das anders. Die Trauer hinterlässt bei ihnen keine kleine Narbe, sondern entwickelt sich zu einer anhaltenden seelischen Störung, die auch als »prolonged grief disorder« beschrieben wird. Betroffenen gelingt es nicht, sich aus der akuten Trauerphase zu befreien und die Trauer in ihr Leben zu integrieren.
In der Psychologie ist in solchen Fällen auch von »komplizierter Trauer« die Rede. Dann sind Menschen auch Monate oder Jahre nach dem Verlust nicht in der Lage, ihren Alltag zu bewältigen. Die mit der Trauer verbundenen Gefühle wie Sehnsucht, Angst, Wut oder Schuld sind so belastend, dass professionelle Hilfe notwendig wird. Die psychotherapeutische Behandlung der Betroffenen kann dazu beitragen, den Tod des geliebten Menschen anzunehmen und in das eigene Leben zu integrieren.
»Es hängt von vielen Dingen ab, wie sich Trauer bei Hinterbliebenen auswirkt«, sagt Louise Brown. Zum Beispiel davon, ob man in einer Familie über das Thema sprechen könne. Oder ein starkes soziales Netz habe, das einen auffängt. Die Zeit unmittelbar vor und nach dem Tod habe außerdem einen großen Einfluss darauf, wie der Verlust langfristig auf uns wirkt.
Das bedeutet: Wir können den Schmerz der Trauer zwar nicht abmildern. Doch wir können uns darauf einstellen, dass er uns irgendwann treffen wird. Und wir können versuchen, Einfluss darauf zu nehmen, wie wir im weiteren Lebensverlauf mit der Trauer umgehen werden, die früher oder später jedem Menschen zum ersten Mal und dann immer wieder begegnen wird.
»Uns fehlen die Räume, um über den Tod zu sprechen«
Wenn ein Mensch alt wird oder erkrankt, müssen sich die Angehörigen mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass dieser Mensch irgendwann nicht mehr da sein wird. Es gebe Abschiede vor dem Tod, sagt Louise Brown. Doch aus Erfahrung wisse sie, dass auch ein Abschied auf Raten nicht leichter ist. »Der Tod ist ein ultimativer Verlust.« Die Sehnsucht, die ein großer Bestandteil der Trauer sei, die gebe es erst, wenn ein Mensch gestorben ist. Darauf könne man sich nicht vorbereiten. Sie selbst hätte aber gern früher gewusst, wie einschneidend dieser Moment sein würde.
Ich glaube, worauf man sich vorbereiten kann, ist, was mit einem passieren kann. Vor allem in Bezug darauf, wie körperlich sich die Trauer ausdrücken kann. Das hätte ich nie gedacht: dass ich schlecht schlafen würde, dass ich diesen Druck auf meiner Brust spüre, dass mein Deutsch schlechter werden würde. Damit kann man sich vorher beschäftigen.
Etwas leichter kann der Schmerz auch dann werden, wenn wir das Gefühl haben, dass alles gesagt ist und Konflikte gelöst sind. Denn auch wenn ein Mensch geht: Die Beziehungen bleiben. Auf unsere Beziehungen zu einem Menschen zu achten, helfe uns irgendwann dabei, ihn loszulassen, sagt Louise Brown. »Es erschwert die Trauer oft, wenn es noch unausgesprochene Dinge gibt oder wenn man das Gefühl hat, sich nicht genügend gekümmert zu haben.«
Die Pandemie reißt viele Menschen plötzlich aus dem Leben.
Die Pandemie könnte zu mehr Fällen anhaltender Trauer führen.
Welche Traumata unsere Gesellschaft von der Erfahrung der Pandemie davonträgt, ist zum jetzigen Zeitpunkt schwer zu sagen. Doch die Pandemie der Trauer zu überwinden wird länger dauern, als das Coronavirus irgendwann unter Kontrolle zu bringen.
Die Unmöglichkeit des Abschiednehmens macht die Trauer in einer Pandemie besonders schwer. Denn bis zum Schluss trägt die Beziehung zum Sterbenden dazu bei, wie wir mit der Trauer umgehen. »Wenn man einen Sterbenden noch aktiv begleitet hat, kann, glaube ich, der Abschied etwas weniger schmerzhaft sein«, sagt Louise Brown. Damit meine sie nicht, dass man große Dinge getan hat, sondern einfach am Bettrand gesessen hat und präsent war. »Als Trauerrednerin spüre ich sehr oft, dass das den Hinterbliebenen später Kraft gibt und Trost spendet.« Das gelte auch für die Zeit unmittelbar nach dem Tod eines Menschen, wenn die Hinterbliebenen miteinander sprechen, vielleicht eine Kerze anzünden. Es gebe ihnen das Gefühl von Handlungsfähigkeit, weil sie noch etwas für den Verstorbenen tun konnten. Es sei auch die Stille nach dem Tod, die Erfahrung, dass die Zeit stillzustehen scheint, die vielen Menschen guttut.
»Du kannst so sein, wie du gerade bist, und musst nicht so tun, als ob alles in Ordnung ist«
Wir können uns aber auch auf die Trauer einstellen, wenn wir mit Menschen, die vielleicht bald sterben werden, über diese Themen sprechen. »Es ist absurd, dass der Tod so ein zentrales Thema für unser Leben ist und wir nie darüber reden«, sagt Brown, die selbst nicht mit ihren Eltern darüber sprechen konnte. Selbst als ihre Mutter auf der Palliativstation lag, sei sie dazu nicht in der Lage gewesen. Das Thema Tod sei in unserer Gesellschaft zwar nicht unbedingt ein Tabuthema. Doch es fehlten die Räume, in denen wir uns dafür öffnen können. »Wenn man den Menschen die Räume gibt, dann möchten sie auch oft darüber reden.«
Das gelte auch für das Gespräch mit Trauernden. Sie zu begleiten kann bedeuten, ihnen in der schwersten Zeit zu signalisieren, dass sie offen über den Verlust reden können. »Über Gespräche können wir Trauernde unterstützen und ihnen das Gefühl geben: Du kannst so sein, wie du gerade bist, und musst nicht so tun, als ob alles in Ordnung ist«, sagt Brown. Um Trauernden einen Raum zu geben, müsse man als Freund oder Freundin manchmal auch den ersten Schritt machen.
Den ersten Schritt machen, um Trauernden einen Raum zu geben
Weil Trauer uns ein Leben lang prägt, muss auch das Gespräch darüber nicht abreißen. Trauernde im weiteren Lebensverlauf zu begleiten könne zum Beispiel bedeuten, sie in einem passenden Moment einfach danach zu fragen, ob sie von der verstorbenen Person erzählen möchten, sagt Brown. »Das ist oft für Menschen sehr schön, wenn sie die Erinnerung sowieso mit sich tragen, darüber dann auch erzählen zu dürfen.«
Ihr selbst helfen Rituale. In den ersten Jahren nach dem Tod ihrer Eltern sei sie nie zum Friedhof gegangen. Die Erinnerung an das Begräbnis war noch zu schmerzhaft. Inzwischen ist das anders: »Heute fahre ich da total gern hin und tüdele da so ein bisschen rum, räume etwas am Grab auf oder decke es noch mal mit Tannenzweigen zu.« Solche Rituale könnten einem das Gefühl geben, für den Menschen, der dort liegt, da zu sein. Wir bleiben im Gespräch, sehen, was geblieben ist, auch wenn Menschen gegangen sind, und lernen langsam das Sterben ein bisschen besser zu verstehen.
Titelbild: McKinley Law - CC0 1.0