Selbstfürsorge ist politisch
Mehr als Schaumbäder, Yoga und Brotbacken: Wie du dich um dich selbst kümmerst, ohne auf die Wellness-Industrie hereinzufallen.
Was tust du, wenn du dich um dich selbst kümmerst?
Liegst du entspannt zwischen unzähligen Seifenblasen in einer Badewanne und verwöhnst dich mit einer Gesichtsmaske?
Liest du ein Buch?
Oder gehst du zum Yoga?
All das sind Dinge, die viele Menschen wohl in die Kategorie »Selfcare« oder »Selbstfürsorge« einordnen. Wenn ich Instagram unter dem Hashtag #Selfcare durchstöbere, finde ich unter den mehr als 57 Millionen Beiträgen unzählige Bilder von Smoothies, Gesichtsmasken, Yogaposen und Badewannen. Selfcare, soviel scheint hier klar, heißt Wellness und sich etwas zu gönnen. Klingt zunächst gar nicht schlecht!
In der Pandemie bekam der ständige Aufruf, etwas für sich selbst zu tun, allerdings einen bitteren Beigeschmack. Denn jeder Ratgeberartikel, der Yoga und Baden als Lösung für unsere Probleme anpreist, betont gleichzeitig, dass wir unser Glück selbst in der Hand haben. Und vergisst den wichtigen Haken an der Sache: Nicht jeder Mensch kann sich Badewannen, Yogakurse und Wellnessprodukte leisten.
Ist Selfcare also überbewertet?
Um diese Frage zu beantworten, habe ich mit der Autorin Svenja Gräfen gesprochen.
Sie war selbst lange genervt vom Selfcare-Trend, hielt ihn für unsolidarisch und unpolitisch. Doch dann beschäftigte sich Gräfen genauer mit dem Thema und stellte fest: Selbstfürsorge kann sogar höchstpolitisch sein. In ihrem Buch »Radikale Selbstfürsorge. Jetzt!« erklärt sie, wie sie zu diesem Schluss kommt – und wieso am Ende alle profitieren, wenn wir gut zu uns sind.
Selbstfürsorge war schon immer politisch
Gerade für diskriminierte und marginalisierte Menschen sei Selbstfürsorge schon immer politisch gewesen, sagt mir Gräfen. »In den 1960er-Jahren haben schon
Caring for myself is not self-indulgence, it is self-preservation, and that is an act of political warfare.« / »Für mich selbst zu sorgen ist keine Nachsicht, es ist Selbsterhaltung – und das ist ein Akt politischer Kriegsführung. [übersetzt]
Diese Worte wählte Lorde im Zuge der Frauenbewegung in den 60er-Jahren. Indem sich die Aktivistin um ihr eigenes Wohlergehen bemühte, bot sie einer diskriminierenden Gesellschaft die Stirn, der es schlicht egal war, ob es ihr gut ging. Die im Gegenteil sogar daran arbeitete, dass sie sich schlechter fühlte.
Statt sich gesundheitlich und psychisch vollständig aufzuopfern, um kurzfristig etwas ändern zu können, achtete Lorde auf sich und ihre mentale und körperliche Gesundheit – um so langfristig zu wirken. Nicht auszuschließen, dass ihr dabei auch mal ein Bad half, doch es geht um viel mehr als das. Es geht um die Frage, wie wir mit uns selbst umgehen und was wir uns zugestehen. Auch wenn die 60er-Jahre schon eine Weile her sind, hat Lordes Beispiel heute noch Bedeutung. Es macht eindrücklich klar, warum es gerade für marginalisierte und diskriminierte Gruppen, aber auch für Aktivist:innen wichtig ist, sich um das eigene Wohl zu sorgen, solange es die Gesellschaft nicht tut. Selbstfürsorge allein kann zwar das System nicht ändern. Sie kann aber jenen helfen, die genau das schaffen wollen.
Selbstfürsorge hat einen direkten Einfluss auf die Gesundheit
Auch für Menschen, die weder Aktivist:in noch Widerstandskämpfer:in sind, ist Selfcare wichtig. Denn was Lordes Beispiel im Großen deutlich macht, betrifft auch viele kleine und große Aufgaben, die uns im Alltag begegnen. Sei es die Kinderbetreuung, ein verantwortungsvoller Job oder die Pflege eines Angehörigen –
Aus psychologischer Sicht kommt der Selbstfürsorge eine wichtige Rolle dabei zu, uns selbst vor Belastungen zu schützen. In der Psychologie wird sie als
Selbstfürsorge meint Aktivitäten, die physisches und psychisches Wohlbefinden aufrechterhalten oder wiederherstellen und emotionalen und körperlichen Stress ausgleichen.
Erste Studien liefern Hinweise, dass Selbstfürsorge neben anderen positiven Auswirkungen langfristig Stress vorbeugen kann. Eine Studie der Universität Koblenz-Landau macht beispielhaft deutlich,
»Viele Menschen gehen mit sich selbst viel unbedachter um, als sie es beispielsweise mit Freunden oder Familienmitgliedern tun würden. Die Folgen eines solchen Umgangs mit sich selbst können unter anderem
3 Jahre später befragten die Forschenden die Versuchsteilnehmer:innen erneut, um herauszufinden, ob sich ihre Situation verbessert hatte. Das Ergebnis: Auch Jahre nach der Maßnahme ging es den Teilnehmer:innen im Vergleich zur Kontrollgruppe, die nicht an dem Seminar teilgenommen hatte, deutlich besser. Einige berichteten, dass sie seit dem Seminar stärker auf ihre Bedürfnisse achten, Belastungen früher wahrnehmen und rechtzeitig versuchen, diesen entgegenzuwirken. Die Studie zeigt auch: Wer sich um sich selbst kümmert, fühlt sich besser und hat mehr Energie für das Leben und andere Menschen.
Selfcare könnte deshalb auch aus wissenschaftlicher Sicht gerade für Menschen, die beruflich oder privat besonders belastet sind, eine wichtige Rolle spielen. »Viele Menschen haben zwischen ausbeutenden Arbeitsverhältnissen und zusätzlicher Care-Arbeit auf den ersten Blick keine Möglichkeit, sich um sich selbst zu sorgen. Was aber in ihrer Macht – und in unser aller Macht – liegt, ist, wie wir die Dinge tun, die wir tun müssen«, sagt Gräfen.
Wir können entscheiden, was wir von uns fordern. Ob wir uns selbst noch zusätzlich Druck machen und uns permanent verurteilen oder ob wir lernen, sanfter und nachsichtiger mit uns zu sein. Ich denke, das wird gerade in linken Kreisen, in denen Selbstfürsorge gern belächelt oder als ›Luxus für Privilegierte‹ abgetan wird, oft vernachlässigt.
Die Gesellschaft kann von Selbstfürsorge profitieren
Doch nicht nur für marginalisierte Gruppen, linke Aktivist:innen oder Menschen in sozialen Berufen ist Selfcare ein Thema, das zu oft vernachlässigt wird. Für
Selbstfürsorglich zu sein heißt jedoch, Gefühlen ihren angemessenen Raum zu geben. Würde sich dieses veraltete Stereotyp ändern, könnte das am Ende allen helfen, glaubt Gräfen: »Wenn wir das so weit denken, dass alle Menschen – auch die in Machtpositionen – durch radikale Selbstfürsorge Milde und Mitgefühl mit sich selbst und mit anderen Menschen entwickeln, dann könnte die Gesellschaft nur profitieren.« Folgt man Gräfens Argumentation, ist Selbstfürsorge also alles andere als überbewertet.
Doch wie geht das eigentlich genau – sich um sich selbst kümmern?
So werden wir fürsorglicher mit uns selbst
Zunächst ist es bereits ein großer Schritt, sich diese Frage überhaupt zu stellen. Um selbstfürsorglich zu handeln, bräuchten wir in erster Linie uns selbst, sagt Gräfen. »Sich mit einem Notizbuch hinzusetzen ist immer ein guter Anfang, um dann einen Check-in zu machen und sich selbst zu fragen: Wie geht es mir eigentlich gerade? Welche Bedürfnisse habe ich? Und wie könnte ich es mir hier und jetzt ein bisschen angenehmer machen?«, sagt die Autorin. Wichtig sei auch, sich diese Fragen regelmäßig zu stellen und nicht erst, wenn es uns schon schlecht ginge.
Es wird oft kritisiert, dass diese ganzen Selfcare-Tipps, die überall kursieren – geh doch mal raus, leg dich in die Badewanne, schreib ein Dankbarkeitstagebuch, mach ein bisschen Yoga etc. –, gar nicht helfen. Ich glaube, das liegt daran, dass wir sie wie ein Pflaster benutzen, das wir schnell draufkleben, wenn uns eh schon alles zu viel ist, und dass wir uns davon schnelle Linderung versprechen, die die jeweilige Tätigkeit gar nicht bieten kann – weil das Problem ja in den seltensten Fällen ist, dass man zu wenig badet.
Um herauszufinden, was dir selbst wirklich guttut, musst du also etwas tiefer in dich hineinschauen.
- Körperliche Selbstfürsorge: Wie gut achte ich auf die Signale meines Körpers? Mache ich genug Pausen und gebe ich mir den Raum, um aufzutanken? Bleibe ich zu Hause, wenn ich krank bin?
- Emotionale Selbstfürsorge: Wie viel Raum gebe ich meinen Gefühlen? Halte ich den Kontakt zu Freund:innen und Familie oder meide ich ihn, wenn er mir nicht guttut? Unternehme ich Dinge, die mir Spaß machen?
- Kognitive Selbstfürsorge: Nehme ich mir Zeit zum Nachdenken und Reflektieren? Gebe ich meinen Meinungen und Haltungen Platz in meinem Leben?
- Soziale Selbstfürsorge: Pflege ich die Beziehungen zu meinen Liebsten? Sehe ich sie oft genug? Wie gehe ich mit aufkommenden Konflikten um?
- Spirituelle Selbstfürsorge: Gebe ich meinen persönlichen Werten genügend Platz in meinem Leben? Fühle ich mich mit den Dingen verbunden, an die ich glaube?
Wie Selbstfürsorge im Alltag umgesetzt werden kann, unterscheidet sich von Mensch zu Mensch. »Wenn wir die momentane Situation anschauen, kann es für manche Menschen hilfreich sein, öfter mal
Nicht immer muss sich Selbstfürsorge dabei direkt angenehm anfühlen. Sie kann auch bedeuten, Dinge zu tun, vor denen wir uns drücken. »Endlich das schwierige Gespräch führen, den Konflikt ansprechen, den Termin bei der Ärztin ausmachen, den Keller aufräumen. Wenn wir so etwas erledigen, hat das einen positiven Einfluss auf unser Selbstwertgefühl und meistens ist es viel, viel weniger schlimm, als uns die ganze Zeit über schlecht zu fühlen, weil wir es vor uns herschieben«, sagt Gräfen.
Wenn du dich jetzt noch fragst, wann du damit anfangen solltest, selbstfürsorglich zu sein, ist die Antwort einfach: Jetzt gleich, nachdem du diesen Text gelesen hast. Und vielleicht sieht deine Antwort auf die Anfangsfrage »Was tust du, wenn du dich um dich selbst kümmerst?« schon ein klein wenig anders aus.
Redaktionelle Bearbeitung: Lara Malberger
Mit Illustrationen von Aelfleda Clackson für Perspective Daily