Fühlst du noch etwas?
Vielen Menschen fällt es gerade schwer, etwas zu empfinden, während andere nicht wissen, wie sie ihrer Frustration begegnen sollen. Ein Blick auf die Erfahrungen von Katastrophenopfern hilft, diese Reaktionen besser zu verstehen.
Aufstehen, Zähneputzen, Tag durchstehen – es hat etwas Roboterhaftes, wie ich meinen Alltag bestreite. Nicht nur mir scheint es so zu gehen, denn egal mit wem ich spreche: das Seufzen ist unüberhörbar. »Es muss halt.« Leuchtende Augen und fesselnde Unterhaltungen über große Pläne sind selten geworden. Wenn ich mit meinen Freund:innen spreche, arbeiten wir stattdessen ab, wer sich in unserem Umfeld mit dem Coronavirus infiziert hat. Die Angst und die Sorgen, die uns vor Monaten noch umgetrieben haben,
Omikron entlockt mir nur noch ein Schulterzucken. Ich tue zwar alles, um meine Familie und mich zu schützen, aber es scheint mir zu mühsam, mir aufs Neue Sorgen zu machen. Stattdessen dümple ich vor mich hin und lasse mich vom Alltag durch die Wochen tragen. Alles fühlt sich irgendwie so »meh« an und es fällt mir schwer, mich für etwas zu begeistern.
Wir dümpeln vor uns hin
Mit meinem Mangel an Emotionen bin ich nicht allein. Schon letzten April diagnostizierte der US-amerikanische Psychologe Adam Grant »Languishing« (deutsch: dahindümpeln, dahinvegetieren) als den dominierenden Gefühlszustand
Er beschreibt es als ein Gefühl des Stillstands und der Leere, das die Angst und die Trauer abgelöst hat, die am Anfang der Pandemie standen.
Der Begriff Languishing wurde durch den Soziologen Corey Keyes geprägt. Ihm war aufgefallen, dass es viele Menschen gibt, die nicht psychisch krank sind, sich aber trotzdem mental nicht gut fühlen. Keyes verstand Languishing als fehlendes psychisches Wohlbefinden: Wer dahindümpelt, empfindet kaum positive Emotionen, ist antriebslos und hat Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Langfristig ist das ein Risikofaktor für psychische Erkrankungen wie
Was anfangs harmlos klingt, kann also schwerwiegende Folgen haben. Deshalb wird es Zeit, dass wir die psychischen Belastungen durch die Pandemie ernster nehmen – statt uns der Illusion hinzugeben, wir alle kämen
So zu tun, als ginge es uns gut, hält uns davon ab, unsere Probleme mit anderen zu teilen und zu erkennen, was wirklich los ist.
Wie kommt es, dass Antriebslosigkeit und emotionale Abgestumpftheit gerade jetzt so verbreitet sind?
Ein Blick auf die Erfahrungen von Menschen, die Naturkatastrophen und Katastrophen wie 9/11 überlebt haben, zeigt, dass diese Ereignisse tief ins Gefühlsleben eingreifen – und das über längere Zeit. Phasen von Angst, Trauer, Hoffnung, Ernüchterung und Apathie wechseln sich ab und begleiten die Betroffenen über Jahre. Sie folgen dabei stets einem ähnlichen Muster.
Dieses Muster hat das amerikanische Gesundheitsministerium zusammen mit Expert:innen aus Hilfsorganisationen im
Auch das, was wir aktuell in der Pandemie erleben, sagt das »Phases of disaster«-Modell überraschend gut vorher. Laut dem Modell durchlaufen die Menschen in den ersten 3 Jahren nach einer Katastrophe die folgenden 4 Phasen:
- Einschlagsphase (Eintreten der Katastrophe): Bei Katastrophen wie Überflutungen oder Terroranschlägen wird diese Phase durch ein einmaliges Ereignis geprägt, das wenige Minuten bis Tage andauern kann. In der Pandemie löst jede neue Welle eine solche Einschlagsphase aus.
Verhalten: Es wird alles getan, um das Überleben zu sichern und die Gefahr zu bannen.
Emotionen: Schock, Fassungslosigkeit, Trauer, Angst, Verwirrung
Die Einschlagphase in der Pandemie: Einführung der Hygieneregeln, Social Distancing, Lockdown - Heldenphase (bis 1 Monat nach der Katastrophe): Nach der Katastrophe geht es darum, wichtige Strukturen wieder aufzubauen und dafür zu sorgen, dass die Betroffenen alles haben, was sie zum Überleben brauchen.
Verhalten: Die Notsituation bringt das Beste im Menschen zum Vorschein. Alle packen an, um die Krise möglichst schnell zu bewältigen.
Emotionen: Trauer und Hoffnung
Die Heldenphase in der Pandemie: Privatpersonen nähen Masken oder gehen für ältere und kranke Menschen einkaufen, Unternehmen stellen ihre Produktion um, um bei der Herstellung medizinischer Masken und Desinfektionsmittel zu helfen. - Flitterwochenphase (1–6 Monate nach Eintreten der Katastrophe): Das Schlimmste ist überwunden. Die Betroffenen lernen mit der Situation zu leben und es kehrt ein neuer Alltag ein. Gemeinsam durch die Krise zu gehen schweißt die Bevölkerung zusammen. Es herrscht ein starker Zusammenhalt.
Verhalten: Hohe Hilfs- und Spendenbereitschaft
Emotionen: Optimismus, Hoffnung, Erleichterung, Erkennen der eigenen Stärke und Widerstandskraft
Die Flitterwochenphase in der Pandemie: Klatschen auf dem Balkon als Dank für Ärzt:innen und Pflegekräfte, Anpassung an das Leben im Lockdown - Ernüchterungsphase (mehrere Monate nach Eintreten der Katastrophe): Die lange Krisenzeit laugt aus. Als klar wird, dass sich an den Einschränkungen vorerst nichts ändern wird, stellt sich Ernüchterung ein. Der Zusammenhalt lässt nach.
Verhalten: Die Betroffenen konzentrieren sich auf sich selbst und versuchen für Sicherheit und Stabilität in der neuen Realität zu sorgen.
Emotionen: Wut, Ärger, tiefe Enttäuschung, emotionale Abgestumpftheit
Die Ernüchterungsphase in der Pandemie: Protest gegen Coronamaßnahmen, abnehmende Geduld mit Andersdenkenden - Ende der Krise:
Nach und nach wird aufgebaut, was zerstört wurde, und die Gemeinschaft erholt sich von der Krise.
Verhalten: Die Überlebenden bauen ihr Leben wieder auf und ersetzen, was zerstört wurde. Dabei wird ihnen erneut bewusst, was sie verloren haben. Sie erkennen aber auch, wie sehr sie an der Krise gewachsen sind.
Emotionen: Trauer, Erschöpfung, Finden von Sinn, Neubewertung der eigenen Prioritäten
Nach dem »Phases of disaster«-Modell stecken wir also in der
Soll das jetzt immer so weitergehen?
Die emotionale Abgestumpftheit und Antriebslosigkeit, die ich bei mir und anderen beobachte, sind also eine normale Reaktion auf die Notsituation, in der wir uns befinden. Ich gebe zu, dass ich mich nach dieser Erkenntnis schon etwas besser fühle. Trotzdem frage ich mich, wie lange das noch so weitergehen kann. Denn wir haben noch immer keine Gewissheit, wann sich die Lage endgültig verbessert – auch wenn es in letzter Zeit vermehrt
Die gute Nachricht: In diesem Krisenmarathon gibt es Verschnaufpausen, wir müssen sie nur erkennen. Die Psychotherapeutin Angela Stowe und ihre Kolleginnen haben die Emotionen US-amerikanischer Studierender in den Jahren 2020 und 2021 mit dem »Phases of disaster«-Modell verglichen und festgestellt, dass es in der Coronapandemie eine neue
Die Wissenschaftler:innen vergleichen die Pandemie mit der Erfahrung, ins Meer geworfen zu werden, und um nicht unterzugehen, müssen wir ständig in Bewegung bleiben. Wir sind den Wellen und der Witterung ausgeliefert und Land ist keines in Sicht. Manchmal treffen wir aber auf eine Sandbank. Dann sind wir zwar immer noch im Wasser, haben aber festen Boden unter den Füßen und können uns etwas erholen. So eine Sandbank gab es etwa im letzten Sommer: Die Infektionszahlen waren niedrig und dank Masken und Schnelltests war die Situation unter Kontrolle. Zum ersten Mal seit Monaten lohnte es sich wieder, gemeinsame Unternehmungen zu planen, und auch Urlaubsreisen und Feste waren wieder möglich. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass auch der kommende Sommer entspannter wird.
Weil es bis dahin trotz all des Optimismus noch eine Weile dauert, habe ich mir eine Sandbankliste angelegt: Hier notiere ich Dinge, auf die ich mich dann besonders freue, wie zum Beispiel ein entspannter Stadtbummel oder das Wiedersehen mit Freund:innen. Die Liste bringt mich zum Träumen und ist gleichzeitig so realistisch, dass sie mir die Vorfreude beschert, die ich gerade so dringend benötige.
Was hilft gegen die Pandemie-Apathie?
Sommerträume sind aber nicht der einzige Weg, wieder mehr Freude zu empfinden. Diese 3 einfachen Schritte können helfen, der Teilnahmslosigkeit zu entkommen.
- Das Dümpeln erkennen: Das Problem mit der Apathie ist, dass uns alles egal ist – auch dass uns alles egal ist. Wenn uns Freude und Motivation langsam verloren gegangen sind, ist das anfangs gar nicht leicht zu bemerken. Der erste und wichtigste Schritt ist deshalb, zu erkennen, dass wir gerade ziel- und antriebslos vor uns hindümpeln. Wenn wir Klarheit über den diffusen Gemütszustand haben, der uns wie ein Nebel umgibt, können wir auch wieder herausfinden.
- Darüber sprechen: Wie wäre es, wenn wir, statt aufzuzählen, wer in unserem Umfeld gerade Corona hat, mal darüber sprechen, wie es uns damit geht? Das kostet wahrscheinlich etwas Überwindung, schafft aber
- Flow-Momente schaffen: Der schnellste Weg aus der Apathie ist, Erfahrungen zu schaffen, in denen wir ganz aufgehen. Solche
Das muss nichts Großes sein: Wer nicht viel Zeit hat, kann sich für den Anfang täglich 15 Minuten nehmen, um abzutauchen. Das kann beim Musikhören, Spielen, Puzzeln, Rätsellösen oder Lesen gelingen, aber auch bei einem guten Gespräch. Wer etwas mehr Zeit hat, kann ein altes Hobby aufleben lassen, das früher Freude brachte, eine neue Sportart ausprobieren oder sich mit einem Kreativprojekt herausfordern.
Wie du dich jetzt davor schützen kannst, in eine psychische Krise zu geraten, kannst du noch einmal in diesem Text von Lara Malberger und Stefan Boes nachlesen:
Wenn du psychologische Hilfe, Beratung oder Unterstützung suchst, findest du hier einige Adressen, an die du dich wenden kannst:
- Befindest du dich in einem Notfall, hast du beispielsweise Suizidgedanken? Dann zögere nicht und wähle den Notruf (112) oder wende dich an das Krisentelefon (0800-1110111 und 0800-1110222). Ein muslimisches Seelsorgetelefon ist rund um die Uhr unter 030-443509821 erreichbar.
- Psychotherapeutische Praxen beraten und behandeln auch während der Coronapandemie. Um einen ersten Termin zu bekommen, können sich Patient:innen direkt an eine Praxis in ihrem Umkreis wenden. Außerdem hilft die bundesweite Hotline 116 117 dabei, einen freien Termin zu finden. Auch der elektronische Terminservice kann weiterhelfen.
- Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg und Thüringen bieten während der Coronapandemie spezielle Krisenhotlines per Telefon oder Video an. Die Bundespsychotherapeutenkammer hat hier eine Übersicht mit Angeboten in den verschiedenen Bundesländern zusammengefasst.
- Selbsthilfekontaktstellen können Hilfe bieten und Menschen mit ähnlichen Problemen zusammenbringen, auch wenn Gruppentreffen derzeit nur schwer möglich sind. Eine Selbsthilfegruppe in deiner Nähe findest du zum Beispiel hier: www.nakos.de
- Die »Nummer gegen Kummer« hilft Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in psychischen Krisen.
Kinder- und Jugendtelefon: 0800-116111, Elterntelefon: 0800-1110550
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