Hören »Die da in Berlin« uns eigentlich zu?
Ja, tun sie. Jeder Abgeordnete bietet Bürgersprechstunden an – laut unserer Umfrage 6 1/2 Stunden pro Monat. Mit den richtigen Argumenten hast du dort ganz schön viel zu sagen.
Man muss in den Kommentarspalten des Internets nicht lange suchen, bevor man
Immerhin 31% der Deutschen stimmten laut einer repräsentativen

Sind »die in Berlin« tatsächlich so volksfern, wie diese Zahlen nahelegen? Das kann jeder Bürger selbst herausfinden, indem er den Abgeordneten seines Wahlkreises besucht. In der Bürgersprechstunde, die jeder Parlamentarier anbietet, besteht zumindest die Möglichkeit, seinem Anliegen Gehör zu verschaffen.
Sprechzeiten: 6 1/2 Stunden. Nachfrage: groß
Der durchschnittliche Bundestagsabgeordnete wendet pro Arbeitstag mehr als 1 Stunde für die etwa
Im Schnitt investieren die Abgeordneten nach eigenen Angaben rund 6 1/2 Stunden im Monat in »klassische« Sprechstunden, bei denen Bürger und Parlamentarier sich in einem Raum gegenübersitzen. 3 Mal so lange telefonieren sie mit Bürgern oder beantworten deren

Diese Erkenntnisse stammen aus einer
Zweifellos lässt sich festhalten: Die Abgeordneten registrieren großen Gesprächsbedarf aus der Bevölkerung. Jeder Vierte vermeldete eine sehr hohe Nachfrage – auf einer Skala von 1 bis 5, wobei 1 bedeutet, dass das Gesprächsangebot kaum genutzt werde, und 5, dass es sehr häufig genutzt werde, lag der Durchschnitt bei 3,9 (Grafik). Gut jeder zweite Abgeordnete gab an, die Nachfrage der Bürger habe zuletzt weiter zugenommen. Abgenommen habe das Interesse nur bei 7% der Parlamentarier.

Integration, Straßen und viel Persönliches
Die hohe Nachfrage vieler Bürger, mit ihren Abgeordneten ins Gespräch zu kommen, passt zum Gesamteindruck: Deutschland ist nach der
Einige Gespräche drehen sich um regionale und lokale Angelegenheiten wie ÖPNV, Umgehungsstraßen oder örtliche Bauvorhaben. Ein Parlamentarier aus Niedersachsen nennt VW, ein anderer aus Schleswig-Holstein den Nord-Ostsee-Kanal als wiederkehrendes Thema.
Besonders häufig – ein Abgeordneter aus Franken beziffert den Anteil auf 60% – sind jedoch Anliegen nicht staatlicher oder regionaler, sondern persönlicher Natur: Fragen zur Arbeitslosigkeit, sozialen Sicherheit, Mietpreis-Entwicklung oder zur schon erwähnten Rente tauchen immer wieder auf.
Neuer Weg: Bürgersprechstunde per Facebook
Heils Wahlkreis umfasst die beiden niedersächsischen Landkreise Peine und Gifhorn; in beiden Städten betreibt er Büros mit insgesamt 4 Mitarbeitern. 1–2 Mal im Monat lädt er zu mindestens halbstündigen Sprechstunden ein.
Seit Januar testet der 45-Jährige noch ein weiteres Format, »weil sich nicht alle immer in ein Büro bemühen wollen«: Er bietet 1 Mal im Monat eine digitale Bürgersprechstunde über den Echtzeit-Videostream bei Facebook an. Die
An den Fragen lasse sich erkennen, dass viele Zuschauer einen Bezug zum Wahlkreis haben: »Wann kommt endlich die Ortsumgehung? Warum ist das Tierheim so furchtbar? Was wird aus der Innenstadt?« Es gehe aber auch schon mal um Martin Schulz oder Donald Trump oder um die etwas trivialere Frage: »Wer wird Dschungelkönig?«
Heil fallen spontan 2–3 weitere Parlamentskollegen ein, die ebenfalls Facebook Live benutzen. Ein öffentlicher Livestream ist jedoch eher eine Ergänzung als ein Ersatz für die klassische Bürgersprechstunde, in der auch persönlichere Anliegen aufkommen. Hubertus Heil benennt einen entscheidenden Vorteil: »Man kann sie von überall machen, egal, ob in Berlin oder Peine oder von unterwegs. Es ist nur wichtig, dass man eine stabile Internetverbindung hat.«
Sprechstunde mit Reichsbürgern
Ein Video bei Facebook anklicken ist das eine – einen Termin vereinbaren und zum Abgeordnetenbüro fahren, verlangt den Bürgern mehr Eigeninitiative ab. Erreicht man mit Bürgersprechstunden auch eher politikferne Menschen? Also die »Die in Berlin hören uns nicht zu«-Sager?
Ich mache mir nichts vor: Die Mehrheit der Menschen würde, wenn sie ein Problem haben, nicht sofort in ein Abgeordnetenbüro gehen. Trotzdem bin ich froh, dass sehr unterschiedliche Menschen zu uns kommen; dass das nicht nur eine informierte Bildungsschicht ist, sondern dass die Fälle hier so bunt sind, wie man sich die Lebenslagen so vorstellen mag im Leben.
Manchmal, sagt Heil, kämen recht schwierige Menschen – »da muss man aufpassen, dass man Leute nicht abstempelt, weil sie ein bisschen ungelenk auftreten.« In seltenen Fällen kämen Menschen mit Verschwörungstheorien im Gepäck. In den vergangenen Jahren, schätzt Hubertus Heil, waren auch 4–5
Für Abgeordnete gilt, egal, ob sie Befürworter der Ortsumgehung sind oder einen Reichsbürger vor sich sitzen haben: Sie müssen einzelne Anliegen mit dem Gemeinwohl abwägen. »Es ist ja nicht so, dass wir im Bundestag Weisungsgebundene von Plebisziten, also Volksabstimmungen, sind, sondern wir haben in einer repräsentativen Demokratie ein Mandat«, sagt Hubertus Heil. Abgeordnete nehmen zwar Anregungen aus ihrem Wahlkreis auf, wurden letztendlich aber gewählt, damit sie mit Haltung und Verantwortungsbewusstsein frei abstimmen. »Man soll als Abgeordneter nicht so tun, als könne man alles vertreten, das geht nicht.«

Der Abgeordnete als »Transmissionsriemen«
Dazu kommt noch, dass einige Themen so speziell sind, dass kein einzelner Abgeordneter alle von ihnen durchdringen kann. Niemand ist gleichzeitig Fachmann für die Erbschaftsteuer, EU-Saatgut-Verordnungen und Fluglizenzen für private Drohnen – aber alle 3 Themen wurden in dieser Legislaturperiode im Bundestag debattiert. Hubertus Heil sagt: »Da ist man als Abgeordneter, der nicht in allen Fällen tief drin sein kann, im Wesentlichen so etwas wie ein
Diesen Effekt nutzen Aktionsbündnisse wie zum Beispiel
In der Regel ist es bei solchen Massenbriefen so, dass man auch nur mit Standardmails antworten kann, weil man erspürt, dass es kein individuelles Anliegen ist, sondern eine Kampagne. Das ist legitim – nicht nur legal, sondern auch legitim – um deutlich zu machen, dass hinter einem Anliegen sehr viele Menschen stecken.
Kann der Kontakt zu Abgeordneten eine politische Wende herbeiführen? Ja, das geht. Wie effektiv eine engagierte Kampagne sein kann, hat sich 2009 gezeigt.
Wie die Paintballer ihren Sport retteten
Am 11. März 2009 betrat ein schwerbewaffneter 17-Jähriger die Albertville-Realschule im schwäbischen Winnenden. Er tötete 15 Menschen und danach sich selbst. Deutschland fragte sich, warum und wie so etwas geschehen konnte. Da auf dem Rechner des Amokläufers
Die schwarz-rote Bundesregierung formulierte rasch ein Verbot von Paintball. »Wir waren ziemlich überrascht, dass jemand auf die Idee gekommen ist, da eine Verknüpfung zu ziehen«, sagt der Geschäftsführer der Deutschen Paintball Liga, Arne Petry, heute. »Der Amokläufer von Winnenden hat nie Paintball gespielt, das hätte er eh erst mit 18 gedurft.«
Petry, selbst studierter Medienmanager, leitet unter anderem eine Firma, mit der er Marketing für verschiedene Paintball-Felder betreibt. Heute beschäftigt Arne Petry etwa 45 Menschen – in der gesamten Branche bedrohe ein Verbot nach seinen Angaben mehrere hundert Jobs. Als die Nachricht vom Gesetzentwurf die Runde machte,

Petry und viele weitere Mitstreiter aus der
Über ein Forum hielten sich die Paintballer gegenseitig auf dem Laufenden. Die oft geäußerte Erkenntnis: Im persönlichen Gespräch in der Bürgersprechstunde kommt die Nachricht am besten an. Häufig werde erst auf diese Weise klar, zitiert ein saarländischer Paintballer im
Eine Abgeordnete, die sein Paintball-Feld besuchte, habe sich nach wenigen Minuten für ihr martialisches Bild der Sportart geschämt, sagt Petry: »Viele Politiker haben vor Ort ihre Vorurteile abgebaut, als sie uns gesehen haben. Bei uns trainieren Bundesliga-Mannschaften, die Damenmannschaft hat sich gerade auf die EM vorbereitet, auf dem Platz sind manchmal Junggesellenabschiede in Hasenkostümen. Und wir brauchen als Betreiber selbst eine Waffenhandels-Lizenz von der IHK.« In anderen Ländern sei Paintball wesentlich schwächer reguliert – in Belgien genüge selbst für 12-Jährige eine kurze Einweisung.
Die Kampagne zeigte Wirkung: Die Öffentlichkeit stand Paintball im Laufe der Zeit zunehmend

Abgeordnete treffen heißt Demokratie leben
Das gekippte Paintball-Verbot zeigt, wie viel es bringen kann, auf seine Abgeordneten zuzugehen. Natürlich braucht es viel Koordination und Ausdauer, um ein ganzes Gesetz zu stoppen – es ist aber nicht unmöglich.
Es gibt effizientere Orte als Kommentarspalten, um die politische Sichtweise anzubringen. Und in einer repräsentativen Demokratie gibt es für politisch Interessierte sicher mehr Möglichkeiten, als nur alle 4 Jahre ein Kreuzchen zu machen. Bei einer Demonstration mitzumachen, sendet ein quantitatives Zeichen – die größten Anliegen in die Bürgersprechstunde mitzunehmen, ein qualitatives. Beide Formen der politischen Willensäußerung sind wichtig. Aus demselben Grund, aus dem man auch einen Fahrraddiebstahl, der eh nicht aufgeklärt wird, zur Anzeige bringen soll: Erst wenn man seine Meinung an der geeigneten Stelle ausspricht, fließt sie ins »System« ein und wird nicht zu einer Dunkelziffer.
Die Bürgersprechstunde ist für Themen verschiedener Größenordnung der richtige Ort – hier treffen Volk und Vertreter persönlich aufeinander und können Anliegen in Ruhe besprechen. Und tendenziell kann jedes konstruktiv geführte Gespräch in die Beurteilung vor einer Abstimmung im Bundestag einfließen.
Jeder Abgeordnete setzt sich 1 Stunde am Tag mit den Belangen der Menschen in seinem Wahlkreis auseinander. Egal, ob du das für ausreichend oder für zu wenig hältst: Du kannst einen Teil dieser Zeit in Anspruch nehmen und mit dem Thema füllen, das du wichtig findest. Das bringt in jedem Fall mehr, als über »die da in Berlin« zu schimpfen.
Mit Illustrationen von Michael Szyszka für Perspective Daily