»Kommt die Leere, dann lass dich in sie hineinfallen«
Anastasia Umrik hat in ihrem Leben viele Rückschläge erlebt. Heute hilft sie anderen Menschen dabei, schwere Zeiten hinter sich zu lassen und neu anzufangen. Stimmt es wirklich, dass Krisen eine Chance sind, alles besser zu machen?
Anastasia Umrik war 29 Jahre alt, als sich alles in ihrem Leben veränderte. Beim Abendessen verschluckte sie sich an einem Fischstäbchen, die Panade gelangte in ihre Luftröhre, sie drohte zu ersticken. Was das Ende hätte bedeuten können, war ein neuer Anfang. Sie machte eine und ist seitdem nicht mehr der gleiche Mensch. Das von ihr gegründete Mode- und Designlabel schmiss sie hin, sie beendete das Fotoprojekt , bei dem sie Bilder von Frauen mit Muskelerkrankung zeigte. Es war Zeit für etwas Neues.
Heute arbeitet Anastasia Umrik als Coachin und zeigt Menschen Wege aus der Krise und hinein in neue Anfänge. Mit der Bewältigung von Krisen kennt sich die 34-Jährige aus. Als Kind wanderte sie mit ihrer Familie aus Kasachstan aus. Ihre Eltern erhofften sich in Deutschland bessere Möglichkeiten für ihre behinderte Tochter. Hier diagnostizierten Ärzt:innen bei ihr eine Muskelerkrankung. Sie nutzt einen Rollstuhl und lebt inzwischen selbstständig mit persönlicher Assistenz – ein Lebensweg, den ihre Lehrkräfte an der Förderschule ihr nie zugetraut hatten.
Was können wir aus Krisen lernen? Wie gehen wir besser damit um? Wie kann ein Neubeginn gelingen? Über diese Fragen hat unsere Autorin Andrea Schöne mit Anastasia Umrik gesprochen. Andrea Schöne ist freie Journalistin, Rednerin und gibt Workshops zu den Themen Sprache, Behinderung und Barrierefreiheit. Im Gespräch berichtet sie auch über ihre eigenen Erfahrungen mit Krisen und Neuanfängen.
»Eine Krise ist ein Kompliment des Lebens«
Andrea Schöne:
Ich habe vor nicht allzu langer Zeit selbst erfahren müssen, wie es ist, in eine Krise zu geraten und vor einem Neuanfang zu stehen. An Silvester habe ich wieder daran gedacht, wie ich mir genau 2 Jahre zuvor in schillernden Farben ausmalte, wie gut mein Jahr 2020 werden würde. Ich hatte gerade ein Masterstudium in Bologna angefangen – mein Herzenswunsch, nachdem ich bereits einige Jahre zuvor ein Jahr als Studentin in Italien verbracht hatte. Doch statt die Zeit genießen zu können, saß ich 3 Monate im italienischen Lockdown in Todesangst fest. Danach musste ich nach Deutschland, da ich aufgrund meiner Körperbehinderung ein höheres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf habe. Es war zu riskant, allein in Italien zu bleiben. Aus war der Traum vom Leben in Italien. Ich schlitterte in eine Krise. Was genau passiert in so einer Phase?
Anastasia Umrik:
Für mich ist die Krise der Moment, wenn die Zeichen des Wandels nicht ernst genommen werden. Dieses Gefühl von: Es geht weder vor noch zurück. Dann muss etwas zusammenfallen, damit der Neubeginn kommen kann. Trotzdem ermutige ich dazu, die Krise nicht als Drama zu sehen, sondern eher als eine Möglichkeit zu wachsen. Die Krise als ein Kompliment des Lebens anzuerkennen: Wow, scheinbar bin ich so gut und so groß geworden, dass ich jetzt next level gehe.
Für Außenstehende sind solche Entwicklungen oft schwer nachzuvollziehen. So habe ich es zumindest erlebt. Mit Anfang 20 habe ich 2 Erasmussemester in Forlì in Norditalien gemacht. Ich hätte nie gedacht, welchen Einfluss das auf mein weiteres Leben haben würde. Das zweite Semester hatte ich erst nur aus Liebeskummer angehängt, um mich davon abzulenken. Dann habe ich dort ein ganz neues Leben gefunden. Nach meiner Rückkehr war ich nicht mehr dieselbe Person. Ich fühlte mich so unabhängig und selbstständig wie nie zuvor, reiste quer durch das ganze Land und gewann eine neue Einstellung zu meiner Behinderung. Mein Umfeld hat meinen persönlichen Wachstumsschub nicht verstanden. Schon war ich in der nächsten Krise.
Anastasia Umrik:
In dem Moment hast du vielleicht aus der Unerfahrenheit heraus die Verantwortung für dein Gefühl abgegeben. Im Sinne von: Ihr müsst doch erkennen, was ich alles kann und wie groß, toll oder kompetent ich bin. Aber die anderen können es manchmal nicht sehen, weil sie selbst voller Angst sind. Deshalb ist es mein Wunsch zu sagen: Ich übernehme Verantwortung für mein Leben.
Phasen des Übergangs sind keine verlorene Zeit
Krisen sind häufig Übergangszeiten, die in etwas Neues führen. Welche Funktion kommt diesen Übergängen zu, in denen man vielleicht auch mal strauchelt, sich ausprobiert und nicht direkt den richtigen Weg findet?
Anastasia Umrik:
Wenn man in einer Phase des Nichtwissens steckt, empfindet man das häufig als verlorene Zeit, denkt sich: Alles geht so langsam voran, ich komme überhaupt nicht weiter. Blicke ich heute auf diese Zeiten zurück, waren das die Momente, wo das Allerbeste aus mir hervorgeholt wurde. Es ist dieser Moment, wo du einfach bist, weil du nicht weißt, was du machen sollst.
Mir ging es so schlecht, ich wusste überhaupt nicht: Wer bin ich? Was soll ich tun? Ich habe viel aus dem Fenster geguckt oder war spazieren – noch bevor die Pandemie anfing. Ich habe mir Zeit genommen oder sie wurde mir aufgezwungen, um mich mit mir selbst auseinanderzusetzen.
Welche Erkenntnis hast du in dieser Zeit gewonnen?
Anastasia Umrik:
Meine Haupterkenntnis war: Sich nicht von der Leere in sich selbst abzulenken, beispielsweise durch exzessives Feiern oder Netflix rauf- und runtergucken. Kommt die Leere, dann lass dich in sie hineinfallen. Erst dann kannst du wieder aufstehen. Ich spreche aus Erfahrung. In meinen Zwanzigern war ich beispielsweise viel feiern, weil ich es nicht ertragen habe, allein zu sein.
Beim exzessiven Netflixschauen erkenne ich mich während der letzten beiden Pandemiejahre wieder. In der ersten Welle 2020, im ersten Lockdown, habe ich mir in meinem kleinen WG-Zimmer in Italien Netflix zugelegt.
Anastasia Umrik:
Ist es ausgewogen, dann ist doch alles in Ordnung. Ich kenne aber viele Menschen, die, wenn die Traurigkeit kommt, sofort eine Weinflasche aufmachen oder tindern. Auch auf Twitter sehe ich das bei all den wütenden Kommentaren. Würden sich alle überlegen: »Warum poste ich das gerade wirklich?«, würden da ganz andere Ergebnisse herauskommen, als dass alle nur sauer auf die Politik sind. Dahinter stecken oft völlig andere Dinge. Es ist vielmehr eine Projektion der unverarbeiteten Emotionen, ein Ausdruck der Ohnmacht. Würde man die eigentlichen Probleme am Schopf packen, wäre das Interesse, Hatespeech zu verbreiten, geringer.
Nach meinen beiden Auslandssemestern nutzte ich Twitter auch sehr oft als Ablassventil für meine Diskriminierungserfahrungen. Ich hatte in dieser Zeit das Gefühl von Leichtigkeit verloren. Mein Studium bestand fast 2 Jahre lang nur aus Onlinevorlesungen. Das hätte ich an einer deutschen Universität auch haben können. Viele Freundschaften, die ich zu Beginn der Pandemie geschlossen hatte, gingen auseinander. Ich fragte mich: Soll ich mein Auslandsstudium abbrechen – und wohin sollte ich dann zurückkehren? Welche Erfahrungen mit dem Loslassen hast du gemacht?
Anastasia Umrik:
Ich hatte viele Loslass-Momente und bin noch lange nicht damit fertig. Die schlimmsten Zeiten des Schlussmachens waren, meine Initiativen »AnderStark« und »inkluWAS« loszulassen. 8 Jahre habe ich an beiden Projekten gearbeitet, ohne freie Sonntage. Dann habe ich gemerkt: Es ist nicht mehr meins, ich kann mich nicht mehr damit identifizieren. Das war intensiver als jede zwischenmenschliche Beziehung. Das loszulassen war hart. Dieser Übergang liest sich in meinem Buch in wenigen Minuten, gedauert hat der Prozess des Loslassens insgesamt aber mehrere Jahre. Als ich die Entscheidung getroffen und dazu einen langen Blogpost geschrieben hatte, . Ich hatte die Entscheidung getroffen und war bereit, die Konsequenzen zu tragen.
»Ich muss der erste Mensch in meinem Leben sein, der mich bedingungslos annimmt«
Anastasia Umrik:
Das ist nicht wie ein Datum im Kalender, das wir rot markieren können. Ohne dass wir es merken, befinden wir uns auf einmal in diesem Neubeginn. Manchmal geht man mit einem Fuß in das Neue rein und weil man sich dann nicht auskennt, geht man noch einmal verängstigt zurück. Das passiert ganz, ganz vielen Menschen. Und dann machen sie noch eine weitere Schleife. Ein Neubeginn ist immer langsam. Es ist wichtig, sich selbst Zeit zu lassen und sich an das Neue zu gewöhnen.
Werden Neuanfänge leichter, je häufiger wir sie wagen?
Anastasia Umrik:
Ich glaube, leichter wird es nicht. Aber man ist sich bewusster über den möglichen Verlauf. Trotzdem wird er nicht leichter, weil wir ja älter werden. Dann fordern wir uns mehr heraus. Die Geschwindigkeit, mit der wir Neuanfänge starten, wird höher. Ebenso treffen wir schneller Entscheidungen, wenn etwas nicht so läuft, wie wir uns das vorgestellt haben.
Wie erkenne ich, ob ich ?
Anastasia Umrik:
Die eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen ist wichtig. Ich bin nicht glücklich – dieses Gefühl muss an allererster Stelle stehen, statt sich selbst nicht ernst zu nehmen oder das Gefühl kleinzureden. Sondern einfach wirklich zu merken: Der Kontakt mit einer bestimmten Person tut mir nicht gut. Der Job dient mir nicht mehr. Ich will das so nicht mehr. Sich selbst an erste Stelle zu stellen, ohne dabei egoistisch zu sein, das ist die Königsdisziplin. Bin ich glücklich und geht es mir richtig gut, dann kann ich dich und alle anderen um mich herum in mein Licht ziehen. Es ist nicht immer nur eine Entscheidung für die Leichtigkeit. Das meine ich damit gar nicht, sondern vielmehr eine Entscheidung für sich selbst: der allererste Mensch im eigenen Leben zu sein, der einen bedingungslos annimmt und ernst nimmt.
Andrea Schöne hat als freie Journalistin schon für bento, ze.tt und jetzt.de geschrieben. Sie gibt Workshops über die Darstellung von Behinderung und inklusive Schule aus der Perspektive von behinderten Menschen und ist Teil des Teams von Sensitivity Reading Deutschland. Derzeit studiert Andrea im Masterprogramm Global Cultures der Universität Bologna.