Erste Hilfe für psychische Gesundheit?! Das habe ich in einem Kurs dazu gelernt
Wer mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus landet, erntet Verständnis und bekommt Blumen ans Bett gebracht. Bei psychischen Krankheiten sind wir hingegen oft hilflos und wissen nicht, wie wir reagieren sollen. In einem Erste-Hilfe-Kurs habe ich gelernt, wie es künftig besser geht.
Es ist Sommer 2015 und ich bin nach meinem Abitur in bester Aufbruchsstimmung. Ich merke kaum, wie sich bei einem guten Freund eine psychische Krankheit anbahnt. Im Herbst erreicht mich ein Anruf von
Kurze Zeit später besuche ich Konrad in der psychiatrischen Abteilung des Uniklinikums. Es folgt ein seltsames Gespräch unter grauem Himmel, im ummauerten Park der Klinik. Meinen guten Freund, der mit kräftiger Statur immer unverwüstlich wirkte und der immer lebensfroh war, erkenne ich nicht wieder. Wir unterhalten uns vielleicht eine halbe Stunde. Er spricht langsam, überlegt länger als gewöhnlich und wirkt unglaublich niedergedrückt.
Konrad erzählt mir, dass er selbst nicht wirklich weiß, was er hat. Ich sage wenig. Später erfahre ich, dass bei ihm eine
Denn obwohl psychische Krankheiten alltäglich sind, wird in unserer Gesellschaft zu wenig darüber gesprochen. Aus dem Schweigen entstehen Vorurteile und das Gefühl von Ohnmacht, das auch ich spürte. Kurz: Ich fühlte mich damals meinem Wunsch, Konrad zu helfen, nicht gewachsen.
Ein professioneller Leitfaden, wie ihn das
Das Kurskonzept wurde von der australischen Krankenschwester Betty Kitchener und ihrem Ehemann Anthony Jorm, einem Psychologen, bereits Ende der
Weil in mir das Gefühl schwelt, dass ich damals »mehr« hätte machen können, melde ich mich für einen MHFA-Kurs an. Ich will Menschen in meinem Umfeld in Zukunft besser helfen, wenn sie psychisch erkranken.
Der Auftakt: Was macht MHFA aus und was ist die Motivation der Teilnehmer:innen?
Andrei Vasilescu, ein junger Psychiater mit rechteckiger Brille und einem runden freundlichen Gesicht, begrüßt uns kurz und fragt, ob es für alle in Ordnung ist, wenn wir uns »duzen«. Alle 17 Gesichter, die in kleinen Kästchen auf meinem Bildschirm angezeigt werden, nicken nach und nach. Mehr als die Hälfte der Teilnehmenden sind Frauen. Ich bin aufgeregt und ertappe mich dabei, wie ich versuche, die anderen Kursteilnehmer:innen anhand ihrer Gesichtszüge und Zimmer im Hintergrund einzuschätzen. Was motiviert sie dazu, sich in den nächsten 6 Wochen mit psychischen Krankheiten zu befassen?
Die meisten Kursteilnehmer:innen kommen aufgrund ihrer Arbeit. Da ist Luis, der in der Studierendenberatung einer Universität arbeitet, oder Hanna, die in einem Unternehmen Personalerin ist und herausfinden möchte, ob MHFA-Kurse im Gesundheitsmanagement etabliert werden können. Einige wenige Teilnehmer:innen geben an, dass sie aus privatem Interesse teilnehmen, so wie Silke. Silke ist Mitte 40, hat zwei Kinder, arbeitete lange als Steuerfachangestellte und litt selbst mehrere Jahre unter depressiven Episoden. Nun möchte sie sich als
Nach der kurzen Vorstellungsrunde und einer
Psychisches Gesundheitsproblem ist die Bezeichnung des Mental-Health-First-Aid-Ansatzes für das, worüber wir reden. Denn nicht jedes Problem ist bereits »krankhaft«, und im Idealfall soll und kann durch Erste Hilfe eine psychische Krankheit sogar verhindert werden. Dazu könnten Ersthelfer:innen viel beitragen, indem sie Wesensveränderungen von betroffenen Personen in ihrem Umfeld frühzeitig wahrnehmen und über längere Zeit beobachten. Denn genau diese gingen nämlich mit sich anbahnenden psychischen Krankheiten einher, lerne ich.
»Meine Überzeugung als Psychiater ist, dass Frühinterventionen psychische Gesundheitsprobleme dramatisch verbessern können«, sagt Kursleiter Vasilescu. MHFA könne so die Lücke der fehlenden
Ich denke an meinen Freund Konrad und wie schnell sein Krankheitsverlauf war. Damals war ich skeptisch gegenüber dem Behandlungsansatz und dachte, dass es ihm vor allem durch die Medikamente schlecht ging. Heute weiß ich es besser und bin froh, dass seine Mutter ihn bei seinen ersten Wahnvorstellungen in die Klinik brachte. Gesamtgesellschaftlich betrachtet sieht das leider anders aus. Befragungen des Robert Koch-Instituts (RKI) haben ergeben, dass lediglich rund 35% der Personen mit einer diagnostizierten Depression in
Schamgefühle, Ängste und fehlendes Wissen, an wen sie sich wenden können, haben jedoch schwerwiegende Folgen. Das ist auch das Hauptthema der ersten Sitzung. »Was im Kopf verloren ist, bleibt meist verloren«, sagt Vasilescu. Wer sich gedanklich gegen Hilfe sperrt, erschwert nur die letztliche Behandlung. Das den Menschen vorsichtig näherzubringen, kann eine Aufgabe von Ersthelfer:innen sein. Denn oftmals dauert es Jahre, bis Betroffene die notwendige Unterstützung erhalten. Wenn nicht bereits im ersten Jahr Therapie- und Hilfsangebote wahrgenommen werden, dauert es für die Hälfte der Betroffenen mindestens 7 Jahre bis zu ihrer ersten
Dabei ist die Chance auf vollständige Gesundung bei einer frühzeitigen Behandlung wesentlich höher. Warum gibt es aber so viele Menschen, die sich nicht behandeln lassen möchten oder Vorurteile gegenüber psychischen Krankheiten haben? Es sind unter anderem Tabus und Stereotype – und die dekonstruieren wir von der ersten bis zur letzten Sitzung.
Wie denken wir über psychische Krankheiten und warum?
»Was kennt ihr für Stereotype und Beschreibungen über Menschen mit psychischen Störungen?«, fragt Vasilescu mit einem ermutigenden Lächeln in die Runde. Auf dem digitalen Whiteboard taucht als Erstes der Begriff »Psycho« auf, ich ergänze »verrückt« und es folgen »gestört«, »spinnt«, »stellt sich an« oder »übertreibt«. »Diese Begriffe sagen weder etwas über den psychischen Gesundheitszustand der Person aus noch über die Krankheit und sie suggerieren häufig, dass die betroffene Person die Möglichkeit hätte, anders zu sein«, fasst Vasilescu zusammen.
Im Verlauf der kommenden Sitzungen blendet der Kursleiter immer wieder Folien mit pauschalen Aussagen über das jeweilige Krankheitsbild ein. Dabei lerne ich viel Neues:
- Suizid ansprechen ist ungefährlich: Die Frage nach Suizidgedanken bringt eine Person nicht erst auf die Idee, wenn sie nicht schon selbst solche Gedanken hatte.
- Auch beiläufige Bemerkungen und Scherze über Suizid sind ernst: Zumindest sollten sie ernst genommen werden. Denn oft drücken sich Gefährdete so in ihrem Umfeld aus und versuchen, aus ihrer Not zu kommunizieren.
Ich bekomme bestätigt, was ich bereits ahnte: dass viele psychische Krankheiten in Wirklichkeit ganz anders sind, als viele Menschen glauben. Die meisten Fehlannahmen entstehen durch fehlende Kommunikation und Tabuisierung – und falsche Darstellung in den Medien.
Psychische Krankheiten werden zu oft gar nicht als solche wahrgenommen. Vasilescu stimmt zu und schildert ein prägnantes Detail: »Ich sehe selten, dass meine Patient:innen von Freund:innen oder ihrer Familie Blumen bekommen, anders als das häufig bei sonstigen Klinikaufenthalten gemacht wird. Sowas kommt einfach deutlich zu selten in der Psychiatrie vor.«
Auch ich erinnere mich, dass ich Konrad Blumen in die Klinik brachte, als er einmal einen gebrochenen Arm hatte, aber in der Psychiatrie nicht auf die Idee kam. Liegt darin etwa unser Vorurteil versteckt, dass es sich bei psychischen Krankheiten gar nicht um »echte« Krankheiten handle? Ich lerne im Kurs viel über meine eigenen Vorurteile und verqueren Annahmen.
Der Kern: Ein Leitfaden für Erste Hilfe bei psychischen Gesundheitsproblemen
Ein professioneller Leitfaden für Erste Hilfe bildet den strukturellen Rahmen des Kurses. Nachdem wir in jeder Sitzung grundlegende Informationen zu einem
Die Details zu den einzelnen psychischen Krankheiten gehen an dieser Stelle zu weit, denn ein Artikel kann einen ganzen Kurs und intensives Lernen über Wochen kaum ersetzen. Ein paar grundlegende Anweisungen gibt es aber für alle Krankheitsbilder und diese sind leicht vermittelt:
Ersthelfer:innen sollten:
- Vertrauen aufbauen,
- Besorgnis äußern und das Gespräch suchen,
- professionelle Hilfe vermitteln
- und gegebenenfalls im Alltag unterstützen sowie gemeinsame Aktivitäten vorschlagen.
Besonders letzterer Punkt bleibt mir nachhaltig im Kopf. Denn in Konrads Fall wusste ich nicht, wie ich mit ihm reden kann. Als ich ihn in der Klinik besuchte, konnte ich ihm nicht folgen und meine Gedanken drehten sich die ganze Zeit um die Frage, wie ich ihn da rausbekomme und was passieren muss, damit es ihm wieder besser geht. Jetzt weiß ich, dass dieser Selbstdruck falsch war und mich nur daran gehindert hat, meinem Freund ein offenes Ohr zu schenken und ihm ein aufmunternder Besuch zu sein.
Denn Konrad hatte den Schritt in eine Klinik auch ohne mich geschafft. Und seine Ärzt:innen wussten, wie sie seine Psychose behandeln konnten: mit verschiedenen Antipsychotika und einer Therapie. Wie ich im Kurs lerne, ist eine Kombination von Medikamenten und Psychotherapie häufig die wirksamste Behandlungsmethode bei Depressionen und Psychosen. Insbesondere bei Depression, so erklärt Vasilescu, biete eine Behandlung mit Antidepressiva in Kombination mit einer Verhaltenstherapie für viele Erkrankte gute
Auf die Frage nach der Wirkung von Antidepressiva antwortet Vasilescu: »Durch die Medikamente werden Botenstoffe beeinflusst, der Serotoninspiegel steigt und führt dazu, dass die Hormone wieder reguliert werden. Die maßgebliche Wirkung ist aber, dass auf Zellebene neue Synapsen geknüpft werden. Die Medikamente wirken insofern dem Abbau der Gehirnverbindung entgegen, der ein Bestandteil einer fortgeschrittenen Depression sein kann.« Es ist nicht der erste komplexe Sachverhalt, den Vasilescu aufgrund mangelnder Zeit auf wenige Sätze herunterbrechen muss, und es wird nicht die letzte komplizierte Frage in diesem Kurs bleiben.
In diesem Artikel berichtet Dirk Walbrühl von einer wissenschaftlichen Studie und einer ungewöhnlichen Behandlungsmethode bei Depression:
»Leider gibt es jedoch«, so Vasilescu, »keine Wirkung ohne Nebenwirkung bei Psychopharmaka.« Auch Konrad hatte mit Nebenwirkungen zu kämpfen. Er nahm stark zu und wurde antriebslos. Für seinen besten Freund Felix, der ihn täglich besuchte und sich nach dem Klinikaufenthalt um ihn kümmerte, war es eine enorme Herausforderung. »Ich musste ihn die ganze Zeit zu allem motivieren. Das war so hart. Die ganze Zeit habe ich mich gefragt, wie es dazu kommen konnte«, sagt mir Felix, als wir diese Zeit gemeinsam rekapitulieren.
Ich erzähle ihm, was ich im Kurs gelernt habe: Etwa dass Bewegung und körperliche Aktivität sehr wichtig sind und in jedem Fall zum Heilungsprozess beitragen. Oder dass es wichtig ist, dabei auf die individuellen Vorlieben und Bedürfnisse der Betroffenen zu achten und die richtigen Aktivitäten zu finden – was eine wichtige Rolle für Ersthelfer:innen sein kann.
Für Konrad war es die Musik. Nach seinem ersten Klinikaufenthalt hatte Konrad noch 2 Rückfälle. Als ich ihn 2016 bei seinem zweiten Rückfall auf Station besuche, bespielt er einen großen Flügel im Empfangssaal und ich bin zuversichtlich, dass er auf einem guten Weg ist.
5 Wochen später: Was ich aus dem Kurs mitnehme
Der Kurs war leider viel zu kurz für die komplexe Thematik und in Präsenz wären die Diskussionen sicher intensiver gewesen. Bei Vasilescus Schlussworten unterbricht ihn ein Teilnehmer. Ihm sei noch immer unklar, wie er Betroffenen neutral Hilfe vermitteln könne, ohne einen Verdacht zu äußern oder eine Diagnose zu stellen. »Es ist wichtig, dass ihr eure subjektive Wahrnehmung schildert, dass ihr einen Leidensdruck wahrnehmt und gerne unterstützen möchtet. Versucht zu verinnerlichen und zu vermitteln, dass ihr nicht alles wissen könnt, aber beschreibt, wie ihr die Situation wahrnehmt.«
Das ist im Grunde auch die Haupterkenntnis, die ich für mich aus dem Kurs mitnehme: Ich muss nicht allwissend sein, um zu helfen, oder auf Anhieb alles richtig machen. Vielmehr geht es darum, überhaupt zu reagieren. Dann kann man gemeinsam herausfinden, was am besten helfen könnte, und die nächsten Schritte überlegen. Damit das gelingt, muss ich die eigenen Vorurteile und Bedenken beiseiteschieben und mir Ratschläge und Anekdoten sparen. Oder wie es Kursleiter Vasilescu ausdrückt: »Erst mal Klappe halten und zuhören!«
Im Nachhinein mache ich mir keine Vorwürfe mehr, dass ich nicht so sehr für Konrad da war, denn eine wichtige Lektion von MHFA ist auch, die eigenen Grenzen einschätzen zu können und für sich selbst zu sorgen. Nach dem Kurs habe ich mit Konrad darüber gesprochen und ihn gefragt, was aus seiner heutigen Sicht wichtig für Freund:innen und Familien von Betroffenen ist. »Dass sie sich informieren und nicht in Situationen reingehen ohne Grundkenntnisse«, antwortet er. Irgendwie habe ich jetzt doch noch das Gefühl, etwas für ihn und für Menschen mit psychischen Krankheiten getan zu haben – nämlich Vorsorge. Konrad geht es inzwischen wieder sehr gut. Vor 2 Jahren konnte er seine Medikamente komplett absetzen. Er studiert, macht Musik und genießt sein Leben.
Falls du nun motiviert bist, dich zum:zur Ersthelfer:in ausbilden zu lassen, oder einfach nur mehr über MHFA-Ersthelfer:innen erfahren möchtest, gelangst du hier zur Website von MHFA Ersthelfer in Deutschland.
Du hast jemanden im Umfeld, dem du bei seinen psychischen Problemen helfen willst und der die Hilfe annehmen möchte? Das sind die nächsten Schritte: Hausärzt:innen, Psychiater:innen oder Psychotherapeut:innen können erste Ansprechpersonen bei psychischen Problemen sein. Selbsthilfegruppen sind eine gute Anlaufstelle, um sich erst mal auszutauschen, und können an weitere Hilfsangebote vermitteln. Über Start Selbsthilfenetz findest du schnell und gezielt eine Selbsthilfegruppe in deiner Nähe. Wenn du dich selbst beraten lassen möchtest, wie du besser helfen kannst, geht dies einfach beim Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker (BApK).
Redaktionelle Bearbeitung: Dirk Walbrühl
Mit Illustrationen von Doğu Kaya für Perspective Daily