Immer die gleiche Masche: Warum wenige Empörte so wahnsinnig viel Aufmerksamkeit bekommen
Wie aus einem Trucker-Protest in Kanada weltweite Schlagzeilen wurden. Und was eigentlich dahintersteckt.
Eine Smartphone-Kamera schaut auf eine vereiste kanadische Straße. Darauf rollt ein Truck nach dem anderen vorbei. Viele hupen, manche winken.
Das Video und ähnliche werden vergangene Woche auf sozialen Medien wie ein Lauffeuer geteilt, in speziellen Gruppen und unter Twitter-Hashtags – auch in Deutschland. Angeblich 50.000 Trucks sollen es sein, die am vergangenen Wochenende auf die Hauptstadt Ottawa zufahren, um dort gegen Coronamaßnahmen der Regierung zu demonstrieren.
Ein typischer Post dazu liest sich etwa so:
In Kanada ziehen 50000 #Trucker im sog. #FreedomConvoy2022 nach #Ottawa um #Trudeau zum Rücktritt oder zur Rücknahme der #Impflicht zu zwingen. Ein 70km langer Konvoi. 50.000 Trucker. Unterstützt von 1,4 Millionen Menschen.
Null Berichterstattung dazu in den Mainstream-Medien.
Der aufgeregte Post ist dennoch symptomatisch für eine aktuell sehr präsente, weltweite Masche, womit Empörte derzeit immer wieder versuchen, die öffentliche Meinung zu manipulieren. In diesem Text zeige ich dir am Beispiel der Ottawa-Proteste, wie und warum die Masche so gut funktioniert und welche Schritte dafür nötig sind. Spoiler: Trump kannte sie bereits genau.
Schritt 1: Ein Ereignis, das nach »mehr« aussieht, instrumentalisieren
Die Masche fängt immer gleich an: mit einem wahren Kern. So auch in diesem Fall. Denn man muss anerkennen, dass ein Teil der ungeimpften kanadischen Trucker die Covid-19-Politik der Trudeau-Regierung nicht gutheißen und demonstrieren. Das ist ihr gutes Recht, auch mit ihren Trucks auf der Straße.
Warum demonstrieren diese Trucker überhaupt?
Auslöser war eine Mitte Januar in Kanada in Kraft getretene Verordnung, wonach auch Lkw-Fahrer, die aus den USA zurückkehren, einen Impfnachweis vorlegen müssen. Können sie das nicht, müssen sie 14 Tage lang in Quarantäne – was finanzielle Einbußen bedeutet. Dies betrifft konkret rund 10–15% der kanadischen Truckerfahrer:innen. Diese haben sich laut Canadian Trucking Alliance (CTA) bisher gegen eine Impfung entschieden.
Grundsätzlich sollte niemand friedlichen Demonstrationen in einer Demokratie mit Geringschätzung begegnen. Die demonstrierenden Trucker opfern Zeit, Einkommen und riskieren berufliche Nachteile und öffentliche Anfeindungen für ihre Überzeugung – und sie sind auch nicht die Drahtzieher der Aktion. Sie sind nur das Mittel zum Zweck.
Die Organisator:innen der Proteste sind nur schwer auszumachen. Ihre Namen tauchen auf Spenden-Sammelaktionen und in den koordinierenden Social-Media-Gruppen auf. Erste Recherchen von Global News zeigen, dass manche von ihnen eine Vergangenheit mit rassistischen Äußerungen haben –
Kein Zufall ist das Label, das die Organisator:innen der ganzen Aktion gaben: »Freedom Convoy 2022« (Konvoi der Freiheit 2022). Damit verschieben sie den Zweck des Protests der Trucker von Kritik an einem ganz speziellen Gesetz zu einem vagen »Widerstand für die Freiheit«-Gefühl, das im Kern aller weltweiten Anti-Coronamaßnahmen-Proteste steht – ganz gleich, worum es einzelnen Trucker:innen in Sorge um ihren Job konkret geht.
Der Trick dabei: Das nennt sich »Framing« und ist bekannt aus der Politik und PR-Abteilungen, also das Verschieben und Umdeuten von Ereignissen zu eigenen Zwecken. Und genau dafür sind aktuelle Proteste sehr anfällig – denn sie organisieren sich dezentral über soziale Medien und sind oft für jede Unterstützung dankbar, um Gehör zu finden. In der Folge sind sie meist unkritisch demjenigen gegenüber, der die Organisation an sich zieht und instrumentalisiert.
Das kennen wir hierzulande mit den Querdenken-Protesten, die mittlerweile von Rechtsextremen angeführt und dazu umgewandelt werden, deren Ideologie voranzutreiben –
Schritt 2: Die Größe und Bedeutung aufblähen
Wenn Kilometer an Lkw hintereinanderfahren und anschließend die Straßen einer Hauptstadt verstopfen, ist das natürlich optisch beeindruckend und erzeugt Aufmerksamkeit – auch wenn es deutlich weniger als 50.000 Fahrzeuge sind.
Die Behörden Ottawas gehen von 1.000–2.000 Fahrzeugen aus,
Doch 2.000 Trucks sind faktisch eher wenig (genauer 0,48%) verglichen mit den
Damit wären die Protestierenden wirklich eine »small fringe minority« (Randminderheit), wie Premierminister Justin Trudeau sie bezeichnete. Das mag nicht sonderlich diplomatisch gewesen sein,
Was denkt die Mehrheit der Kanadier?
In Kanada ist die Impfquote mit 79% besonders hoch und Trudeaus Pandemiemanagement fand bisher viel Zuspruch. Der Premier wurde erst im September wiedergewählt und eine große Umfrage eine Woche vor den Demonstrationen machte deutlich, dass ein Großteil mit der Covid-19-Politik grundsätzlich zufrieden ist und sich 67% sogar mehr Restriktionen für Ungeimpfte wünschen.
Auf der anderen Seite überbieten sich die Befürworter:innen der Proteste: Der konservative Marco Robinson etwa twittert absurderweise von
Warum aber dieses Verwirrspiel um die leicht zu durchschauenden Fantasiezahlen?
Die Antwort findet sich im Ausgangs-Tweet: »Null Berichterstattung dazu in den Mainstream-Medien« heißt es dort. Denn sowohl private als auch öffentlich-rechtliche Medien berichten schon, aber eben nur von realistischeren »Hunderten« Fahrzeugen und eben nur als Randnotiz und nicht als Seite-1-Schlagzeile. In den Kreisen der Fans und Follower auf sozialen Medien wird das aber als eine internationale Presseverschwörung umgedeutet.
Der Trick dabei: Menschen sind sehr schlecht darin, Menschenansammlungen einzuschätzen. Das liegt am
- Ein Angriff auf die freie Presse und damit ein Verunsichern der Bevölkerung, was Informationen betrifft.
- Der Versuch, die Unterstützung zur eigenen Sache als deutlich größer zu zeichnen, als sie tatsächlich ist. Es geht im Kern darum, die »Mehrheit des Volkes« für sich zu reklamieren.
Dieselben Zahlen-Verwirrspiele probierten auch Querdenken-Demonstrationen hierzulande, etwa beim
Fantasiezahlen führen direkt zum nächsten Schritt.
Schritt 3: Unterstützer gewinnen
Unterlegt wird das Verwirrspiel um Zahlen und Bedeutung einer Aktion mit vielen Videos, Bildern und immer wieder der überzogenen Ausdeutung.
Kein Wunder, dass
Die Inszenierung dient dazu, jemand ganz Spezielles zu ködern: einflussreiche Menschen.
Im Fall der Trucker-Fahrer gelang das einerseits mit
Viel gewichtiger dürfte aber die Unterstützung von Tesla-Unternehmer und Milliardär Elon Musk, Talkshowhost Joe Rogan und Comedian Russel Brand sein.
Der Trick dabei: Menschen lassen sich von berühmten Namen beeinflussen. Und so verleihen Brand, Rogan und Musk der sich im Folgenden entspinnenden Erzählung neue Legitimität. Dabei ist jeder Zuspruch von so großen Namen selbst ein Mini-Ereignis, das auf sozialen Medien unter denen, die bereits überzeugt sind,
Schritt 4: Die Erzählung festigen
Währenddessen waren die Lkw-Proteste in Ottawa angekommen. Der Journalist Marc-André Cosette sprach mit Dutzenden von Demonstrierenden und berichtete auf Social Media darüber,
Die Demonstranten jubelten, aber sie waren auch wütend und respektlos. Eine beträchtliche Gruppe von ihnen – wenn nicht die meisten – glaubt, dass ihre Frustration ihnen die Erlaubnis gibt, jeden zu belästigen und einzuschüchtern, der sich an die öffentliche Gesundheit hält, die wir uns als Gesellschaft gesetzt haben.
Cosette berichtet aus erster Hand davon, wie Protestierende Mitarbeiter der Stadt belästigten und einschüchterten, Denkmäler entweihten, Journalist:innen anfeindeten und beleidigten. Und er berichtet auch von Hass-Symbolen, etwa
Weitaus weniger differenziert ist die Geschichte, die die Organisator:innen und glühenden Befürworter der Proteste erzählen. Die Trucker-Proteste und Protestaktionen rund um sie herum in Ottawa werden zu einem Volksaufstand stilisiert, einer »Kanadischen Revolution«. Und Trudeau als Feigling, denn
Der Trick dabei: Menschen denken vor allem in Geschichten und nicht in Fakten – denn pure Fakten sind langweilig und schwer zu behalten. Die Werbeindustrie und Journalist:innen kennen das seit Langem als »Storytelling«.
Worum es eigentlich geht: Inszenierter Protest als Content
Wurden alle Schritte erfüllt, hat die Masche ihr Ziel erreicht. Doch wozu das Ganze? Hier lohnt sich ein Blick auf all jene, die die Geschichte weitererzählen und verbreiten und damit eigene Narrative füttern.
Während die ersten Protestler:innen in Ottawa wieder abziehen, sind die Fantasiezahlen, die Videos und die Fotos um den Trucker-Protest auf den sozialen Medien bereits um die Welt gegangen – hier in Deutschland etwa in den einschlägigen Telegram-Gruppen der Querdenken-Bewegung.
Dort ist man vereint in Empörung und Wut gegen die Pandemiemaßnahmen. Und genau diese Emotionen bedient die Geschichte: Die Trucker werden als Helden gefeiert, als einfache Menschen, die sich gegen eine tyrannische Staatsmacht auflehnen. Die Proteste werden dabei zum »Anfang« eines politischen Umbruchs stilisiert, dem Beginn einer »großen Veränderung«,
Im Telegram-Kanal von Querdenken-Vordenker und Verschwörungsideologe Bodo Schiffmann heißt es etwa in typischer Schwarz-Weiß-Kriegsrhetorik dazu:
GEMEINSAM STEHEN WIR GEGEN UNSEREN GEMEINSAMEN FEIND: Unsere Regierung ist gesetzlos geworden und die Banken haben die Macht übernommen. NICHT UNTER UNSERER AUFSICHT, KANADA.
Die Geschichte kommt also an. Sie ist durch die Überzeichnung und Ausweitung über soziale Medien zu einem maßgeschneiderten Inhalt für diese Gruppen geworden, die repräsentativ für eine Vielzahl von digitalen Echokammern weltweit gelten können: Von verbitterten Trump-Anhänger:innen in den USA bis zu eingefleischten Verschwörungsideolog:innen. Sie alle leben von emotionalem Content, den sie beständig konsumieren: vor allem die Empörung über etwas und die vage Wut auf die Regierenden. Sie selbst sind in ihren Augen Freiheitskämpfer und die Guten. Doch auch »die Guten« brauchen beständig neue Inhalte, sonst wird es ja langweilig für die Anhänger:innen. Das dürfte ein wichtiger Grund für die Inszenierung der Ottawa-Proteste sein.
»Man will Erfolgsgeschichten sehen«, sagt etwa Querdenken-Influencer und Aktivist Elijah Tabere in seinem Livestream von einer Querdenken-Demonstration in Nürnberg. Dort waren statt den beschworenen 40.000 aber nur 1.500 gekommen. Die Ottawa-Proteste sind hier deutlich vielversprechender. Denn dann klingeln auch die Kassen der nahezu ausschließlich aus Crowdfunding-Aktionen finanzierten Empörungsgruppen.
Die Plattform GoFundMe fror die Gelder allerdings aufgrund von Unregelmäßigkeiten und undurchsichtiger Dokumentation kurzfristig ein. Sie wollten sicherstellen, dass die Organisator:innen der Kampagne die Gelder auch gut dokumentiert austeilen – ein Detail, das in die Erzählung um die Trucker als weitere »Gängelung« eingebaut wird und
Bonus-Dilemma: Auch Aufklärung über Bullshit gibt Reichweite
Je hartnäckiger sich Falschnachrichten zu Zahlen oder Interpretationen halten, desto mehr verspüren Journalist:innen die Notwendigkeit aufzuklären. So existiert heute, 7 Tage nach den ersten Protesten, bereits eine Vielzahl internationaler Artikel zu den Ottawa-Protesten (inklusive diesem). Doch auch das Aufklären erzeugt etwas, was die Empörten freut: Aufmerksamkeit und den zusätzlichen Anschein von Bedeutung; ein Dilemma.
Und so ist es kaum verwunderlich, dass die Aktion in Kanada schnell Nachahmer findet. Nur einen Tag nach Beginn der Proteste in Ottawa teilen diverse Telegram-Gruppen rund um die Querdenken-Bewegung einen Film mit »European Freedom Convoy« und dem Slogan »The Canadians Showed us the way« (die Kanadier zeigten uns den Weg).
Das ist auch nur logisch, denn was funktioniert und die richtigen Bilder produziert hat, soll Nachahmer finden. Deshalb ähneln die Proteste in Ottawa vor dem Parlament auch denen in Brüssel zuvor (neu sind nur die Trucks). Deshalb nehmen die in Brüssel festgesetzten Demonstrierenden die Sitzhaltung von politischen Gefangenen ein und
Und deshalb ähnelt das »Belagern« der Regierungsgebäude von Ottawa und Brüssel im Eventcharakter auffallend dem Sturm auf das Kapitol in Washington 2021 – nur mit weniger Gewalt. Die hatte damals für zu viel negative Aufmerksamkeit gesorgt und passte nicht zum Wir-sind-die-Guten-Narrativ. Und genau deshalb wird bei aktuellen Events der Empörten jede tatsächliche, dokumentierte Gewalt mit Verschwörungserzählungen (Demo-Touristen, Antifa-Unterwanderung, gekaufte Regierungsdarsteller)
Eine Lösung: Die Geschichten anfechten. Trudeau versucht es
Die Inszenierungen der Empörten unwidersprochen zu ignorieren, führte bisher nicht dazu, dass sie verklingen. Wegschauen und darüber schweigen ermöglicht nur, dass sich die Geschichten ungehindert verbreiten – mit dem zusätzlichen Dreh, dass die Politiker:innen ja schweigend sicher eingeschüchtert seien. Premierminister Justin Trudeau versucht derzeit eine andere Lösung: Er geht auf Konfrontationskurs und weigert sich, Forderungen der Protestierenden zu einem Treffen zu erfüllen.
Stattdessen betont er: »Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sind Eckpfeiler der Demokratie, Nazi-Symbolik, rassistische Bildsprache und die Schändung von Kriegerdenkmälern jedoch nicht.« Natürlich haben sich die Protestierenden bereits gegen diese Art der Anklage immunisiert und ziehen sie ins Lächerliche.
Ist Trudeaus Konfrontationskurs jetzt die richtige Lösung?
Zumindest erzeugt er eine Gegenerzählung. Denn der Premierminister hat die Zustimmung des Großteils der Bevölkerung und Zahlen auf seiner Seite – und das weiß er, wenn er sagt:
Ob es funktioniert und Trudeau die Deutungshoheit über die Proteste gewinnt, bleibt abzuwarten. Denn er ist spät dran. Die Bilder, Geschichten und Maschen funktionieren bisher nur deshalb so gut, weil Politiker:innen wie er während der Pandemie versäumt haben, eigene Geschichten zu prägen. Parteiengerangel, Schlingerkurse, das Ignorieren von möglichen Lösungen und das Beugen vor Lobbyist:innen und Wirtschaftsinteressen sprechen jedenfalls kaum emotional an, sondern spielen eher den Empörten und deren Inhalten in die Hände.
Es braucht politische Visionen und Schlagwörter, Bilder und kraftvolle Symbole.
Hier könnten Politiker:innen noch viel von den Empörten lernen.
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