Der Handel tyrannisiert das Obst- und Gemüseregal. So helfen wir den armen Früchtchen
Dafür müssen wir nicht alle anfangen, Lebensmittel zu retten!
Sie retten krummes Gemüse und verfärbtes Obst vor dem Müll – und schicken es dir direkt bis vor die Haustür oder zur nächsten Abholstation. Die Konzepte von Unternehmen wie Etepetete oder Rübenretter klingen sinnvoll und beruhigen das Gewissen. Immerhin enthalten die »Retterboxen« vollkommen genießbare Lebensmittel, die ansonsten weggeschmissen oder auf dem Feld untergepflügt werden. Denn Edeka, Lidl, Rewe und Co. kaufen den Landwirt:innen Erzeugnisse mit Schönheitsfehlern nicht ab.
Doch so vorbildlich die Geschäftsmodelle auch sein mögen, das Grundproblem, das zu Lebensmittelverschwendung führt, lösen sie nicht. Das können sie auch nicht. Denn das Geschäft mit dem krummen Gemüse ist das Resultat eines kaputten Systems. Es ist eine Lösung, die das Problem aber (ungewollt) verstärken kann, wenn sie dazu beiträgt, dass Supermärkte so weiter wirtschaften wie bisher. Diese gehen in ihren Ansprüchen an Obst und Gemüse teilweise weit über die gesetzlich vorgeschriebenen Bedingungen hinaus und legen dabei mehr Wert auf die Optik als auf die Qualität der Lebensmittel.
Expert:innen schätzen, dass europaweit 4–37% der Obst- und Gemüseernte nicht in den Supermarkt gelangt.
Die gute Nachricht: Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen vom Umweltbundesamt haben konkrete Lösungsvorschläge erarbeitet, die das Problem bei der Wurzel fassen. Einige davon lassen sich relativ einfach umsetzen. Bevor wir dazu kommen, schauen wir uns aber zuerst das Problem im Detail an, damit du weißt, worauf du beim nächsten Einkauf achten kannst.
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Was genau ist das Problem?
Karotten und Kohlrabi mit grünen Blättern, Äpfel mit makelloser Schale und Brokkoli, die alle exakt 500 Gramm wiegen: In den Obst- und Gemüseabteilungen unserer Supermärkte sieht alles gut aus. Und genau das ist die Krux. Denn das heißt eigentlich, dass etwas gehörig schiefläuft. Jedes der perfekt aussehenden Lebensmittel ist umweltschädlich – nicht etwa, weil es mit Chemikalien oder unter schlechten Bedingungen angebaut wurde,
Problematisch sind das makellose Aussehen und die einheitlichen Größen, die von Einzelhändlern gefordert werden – bzw. das, was getan werden muss und nicht getan werden kann, damit das Obst und Gemüse den
Nehmen wir den Blattschmuck von Gemüse als Beispiel: Der grüne Puschel eines Bunds Möhren soll Verbraucher:innen Frische suggerieren. Damit die Blätter jedoch gut aussehen, müssen Landwirt:innen oft mehr Pflanzenschutzmittel beim Anbau einsetzen, damit Schädlinge sich nicht an den grünen Kronen vergreifen. Und sie müssen die Möhren noch einmal kurz vor der Ernte düngen.
Die 4 großen Lebensmittelplayer in Deutschland
Wenn in diesem Text von Lebensmitteleinzelhändlern geschrieben wird, sind damit vornehmlich Edeka, Rewe, die Schwarz-Gruppe (dazu gehören Lidl und Kaufland) und Aldi gemeint. Sie sind die 4 größten Player und decken zusammen fast 75% des Lebensmitteleinzelhandels in Deutschland ab.
Dadurch sehen die Blätter richtig saftig grün aus. Das Gemüse selbst kann Nährstoffe jedoch nicht mehr vollständig aufnehmen. Der Restdünger versickert ins Grundwasser oder läuft ab. Spätestens zu Hause werfen die Verbraucher:innen die Blätter
»Auch für den Handel und die Verbraucherinnen und Verbraucher ist der Verkauf des Gemüses mit Laub letztlich nachteilig. Durch die Verdunstung über die Blattoberflächen verliert das Gemüse Wasser, es wird schneller welk und die Haltbarkeit sowie die Qualität verringern sich«, schreiben Anne Biewald und Frederike Balzer in einer Veröffentlichung des Umweltbundesamts. Gleiches gilt für Radieschen, Kohlrabi und Porree. Die 2 wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen des Fachgebiets Landwirtschaft im Umweltbundesamt haben untersucht,
»Der Handel hat viele selbstgesteckte, freiwillige Anforderungen an frisches Obst und Gemüse, die über die gesetzlich vorgeschriebenen hinausgehen«,
Was sagt das Gesetz?
Für fast alle Obst- und Gemüsearten gilt die Allgemeine Vermarktungsnorm der EU für frisches Obst und Gemüse. Sie stellt sicher, dass die Lebensmittel frei von gesundheitsschädlichen Mängeln sind. Was sie nicht vorgibt, sind Anforderungen über die Optik oder die Klasseneinteilung. Äpfel und Avocados dürfen also leichte Beschädigungen, Risse oder Krankheitsspuren haben, die beispielsweise beim Schälen entfernt werden können.
- Kohlrabi müssen einen Umfang von mindestens 10 Zentimetern haben.
- Blumenkohlköpfe sollen möglichst alle gleich groß sein.
- Brokkoli muss 500 Gramm pro Stück wiegen.
- Äpfel dürfen (fast) keinen
Manche der Vorgaben haben indirekte und manche sehr direkte, existenzielle Auswirkungen auf Menschen und Umwelt: Damit Äpfel makellos sind, werden Naturschutzmaßnahmen wie Blühwiesen oder Insektenhotels in Anbaugebieten vernachlässigt. Die Insekten könnten die Schale verletzen. Wird die Schale beschädigt oder entspricht das Gemüse mit Blättern nicht den höheren Anforderungen des Handels, bleiben die Erzeuger:innen auf ihren Äpfeln und Möhren sitzen – auch wenn das Produkt die übrigen Anforderungen erfüllt.
Obst und Gemüse, das der Einzelhandel den Erzeugern nicht abkauft, wird zweitverwertet – soweit das möglich ist. Äpfel werden zu Saft verarbeitet, Kartoffeln und Möhren werden verfüttert. Häufig werden die Lebensmittel aber auch untergepflügt oder anderweitig entsorgt, insbesondere schnellverderbliche wie Salat.
Ein durchschnittlicher Lebensmittelverlust von 20% und mehr für Obst, Gemüse und Kartoffeln von der Ernte bis zur Lieferung in den Einzelhandel

Wie begründen die Lebensmittelhändler ihre hohen Anforderungen?
Für die selbstgesteckten Anforderungen zu Einheitsgewicht und -größe gibt es 2 Gründe, die nicht mit der Ästhetik und den vermeintlichen Ansprüchen der Kund:innen zu tun haben:
- Gemüsearten wie Brokkoli, Kohlrabi und Blumenkohl werden zum Stückpreis verkauft. Der Verkauf nach Gewicht ist für den Handel laut den Autorinnen, die viele Gespräche mit Vertreterinnen aus der Lebensmittelbranche geführt haben, nicht wirtschaftlich. Denn dann könnten Verbraucher:innen auch zu kleineren Gemüsestücken greifen.
- Es ist für Transport und Logistik vorteilhafter, wenn beispielsweise genau 4 gleichgroße Äpfel in die 1-Kilo-Verpackung oder genau 6 Köpfe Blumenkohl in die Transportkiste passen.
»Ein weiteres Problem ist, wenn in der Erntespitze zu viel Gemüse gleichzeitig die geforderte Größe erreicht«, sagt Anne Biewald. Das überproduzierte Gemüse kommt nicht auf den Markt. Eine Zweitverwertung ist manchmal möglich, doch wurden dann bereits wichtige Ressourcen verschwendet, um die hohen Anforderungen des Einzelhandels zu erfüllen.
Bioprodukte gehören oft der Handelsklasse II an, da sie mit weniger Pestiziden angebaut werden und häufig Schönheitsfehler besitzen.
Um frisches Obst und Gemüse besser in Qualitätsstufen einteilen zu können, gibt es in der Europäischen Union Handelsklassen: Klasse Extra (makellos, bestimmte Größe, Krümmung und Gewicht), Klasse I (leichte Farbabweichungen und Quetschungen erlaubt) und Klasse II (größere Farb- und Formabweichungen, Druckstellen, Deformationen sind gestattet).
Eigentlich müssen nur 10 Obst- und Gemüsearten in Klassen eingeteilt werden, da sie nicht unter das allgemeine EU-Gesetz für frisches Obst und Gemüse fallen. Dazu gehören
Verbraucherzentralen unterstützten Umweltbundesamt
Die Verbraucherzentralen haben Ende 2021 stichprobenartig bundesweit das Angebot von ausgewähltem Obst und Gemüse in 25 Supermärkten, Biohandelsmärkten und Discountern untersucht. Das Ergebnis des Marktchecks: Nur rund 1/4 der angebotenen Äpfel und 18% der Möhren wurden in Klasse II angeboten, also mit optischen Makeln und in verschiedenen Größen. In Discountern war dieses Angebot noch geringer.

3 Dinge, die sich eigentlich (sofort) ändern lassen
Jede Einzelhandelskette oder -geschäft kann
- auf eigene Standards bezüglich Größe, Einheitlichkeit und Aussehen verzichten und damit die gesetzlichen Anforderungen nicht unnötig erhöhen. Dort, wo eine Klassenkennzeichnung vorgeschrieben ist, muss Klasse II zum neuen Standard werden.
- Obst und Gemüse grundsätzlich nach Gewicht und nicht nach Stück verkaufen. Dadurch könnten Verbraucher:innen bedarfsgerechter einkaufen,
- Gemüse wie Kohlrabi, Radieschen und Möhren ohne Blätter anbieten.
Die Ergebnisse, die Anne Biewald und Frederike Balzer für das Umweltbundesamt herausgearbeitet haben, sind allerdings nicht neu. So sind Rübenretter, Etepetete und andere Lebensmittelretter seit Jahren mit Edeka, Lidl, Rewe und Co. darüber im Gespräch, wie die Supermärkte die Lebensmittelverschwendung reduzieren könnten.
Die Erkenntnis: »Der Handel – und damit meinen wir die dominierenden 4 Player – hat kein primäres Interesse daran, dass Lebensmittelproduktion, -handel und -konsum nachhaltig ablaufen«, schreibt mir Frederic Goldkorn, Gründer von Rübenretter. »Die Schuld für die Lebensmittelverschwendung wird dabei auf vorgelagerte Stufen abgewälzt. Für Marketing eignen sich besondere/krumme Produkte anscheinend immer besser, für tatsächliche Veränderung herrscht hier aber keine Bereitschaft.«
Ein Blick in den Markt bestätigt Goldkorns Vermutung: Lebensmittelhändler probieren Dinge aus, haben bisher jedoch keine der möglichen Lösungen in die Breite getragen. Seit 2016 versucht Penny beispielsweise, unter seiner Bio-Eigenmarke »Naturgut« Obst und Gemüse mit Farb- und Formfehlern an die Kund:innen zu bringen. »Bio-Helden« nennt sich das Angebot und ist ziemlich erfolgreich. Die verkauften Mengen steigen laut der Rewe-Group jährlich an – 2021 mit einem Umsatzanstieg von 27%.
Die Schuld nun ausschließlich beim Einzelhandel zu suchen, ist laut Anne Biewald trotzdem falsch: »Nach unserer Wahrnehmung möchte der Einzelhandel Gemüse wie Kohlrabi auch lieber ohne schmückendes Blattwerk verkaufen. Dann würde sich das Gemüse länger im Regal frisch halten, weil kein Wasser über die Blattoberflächen verdunstet, und auch Verpackung und Transport ist einfacher.« Die Kunden würden aber Wert darauf legen und keinen Kohlrabi ohne Blätter kaufen. Der Grund: Gemüse mit Blattgrün wie Kohlrabi oder Radieschen steht oft nicht auf der Einkaufsliste, sondern gehört zu den Spontankäufen. Dann sei das Blattgrün der entscheidende optische Faktor, der zum Kauf verleitet.
Aber auch für Erzeuger:innen wäre eine Umstellung der Anforderungen nicht einfach. Das gilt vor allem im konventionellen Landbau: »Jahrelang haben die Bauern ein Anbausystem perfektioniert, in dem der größte Anteil des produzierten Obstes und Gemüses makellos war. Für eine Umstellung der Produktion auf weniger Ressourceneinsatz und dafür mehr Obst und Gemüse mit diverser Optik braucht es ganz klare Signale vom Handel, dass diese auch zu fairen Preisen abgenommen werden«, sagt Biewald.

Wie geht es weiter?
Die Lösungen sind da, theoretisch könnte schon heute krummes, schrumpeliges, verfärbtes, großes oder kleines Obst und Gemüse in jedem Supermarkt liegen – in einem Regal mit den makellosen Äpfeln und den rissfreien Möhren. Aber es ändert sich nichts, da sich das gesamte System inzwischen aufeinander abgestimmt und eingespielt hat.
Nur wenige Supermärkte und Discounter integrieren Obst und Gemüse mit Macken in ihr Sortiment. Häufiger bieten sie Sonderaktionen oder Angebote dafür an. Unternehmen wie Etepetete und Rübenretter nehmen den Einzelhändlern die Arbeit ab und retten zusammen jährlich Millionen Tonnen von Obst und Gemüse. Doch das reicht nicht aus, um der Lebensmittelverschwendung Einhalt zu gebieten. Der Fehler liegt im System.
Wenn die Forderungen des Umweltbundesamts nicht in klaren Gesetzen resultieren, werden sie nichts ändern. Wenn diese Gesetze kämen, würde uns das zwar unsere
In der Idealvorstellung des Umweltbundesamtes ist das
Um dahin zu kommen, braucht es noch mehr Druck auf den Einzelhandel und die Regierung (Petitionen, Briefe, bewusste Kaufentscheidungen) sowie Engagement und Aufklärung (teile diesen Artikel).
Titelbild: etepetete - copyright