Die Diplomatie ist in der Ukraine gescheitert. So hätte es anders laufen können
Die neue deutsche Regierung verfolgt offiziell eine feministische Außenpolitik. Kann das im Konflikt zwischen Russland, der Ukraine und der NATO noch weiterhelfen?
Anmerkung der Redaktion: Das Interview mit Friedens- & Konfliktforscherin Victoria Scheyer wurde bereits am 16. Februar geführt. Ihre Aussagen und Zitate beziehen sich auf die diplomatischen Verhandlungen zwischen dem Westen, Russland und der Ukraine, bevor sich Wladimir Putin zu einem Angriffskrieg gegen die Ukraine entschloss.
Ein Chor weiblicher Stimmen erfüllt den Militärflugplatz der britischen Luftwaffe. Hunderte Frauen sitzen im Schneidersitz vor dem eingezäunten Feld, singen, klatschen rhythmisch in die Hände. Nacheinander werden sie von Polizist:innen in schwarzer Uniform auf die Beine gerissen. Sie singen weiter, während sie an Händen und Füßen von den Sicherheitskräften weggetragen werden: »We are women, we are strong. We stand up to the
Die Szene stammt aus dem »Greenham Common Women’s Peace Camp« – eine Friedensbewegung britischer Frauen der 80er-Jahre. Sie protestierten gegen die Stationierung von Nuklearwaffen auf dem Gelände des Militärflugplatzes »Greenham Common« im südlichen
Hier findest du den Trailer der Doku »Carry Greenham Home« über den Alltag der Greenham-Women in den Friedenscamps:
Die
Mittlerweile hat das Konzept der feministischen Außenpolitik breiteren Anklang gefunden, nicht nur in der Politikwissenschaft, sondern auch in der Praxis. Schweden war 2014 das erste Land, das sich einer feministischen Außenpolitik verschrieb; es folgten
Seit 2021 verfolgt auch Deutschland laut
Mit Annalena Baerbock (Grüne) hat Deutschland die erste weibliche Außenministerin in der Geschichte der Bundesrepublik. Doch wie unterscheidet sich ihre Strategie im Umgang mit anderen Staaten von denen ihrer männlichen Vorgänger? Und kann feministische Außenpolitik leisten, woran klassische Formate und Instrumente der Diplomatie bisher scheiterten?
Analysieren lässt sich das anhand eines ersten praktischen Testfalls: dem Konflikt zwischen der Ukraine, Russland und der
Doch bevor wir darauf näher eingehen, müssen wir zunächst klären, was feministische Außenpolitik eigentlich ist.
Politik, »feministisch« gedacht: ein praktisches Handbuch
Was mit dem Konzept genau gemeint ist – darüber streitet die Politikwissenschaft. Im akademischen Diskurs werden feministische Positionen unterschiedlichen
Andere feministische Ansätze sind wertebasierter und fordern: Außenpolitische Entscheidungen sollten sich nach Eigenschaften richten, die als typisch »weiblich« gelten (die aber genauso gut Männer haben können). Dazu gehören Empathie, Kooperation und der Schutz der Schwächsten.
Mehr Grundsätzliches über das Konzept der feministischen Außenpolitik findest du in diesem Artikel von Katharina Wiegmann:
Wovon alle Strömungen der feministischen Sicherheitspolitik überzeugt sind: Wir betrachten die internationale Politik durch die Brille des Patriarchats. Doch nur wenn die Sicht von Frauen und anderen Minderheiten an den Verhandlungstischen der Weltpolitik mitgedacht wird, können Entscheidungen getroffen werden, die ein gesamtheitlicheres Weltbild reflektieren. Damit würde internationale Politik für alle gerechter.
Durch diesen Perspektivwechsel wird ein zentraler Begriff neu definiert, der beim Austausch zwischen Staaten häufig fällt: Sicherheit. Klassischerweise rechtfertigen Politiker:innen ein militärisches Vorgehen mit dem Argument, die »Sicherheit des Staates« müsse gewährleistet werden. Eine Feministin hinterfragt diesen Begriff der »Staatssicherheit« und richtet ihre Politik nach der »menschlichen Sicherheit« aus.
Um diesen Gedankenumbruch zu verdeutlichen, eignet sich wieder das Beispiel der Frauen von Greenham Common. Im »klassisch« ausgeprägten sicherheitspolitischen Denken der Regierung wurde die Sowjetunion als größte Bedrohung für Großbritannien wahrgenommen, die Stationierung von Nuklearwaffen auf englischem Boden – zum Schutz des Landes – schien also
Die protestierenden Frauen hingegen sahen die größte Bedrohung in einer nuklearen Aufrüstung, weil sie von der Sicherheit ihrer Mitmenschen statt der des Staates ausgingen. Sie hingen Fotos ihrer Familien und Kinder an den Zaun des Militärgeländes und argumentierten: Eine Besatzung der Sowjetunion würden Menschen überleben; einen atomaren Krieg nicht.
Wie lassen sich solche feministischen Prinzipien nun in den tagespolitischen Alltag integrieren? Dazu hat die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF) ein
Zu den Werten gehören: Intersektionalität, aktive Friedenssicherung, Repräsentanz, reflexive Empathie und Evaluation. 4 dieser Werte schauen wir uns jetzt genauer an – denn daran lässt sich eine alternative Konfliktlösung im Fall der Ukraine-Russland-NATO-Krise zeichnen.
1. Fördert Frieden. Aber echt, nicht nur zum Schein
Die Motivation für außenpolitische Maßnahmen sollte immer sein, Frieden und soziale Gerechtigkeit, vor allem Geschlechtergerechtigkeit, zu schaffen – nicht Machterhalt oder wirtschaftliche Interessen.
Wie wurde im Fall der Ukraine-Russland-NATO-Krise versucht, auf Frieden hinzuarbeiten? Zunächst einmal ganz klassisch: Mit den Mitteln der Diplomatie. Nahezu täglich wurde über Telefonate oder Besuche europäischer Staatschef:innen und Diplomat:innen in Moskau oder Kiew berichtet, von Kooperationsangeboten der USA an Russland und umgekehrt.
Bereits 2014, als der Krieg im Donbass, der Ostukraine, ausbrach, trafen sich die Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich zu diplomatischen
Warum schaffte es die klassische Diplomatie nicht, Frieden zu stiften? Für Victoria Scheyer ist es kein Wunder, dass die Friedensverhandlungen scheiterten. Zum einen priorisierten laut der Forscherin sowohl der Westen als auch Russland bisher eher
Scheyer beobachtet bei der aktuellen Zuspitzung eine
Auch die Androhung von Sanktionen ist aus feministischer Sicht eine Art der Abschreckung, die nicht unbedingt zu Kooperation und Frieden führt und oftmals die Bevölkerung, vor allem Frauen, mehr trifft als die verantwortlichen
»Bei der feministischen Außenpolitik geht es nicht darum, wer sie macht – ein Mann oder eine Frau –, sondern darum, für wen sie gemacht wird.« – Victoria Scheyer
Aus diesem Grund wird das westliche Sicherheitsbündnis NATO von den kritischeren Strömungen der feministisch orientierten Außenpolitik eher als Hindernis für Frieden gesehen. »Warum basiert unser westliches Sicherheitsverständnis auf einem militärischen Bündnis?«, fragt sich Scheyer.
In der feministischen Theorie festigen militärische Institutionen wie die NATO patriarchale Machtstrukturen und fördern ein Verständnis von Sicherheit, das sich über Eigenschaften wie Stärke, Nationalismus und das Dominieren oder sogar Ausschalten des Gegners definiert. Eine geeignetere Sicherheitsstruktur sieht Scheyer etwa in der »Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit«
Ein weiterer Rat aus der feministischen Theorie: Wer wirklich Frieden will, sollte versuchen, Kooperation in möglichst vielen Bereichen aufrecht zu erhalten. Gemeinsame Projekte, etwa zu Klimapolitik oder Kultur, könnten das Vertrauen zwischen Russland und den USA oder zwischen Russland und der Ukraine stärken und sich somit positiv auf die Zusammenarbeit auswirken.
Man spreche in der Friedens- und Konfliktforschung von »Konflikttransformation«, erklärt Scheyer. Im Moment herrsche aber eher die Tendenz, bei Krisen auch die Kooperation in anderen Bereichen abzubrechen, die nicht direkt Gegenstand des Konflikts sind.
2. Fragt die, die es betrifft. Vor allem Frauen
Menschen, die von außenpolitischen Maßnahmen betroffen sind, sollten an den Entscheidungen mitwirken. Sie wissen am besten, was Menschen vor Ort brauchen.
Die diplomatischen Bemühungen im Konflikt zwischen Russland, der Ukraine und der NATO seien sehr weit von der Lebensrealität der Menschen in der Ostukraine entfernt, bedauert Scheyer. Lokale Aktivist:innen oder NGOs würden nicht miteinbezogen.
Dabei gibt es lokale Verhandlungsformate zwischen betroffenen Gruppen. Ein
Ähnlich verhält es sich beim Normandie-Format: Dort verhandeln die 4 Staaten Russland, Ukraine, Deutschland und Frankreich. Hier sind die Separatisten aus dem Donbass als Konfliktpartei nicht mit eingebunden, weil sie die Ukraine nicht als legitime Verhandlungspartner, sondern als »Terroristen« sieht.
Solche Weigerungen, mit »dem Feind« zu sprechen, blockieren viele Friedensprozesse weltweit. Denn zwischen den Konfliktparteien, die sich vorher gegenseitig Gewalt angetan haben, herrschen oft Ressentiments und über Generationen genährter Hass. Blockaden dieser Art setzen Feminist:innen ein weiteres Prinzip einer alternativen, wertebasierten Außenpolitik entgegen: Empathie.
3. Seid empathisch. Und reflektiert euch selbst, bevor ihr mit dem Finger auf andere zeigt
Wir sollten empathisch den anderen gegenüber sein. Egal ob eine separatistische Gruppe, ein befreundeter Staat oder ein schwieriger Verhandlungspartner – wir müssen uns fragen: Welche Erfahrungen prägen das Verhalten der anderen? Und wir sollten unsere eigene Rolle kritisch betrachten: Welche Geschichte verbindet uns mit dem anderen Land, wo lagen eigene Fehler und wie werden wir dadurch wahrgenommen?
Ein wichtiger Punkt der feministischen Außenpolitik wäre laut Scheyer zum Beispiel, sich auf die Argumente der anderen Seite einzulassen. Es gehe nicht darum, sie zu legitimieren, aber darum, sie zu verstehen.
Hinter den Forderungen Russlands nach mehr Sicherheitsgarantien etwa kann man – neben geopolitischen Interessen – auch eine gefühlte Verletzlichkeit gegenüber dem
Politiker:innen verstricken sich also in einem Spiel aus gegenseitigen Schuldzuweisungen und Interessenverfolgung. Rechenschaft für ihr Verhalten müssen sie nicht ablegen – womit wir beim letzten Prinzip einer feministischen Außenpolitik angekommen wären.
4. Hört auf Feedback »von unten«
Entscheidungsträger:innen müssen für ihre Politik zur Verantwortung gezogen werden. Betroffene Menschen müssen Maßnahmen evaluieren und berichten können, was für sie funktioniert hat und was nicht.
Es bräuchte laut Scheyer einen interaktiven, dynamischen Prozess, bei dem auch Menschen vor Ort, vor allem Frauen bzw.
Wie steht es nun mit der Umsetzung in Deutschland: Hat die Ampelkoalition diese Aspekte einer feministischen Außenpolitik schon verinnerlicht?
Wie feministisch ist Deutschlands Außenpolitik?
Auf Anfrage, was konkret mit »feminist foreign policy« im Koalitionsvertrag gemeint sei, antwortet das Auswärtige Amt, dass das Konzept in den kommenden Wochen genauer definiert würde. Auch Scheyer arbeitet an diesem Prozess mit: Die IFFF hat sich mit 16 weiteren Menschenrechtsorganisationen in Deutschland zum
Auch wenn man feministische Außenpolitik eines Landes laut Scheyer nicht an einer Person festmachen kann, meint sie am Verhalten der neuen Außenministerin einiges zu erkennen, was auf eine feministische Neuausrichtung der deutschen Strategie hindeutet.
So reiste die deutsche Außenministerin bei ihrem Besuch der Ukraine am 8. Februar in den Donbass und rückte somit die Lage der Menschen im Kriegsgebiet und ihr Leid wieder in den
Baerbocks Rede bei der diesjährigen
Das zeigt, worum es wirklich geht, wenn wir über Minsk reden. Es ist nicht nur ein Verhandlungsformat. […] Sondern es geht um menschliche Sicherheit. Darum, ob Familien, Kinder in der Mitte Europas, in der Mitte unseres Europas, sicher und in Frieden aufwachsen können.
Titelbild: picture alliance/dpa | Bernd von Jutrczenka - copyright