Wenn die eigene Mutter im Kriegsgebiet festsitzt. Protokoll einer Flucht
Unsere Autorin lebt in Berlin, ihre Mutter in Kyjiw. Nach der Invasion der russischen Armee ist klar: Dort kann sie nicht bleiben. Doch wie organisiert man eine Flucht aus der Ferne?
Den folgenden Text hat unsere Autorin zuerst auf ihrer privaten Facebook-Seite veröffentlicht – um ihre Freund*innen zu informieren und auf dem Laufenden zu halten.
25.02.2022, 22:11 Uhr
Gestern hat Russland mein Heimatland, die Ukraine, überfallen. Ich bin in Berlin.
In den letzten 24 Stunden habe ich bestimmt schon 2, 3 Kilos verloren. Meine 64-jährige Mutter hat fast diese ganze Zeit in einem kalten, nicht fertig gebauten Luftschutzbunker mit fremden Menschen in
Wenn ich sehe, dass meine Nachrichten nicht zugestellt werden, bin ich erst mal ruhig. Sie ist unten und hat dort keinen Empfang. Die schrecklichsten Stunden für mich waren die zwischen 8 und 12 Uhr, als meine Nachrichten zugestellt wurden, meine Mutter sie aber nicht gelesen hat. Sie wollte kurz warme Klamotten holen, doch auf dem Weg hörte sie einen Beschuss und warf sich zu Boden. Dann lief sie wieder schnell in den Bunker, ohne die Nachrichten gelesen zu haben.
Den ganzen Tag habe ich versucht, einen Weg hinaus aus der Stadt für sie zu organisieren. Bis ich verstanden habe, dass dies jetzt sehr gefährlich für sie wäre und es für den Moment besser ist, wenn sie in diesem Schutzbunker sitzt, mit Menschen, die ihr vielleicht nicht mehr ganz so fremd sind.
Am Abend, als wieder kurz Ruhe einkehrte, war sie fest entschlossen, sich auf den Weg zum Bahnhof zu machen. Und ich habe es sogar geschafft, ein Zugticket nach Lwiw für sie zu besorgen. Doch wie kommt man zum Bahnhof? Es fahren keine Taxis und keine öffentlichen Verkehrsmittel. Zu Fuß würde sie 2 Stunden laufen – und das mit Gepäck, durch eine Stadt, in der gekämpft wird. Bis wir Optionen per Whatsapp besprechen, gehen wieder die Sirenen los. Man sagt, es könnte ein Angriff auf den Flughafen kommen. Der Flughafen, neben dem sie wohnt. Sie geht wieder in den Bunker. Wir hoffen, dass er trotz des sehr ungemütlichen Ambientes sicher ist.
Morgen unternehmen wir einen neuen Versuch, meine Mutter aus der Stadt zu holen, wenn es irgendwie geht. Mit dem Zug wird sie schon irgendwie wegkommen, auch wenn das Ticket schon verfallen ist.
Eigentlich wäre sie morgen ganz normal mit dem Flugzeug gereist. Letzten Montag, als Putin seine verlogene Rede über die Anerkennung der sogenannten »Republiken« gehalten hat, haben wir ein Ticket gekauft. Da haben wir noch überlegt, dass wir sie bitten werden, uns zum Brunch am Sonntag
26.02.2022, 14:44 Uhr
#MamaUpdate
Heute früh bin ich mit etwas mehr Kraft aufgewacht, schließlich habe ich endlich mal 5–6 Stunden geschlafen. Als Erstes lese ich die Nachrichten von meiner Mutter, die sie mir um 03:44 Uhr geschickt hat: »Inga, kaufe erst mal keine Zugtickets. Heftige Kämpfe. Uns wurde befohlen, den Bunker nicht zu verlassen.« Um 6 (in Kyjiw also um 7) ist es wieder ruhiger und sie geht nach Hause. Packt. Wärmt sich auf. Klebt die Fenster zu. Ich versuche mein Glück beim Ticketkauf, zuerst klappt es nicht und dann – Wow! – gelingt es mir tatsächlich, eins zu ergattern. Der Zug nach Lwiw geht um 14:07 Uhr, also muss sie jetzt irgendwie zum Bahnhof kommen.
Um 07:37 Uhr bekomme ich eine Nachricht im Telegram-Channel der Kyjiwer Stadtverwaltung, dass eine Rakete ein Wohnhaus getroffen hat. In unserem Bezirk. 2 Menschen sind gestorben, 4 verletzt, 2 davon schwer. Das ist mein Kiez, hier bin ich aufgewachsen.
Im Nachbarhaus wohnen die Eltern meiner Freundin Lusya Belyaeva, die übrigens seit 54 Stunden im Auto sitzt, auf der Flucht, jetzt bereits viele Stunden an der ukrainisch-polnischen Grenze. In einem anderen Telegram-Chat lese ich, dass in unserem Bezirk auch 2 Lagerräume brennen, nachdem sie von einer Granate getroffen wurden, dadurch verloren 2 Menschen ihr Leben.
Meine Mutter telefoniert ihre Freunde ab, einer verspricht, sie um 11 Uhr mit dem Auto zum Bahnhof zu fahren. Gegen 11 Uhr lese ich die Meldung der Stadtverwaltung: »Bitte verlasst eure Häuser nicht. Es sei denn, ihr geht in den Bunker. Wir verteidigen unsere Stadt!« Ich schreibe ihr und frage, ob es denn mit der Abholung geklappt hat. »Nein«, antwortet sie mir in einer Sprachnachricht, »die Frau des Freundes hat ihm verboten zu fahren. Ich bin schon auf dem Weg, ich gehe zu Fuß.« Ich entscheide mich, ihr die Nachricht der Stadtverwaltung nicht zu schicken, um sie nicht noch mehr zu beunruhigen. Und warte hilflos in meiner Berliner Wohnung.
Nur damit ihr versteht: Eine 1–2-stündige Sightseeingtour zu Fuß in Rom war schon etwas zu viel für meine Mutter, als wir vor 5 Jahren gemeinsam eine Reise dorthin gemacht haben. Ihre Gelenke sind schwach, sie geht sehr langsam. Und jetzt geht sie also die 4,5 Kilometer zu Fuß. Mit Rucksack und Koffer. Durch unsere Stadt, die uns Russland wegnehmen will.
Wenn wir telefonieren, klingt sie munter. Sie ist am Bahnhof angekommen. Sie konnte sogar in den Zug steigen und fährt. Das ist eine riesengroße Erleichterung. Aber dieser Tag ist noch lange nicht vorbei. Sie muss in Lwiw noch in den Zug nach Przemyśl steigen.
#StopPutinNOW #BanRussiafromSwift #StandWithUkraine #noflyzoneoverukraine
27.02.2022, 02:00 Uhr
Meine Mutter ist im Zug Lwiw–Przemyśl, nach 2 Nächten im Bunker ohne Schlaf und nach einer Odyssee durch die ganze Ukraine. Auf dem Weg in den Frieden, wo großartige Menschen aus Polen und Deutschland sie abholen werden. Wenn alles gut geht, werden wir uns morgen umarmen.
In dieser Zeit wird meine Heimatstadt zerbombt. Mein freies, buntes, vitales Kyjiw, in dem ich noch vor Kurzem wilde queere Techno-Partys feierte, mit Freundinnen in coolen Bars saß und in moderne interaktive Ausstellungen ging. Die ukrainische Armee leistet Widerstand, aber diese Barbaren wollen es einfach vernichten. Sie wollen dort eine andere Welt aufbauen, die Welt der »traditionellen Werte«, des Autoritarismus, der Sklaverei.
Ende Januar, als ich zum letzten Mal in Kyjiw war, besuchte ich meine Freund*innen oft zu Hause. Wegen Omikron wollten wir nicht viel in überfüllten Räumen sein, wegen des Winters konnten wir uns nicht lange draußen treffen. Das waren sehr schöne Abende.
Meine Freund*innen, die meisten wie ich so Mitte 30, sind jetzt in einer Phase, in der sie sich in ihrem Leben einrichten. Sie haben Geld gespart oder Kredite aufgenommen, um Wohnungen zu kaufen, oder sie haben geerbt. Sie haben ihre Wohnungen richtig schick gemacht, renoviert, mit Geschmack, mit Aussicht auf eine Zukunft. Viele haben kleine Kinder oder wollen bald welche kriegen. Jetzt mussten sie ihre Wohnungen zurücklassen und fliehen, ohne zu wissen, ob sie je wiederkommen. Es gibt auch solche, die geblieben sind. Und schon die dritte Nacht in Folge mit ihren kleinen Kindern in einem Keller auf dem Boden schlafen müssen. Wie lange werden sie das aushalten?
Auch ich weiß nicht, ob ich je in unsere Kyjiwer Wohnung zurückkommen kann. Dort bin ich aufgewachsen. Dort habe ich das Gefühl, zu Hause zu sein. Es war immer ein Vorteil, vom Flughafen in nur 5 Minuten zu Fuß nach Hause laufen zu können. Nun ist dieser Flughafen ein Ziel der Feinde.
Ich schreibe das und kann das immer noch nicht glauben: Wie kann es sein, dass dieser absolute Horror hier und jetzt mit uns passiert? Wo doch die Ukraine auf einem so guten Weg war, es so viele Hoffnungen gab, egal ob in Kultur, Wirtschaft, Digitalisierung oder Zivilgesellschaft. Wie kann es sein, dass meine Freund*innen sich auf dem Land verstecken müssen oder ins Ausland fliehen? Ich denke an jede und jeden – mein Herz bricht jeden Tag tausendmal. Das ist solch eine unmögliche Ungerechtigkeit, dass man nur noch schreien kann.
01.03.2022, 17:30 Uhr
Ich dachte, wenn meine Mutter es in den Zug Lwiw–Przemyśl geschafft hat, ist sie fast am Ziel. Normalerweise dauert diese Verbindung 2 Stunden. Doch es ist nichts normal im Krieg. Die ganze Nacht versuche ich den Kontakt mit ihr zu halten – und diesseits der Grenze mit 2 tollen Frauen, Freundinnen meiner Ex-Kollegin, die sich bereit erklärt haben, sie abzuholen. Ich nicke kurz ein, werde aber immer wieder von Whatsapp-Nachrichten geweckt. Ich kann den Ton nicht ausschalten, weil jede Nachricht lebenswichtig sein kann.
Um 11 Uhr, als meine Mutter immer noch im vollgepackten stillstehenden Zug sitzt, ohne Klo und ohne jegliche Information, wann es endlich weitergeht, machen wir uns auf den Weg. Ich, meine Lebenspartnerin Heike und meine Freundin Sasha. Meine Mutter schreibt, dass sie Schmerzen in der Brust hat und Angst, nicht länger durchhalten zu können. Kurz darauf verschwindet der Empfang. Ich tröste mich damit, dass sie jetzt wohl in Polen sei. Probleme mit dem Roaming, Akku leer, sonst etwas. Heike, Sasha und ich fahren los. Sashas Tochter, die in Berlin bei ihrer anderen Mutter bleibt, weint beim Abschied, weil sie ihren Roller in der Kita vergessen hat. Ich weine, weil ich Angst um meine Mutter habe, und um 44 Millionen Ukrainer*innen, die wegen eines mörderischen imperialen Wahns von Wladimir Putin nun um ihr Leben kämpfen müssen.
Wir fahren den ganzen Tag – zuerst durch Deutschland, dann durch Polen. Mit Heike und Sasha fühle ich mich in Sicherheit, fast so, als würden wir gerade Urlaub machen. Nur klingt gerade jede Musik deplatziert und unpassend. Wir sehen immer mehr ukrainische Autos auf der Autobahn, einige mit Aufklebern: »Putin, Du Arschloch«. Als wir gegen 23 Uhr endlich in Przemyśl angekommen sind, ist meine Mutter immer noch nicht da. Es vergehen noch 5,5 Stunden, bis sie endlich auftaucht. Ich glaube, ich fühle Glück, aber ich bin so müde, dass ich kaum etwas fühlen kann. Dank des Angebots eines Bekannten können wir im Haus seiner Verwandten endlich wieder für 3–4 Stunden in den Schlaf fallen. Ich träume von Explosionen und fühle mich, als wäre ich gestorben.
Am nächsten Tag, als wir Richtung Berlin fahren, erzählt meine Mutter immer wieder von Dingen, die niemand erlebt haben sollte. Natürlich hat sie gehört, wie die Rakete in ein Haus in unserem Bezirk eingeschlagen ist.
Sie hat sie sich trotzdem gleich danach auf den Weg zum Bahnhof gemacht, sie konnte sich keine weitere Nacht im Bunker vorstellen. Während sich Sasha und Heike beim Autofahren abwechseln, halte ich immer wieder die Hand meiner Mutter auf der hinteren Autobank fest. Sie ist da, sie ist diesem Albtraum entflohen. Aber viele, viele sind noch darin gefangen. Und auch uns wird dieser Albtraum nie ganz verlassen.
Redaktionelle Bearbeitung: Katharina Wiegmann
Titelbild: privat - copyright