»Ich habe alles getan, was ich konnte, um diesen Krieg zu verhindern«
Anna Fimina arbeitet für den russischen TV-Sender Doschd. Bis zuletzt gehörte sie zu den wenigen kritischen Stimmen im Land. Dann musste sie fliehen. Hier berichtet sie über die letzten Sendetage und ihre aktuelle Situation.
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Mittwoch, 2. März 2022, 16 Uhr (MEZ). Ich öffne mein Zoom-Fenster für ein Gespräch mit einer russischen Journalistin. Ihr Bild wird langsam klarer. Mir gegenüber sitzt eine junge Frau, die ungefähr im gleichen Alter ist wie ich. Anna Fimina ist 25 Jahre alt und Journalistin beim unabhängigen russischen Fernsehsender Doschd. Sie sitzt an einem Tisch, hinter ihr ein Bett, große Fenster, in der Ecke liegt eine Reisetasche. Wo genau sie ist, kann sie mir nicht erzählen. Zu ihrer eigenen Sicherheit. Denn gestern musste sie aus Russland fliehen.
Дождь – Doschd
Doschd heißt Regen – und Doschd war der letzte unabhängige russische Fernsehsender. Gegründet wurde der Sender 2010 von Natalia Sindejewa, damals noch Moskauer
»Ich bin extrem müde. Als das alles [der Krieg, Anmerkung d. Redaktion] losging, begannen wir rund um die Uhr zu arbeiten und starteten eine Livesendung. Alle meine Kolleg:innen kamen zur Arbeit, auch wenn sie nicht hätten arbeiten müssen. Viele waren bereit, den ganzen Tag zu arbeiten – wir unterstützten uns gegenseitig in dieser neuen Situation.
Die russische Öffentlichkeit sagt, wir seien ein ›oppositioneller Sender‹, aber wir sehen das anders. Wir sind der Auffassung, dass wir ein Sender sind, der den Menschen Nachrichten mitteilt, Informationen liefert und diese miteinander vergleicht.
In Russland gibt es jede Menge staatlicher Fernsehsender, die Propaganda über den Krieg in der Ukraine zeigen, aber sie nennen es nicht ›Krieg‹. Es handele sich um eine ›Spezial-Militäroperation‹.
Das ist, was Putin denkt, und das ist, was die Propaganda den Menschen sagt.
Wir dagegen haben gesagt: ›Ja, das ist ein Krieg. Russland hat die Ukraine überfallen.‹ Am 26. Februar wurde uns verboten, das Wort ›Krieg‹ während unserer Sendung zu verwenden. Der Kreml besteht auf seine Versionen. Sagen wir ›Krieg‹, sagt die Regierung
Deswegen mussten auch wir von einer ›Spezial-Militäroperation‹ sprechen. Wir haben das nicht eins zu eins übernommen, sondern stattdessen gesagt: ›Der Kreml nennt es eine Spezial-Militäroperation.‹
Ich bin extrem müde, denn ich arbeite normalerweise nachts. Wegen des 24-Stunden-Programms hat sich mein Rhythmus geändert und jetzt kann ich in der Nacht nicht schlafen. Aber ich kann mich auch nicht dazu durchringen, am Tag zu schlafen. Denn tagsüber erreichen einen die meisten Nachrichten.
Es ist jetzt der sechste Tag seit
Ich arbeite jetzt seit 4 Jahren bei Doschd. In meinem letzten Jahr an der
Ich wusste, dass Doschd sehr aufgeschlossen ist: Ein freier Fernsehsender. Mir war bewusst, dass Menschen aus allen Schichten Doschd schauen und dass damit eine enorme Freiheit verbunden war. Also bin ich einfach hingegangen und habe gesagt: ›Bitte lasst mich ein kleiner Teil von euch sein!‹ Es hat funktioniert.
»Ich will so schnell wie möglich zurück«
Bevor der Krieg ausbrach, brachten wir Nachrichten, Interviews, Wirtschaftsprogramm und politische Themen. Doschd ist kein klassischer Fernsehsender: Wir werden durch die Abonnements unserer Zuschauer:innen finanziert.
Unser Chefredakteur Tichon Dsjadko hat unser Geschäftsmodell vor einer Weile geändert: Früher konnten nur Abonennt:innen auf unser Angebot zugreifen, jetzt gibt es keine Paywall mehr. Jede:r kann unser Programm sehen. Wir haben einen
Ob mir früher schon bewusst war, dass Journalist:innen in Russland gefährlich leben? Vielleicht. Ich erinnere mich nicht so recht, vielleicht war es mir nicht bewusst. Ich habe schon darüber nachgedacht, aber es war mir einfach nicht so wichtig. Ich habe einen gewissen jugendlichen Drang in mir, den ich zum Ausdruck bringen will. Ich will zur Meinungsfreiheit beitragen, Menschen die Wahrheit sagen. Ich will, dass Menschen die Wahrheit erfahren. Deswegen war die potenzielle Gefahr einfach kein Thema für mich. Vielleicht war mir auch einfach nicht bewusst,
Gestern Morgen [1. März, Anmerkung d. Redaktion] wurden die Strafverfolgungsbehörden angewiesen, gegen Doschd zu ermitteln. Wir wussten alle, dass das eine Sperrung bedeutet. Wir bekamen den anonymen Tipp, dass die
In der Nacht vom ersten auf den zweiten März habe ich Russland verlassen. Alles passierte extrem schnell, es war eine sehr kurzfristige Entscheidung für meine Kolleg:innen und mich. Gestern Morgen machte unser Chefredakteur öffentlich, dass er das Land verlassen hat und der Großteil von uns tat es ihm gleich. Die meisten von uns sind
In dieser Nacht verstand ich so richtig, wie sehr ich meinen Job und mein Land liebe.
Ich will so schnell wie möglich zurück, aber es ist nicht zu 100% sicher, mit welchen Konsequenzen ich rechnen muss, würde ich zurückkehren. Alle freien Journalist:innen, alle, die ihren Job lieben und immer dazu bereit waren, zu recherchieren, wurden enorm unter Druck gesetzt und sind geflohen. Die Entscheidung der Regierung, Doschd zu schließen, ist der letzte Schritt, sämtlichen freien Journalismus in Russland zu verhindern.
»Der Journalismus in Russland ist tot«
Ich wollte schon immer die Möglichkeit haben, mal in einem anderen Land zu leben. Ich habe Kulturwissenschaften studiert und auch ein journalistisches Interesse daran, das Leben in einem anderen Land kennenzulernen. Aber es ist so viel besser, wenn man sich selbst dafür entscheidet wegzugehen und es nicht die Regierung ist, die will, dass du gehst. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Der Journalismus in Russland ist tot.
Gleichzeitig glaube ich aber auch, dass ich keine guten Chancen habe, für internationale Medien zu arbeiten. Wegen des Krieges weiß ich nicht, was mich im Ausland erwarten würde.
In der kurzen Zeit seit Kriegsausbruch hat sich schon ein neuer Witz etabliert: ›Wo kommst du her? Aus Russland. Aber bitte, lass mich erklären …‹
Es ist sehr wichtig, die Bevölkerung von der Regierung zu trennen. In diesem Krieg geht es nicht pauschal um alle Russ:innen. In diesem Krieg geht es um die Regierung und die Politik. Und ja, ich habe Angst, dass ich verurteilt werde, nur weil ich Russin bin. Ich weiß nicht, wie ich den Leuten klar machen soll, dass dieser Krieg nicht meine Schuld ist. Ich habe alles getan, was ich konnte, um diesen Krieg zu verhindern: Menschen die Wahrheit erzählen, Fakten verbreiten. Und jetzt weiß ich nicht, was ich noch von der Zukunft erwarten soll.
Letzte Nacht, als ich anfing, für meine ›Reise‹ mit unbekanntem Ziel zu packen, war ich so durcheinander, dass ich nicht mal mehr so richtig gesehen habe, welche Klamotten ich eingepackt habe. Ich wollte Russland nicht verlassen und ich wollte mich nicht von meinen Kolleg:innen trennen. Alle waren verunsichert. Meine Mutter war verunsichert. Ich weiß nicht, ob und wann ich sie wieder sehen werde. Ich weiß es einfach nicht.
Als Russland im Jahr 2014 die Krim annektierte, dachte ich: ›Okay, das muss das Zeichen für alle Russen sein, dass etwas nicht stimmt.‹ Aber das war nicht der Fall. Die Menschen lebten ihre Leben weiter und wollten von der ganzen Sache nichts wissen.
Als dieser Krieg begann, dachte ich, die Menschen würden nun endlich verstehen, wie furchtbar das ist. Aber das war nicht der Fall. Als Putin ankündigte, die Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft zu versetzen, dachte ich: ›Das ist das Zeichen, jetzt müssen die Menschen doch begreifen, wie schlimm das ist!‹ Ich dachte, jede:r hätte spätestens jetzt Angst und dass die Menschen etwas unternehmen wollen. Aber auch das war nicht der Fall.
Schließlich haben wir auch noch unsere internen Probleme im Land. Unsere Wirtschaft funktioniert nicht, der Rubelkurs ist extrem niedrig und mal ganz ehrlich gesagt: Wir haben einfach kein Geld. Selbst die Menschen aus den ländlichen Regionen müssten doch jetzt begreifen, dass etwas nicht stimmt.
Ich verstehe nicht, wie manche Menschen immer noch glauben können, dieser Krieg sei eine ›Spezial-Militäroperation‹. Viele Menschen denken, wir würden den Ukrainern helfen. Ich verstehe diese Menschen nicht. Ich verstehe nicht, was sie denken und wie sie denken.«
Zum Ende hin fällt es Anna Fimina immer schwerer, ihre Gedanken zu sortieren. Sie hat seit 30 Stunden nicht geschlafen. Aber sie will, dass ich weiß, dass sie alles in ihrer Macht Stehende versucht hat, um diesen Krieg zu verhindern.
In der ARD-Mediathek gibt es gerade eine Dokumentation über den Fernsehsender von Anna Fimina und ihren Kolleg:innen. Sie heißt »F@ck this job – Abenteuer im russischen Journalismus« und erzählt die faszinierende Geschichte eines Senders, der sich vom flockigen Lifestyle-Sender zum Kämpfer für Qualitätsjournalismus gewandelt hat. Hier kannst du den Film streamen.
»Hier geht es zur deutschen Version des Artikels!«
»I did everything I could to stop this war«
Wednesday, 2nd of March 2022, 4pm (Berlin Time). I click on the zoom-icon on my laptop to meet with a Russian journalist. Her picture is a bit blurry at first, but slowly the picture clears up. Now I see a young woman in front of me, who is about my age. Anna Fimina is 25 years old and works as a journalist at an independent Russian TV-Channel called »Dozhd«. She is sitting at a desk, behind her I can see a bed, big windows, and a travel bag standing in the corner of the room. She can’t tell me where she is exactly. For her own safety. Last night she had to flee from Russia.
Дождь – Dozhd
The Russian word Dozhd means rain – and Dozhd was the last independent TV channel in Russia. It was founded in 2010 by Natascha Sindeewa, back then a Moscow
»I am extremely tired. When everything [the war] started, we began to work 24/7 and started a live broadcast. It was very interesting to see all my colleagues turning up for work, although they did not have to. Everyone was ready to work all day – we supported each other in this new situation.
The Russian public call us an ›oppositional channel‹, but we do not see it that way. We think that Dozhd is a news channel that shows news and gives out information. There is a lot of state-controlled media in Russia that shows propaganda regarding the war in Ukraine. But they do not call it ›war‹. They say it is a ›special military operation‹. That is what Putin thinks and what the propaganda tells the people.
We on the other hand said: ›Yes, it is a war. Russia invaded Ukraine‹. On the 26th of February we were forbidden to use the word ›war‹ in our program. The Kremlin insists on its own versions. When we say ›war‹, the government replies
That is why we had to start calling it a ›special military operation‹ as well. But we did not phrase it like that. We put it that way: ›The kremlin calls it a special military operation‹.
I am extremely tired because I usually work during the night. Due to the 24/7 program my rhythm changed and now I cannot sleep anymore during the night. But I cannot bring myself to sleep during the day either because most of the news reach you during daytime.
It has been 6 days
I have been working at Dozhd for 4 years now. In my last year at
I knew that Dozhd was very open-minded. A free television station. I was aware that all kinds of people watch Dozhd and that there was a huge freedom associated with it. So I just went and said ›Please let me be a small part of you!‹. It worked.
»I want to go back as soon as possible«
Before the war started, we would broadcast news, special interviews, economical and political issues. But Dozhd is not a classic TV-Channel: we are financed by the subscriptions of our viewers only.
Our editor-in-chief, Tikhon Dzyadko, changed our business model a while ago. Before only subscribers could access our program. Now there is no paywall; everyone can watch our content. We also have a
Have I been aware that being a journalist is a dangerous job in Russia before I started the job? Perhaps. I do not really remember, maybe I was not aware of it. I have thought about it, but it just was not that important to me. I have a certain youthful urge in me that I want to express. I want to contribute to the freedom of expression, to telling people the truth. I want people to know the truth. That is why the potential danger was simply not an issue for me. Maybe I just did not want to realize how dangerous it really is for journalists in
Yesterday morning [1st of March] the law enforcement agency was ordered to investigate Dozhd. We all knew that we would have to close down. We got an anonymous tip beforehand that the police will come to our
We decided together that everyone at Dozhd could decide for themselves whether he or she wanted to stay in Russia or flee. At first of course we wanted to stay, we all love our job.
I left Russia in the night from the 1st to the 2nd of March. Everything happened extremely quick, it was a very last-minute decision for my colleagues and me. Yesterday morning our editor-in-chief made it public that he had left the country and most of us did the same. Most of us are
The danger of being arrested was simply too high.
That night I really understood how much I love my job and my country.
I want to go back as soon as possible, but it is not 100% certain what consequences I would have to face if I were to return.
All freelance journalists, all those who love their job, who were always ready to investigate, to compare facts, were put under enormous pressure and fled.
The government’s decision to close Dozhd is the last step to prevent all free journalism in Russia.
»Journalism in Russia is dead«
I always wanted to have the opportunity to live in another country. I studied cultural studies and I also have a journalistic interest in learning about life in another country. But it is so much better when you choose to go yourself and it is not the government that wants you to leave. I do not know what to do. Journalism in Russia is dead.
But at the same time, I do not think I have a good chance of becoming a part of any international media. Because of the war, I do not know what I can expect abroad.
In this short time, since the outbreak of war, a new joke has already established itself: ›Where are you from? From Russia. But please, let me explain first …‹
It is very important to separate the citizens from the government. This war is not about all Russians in general. This war is about the government and politics.
And yes, I am afraid that I will be judged just because I am Russian. I do not know how to make people understand that this war is not my fault. I did everything I could to prevent this war: Telling people the truth, spreading facts. And now I don’t know what else to expect.
Last night, when I started packing for my ›trip‹ to an unknown destination, I was so confused that I could not even focus on the clothes I had to pack. I did not want to leave Russia and I did not want to be separated from my colleagues. Everyone felt insecure. My mother felt insecure. I do not know if and when I will see her again. I just do not know.
When Russia annexed Crimea in 2014, I thought, ›Okay, this must be the sign for all Russians that something is going wrong‹. But it was not. People went on living their lives and did not want to know about the whole thing.
When this war started, I thought people would finally understand how terrible it was. But that was not the case.
When Putin announced that he was putting nuclear forces on alert, I thought, ›This is the sign, now people must realize how bad this is‹. I thought everyone would be scared by now at latest and that people would want to do something. But that was not the case.
After all, we still have our internal problems within Russia. Our economy is not working, the ruble exchange rate is extremely low and, to be quite honest, we simply have no money. Even the people from the rural regions should have realized by now that something is going wrong.
I do not understand how some people can still believe that this war is a ›special military operation‹. Many people think we are helping the Ukrainians. I do not understand these people. I do not understand what they think and how they think.«
Towards the end, Anna Fimina finds it harder and harder to sort out her thoughts and to put them into words. She has not slept for 30 hours. But it is important to her that I do not think she is weak. She wants me to know that she has tried everything in her power to prevent this war.
Titelbild: Denis Kaminev/Dozhd - copyright