Was hilft, wenn die eigene Mutter plötzlich an Verschwörungsideologien glaubt? Diskutieren? Den Kontakt abbrechen? Abwarten? Seit Pandemiebeginn müssen sich immer mehr Menschen mit Fragen wie diesen auseinandersetzen – und mit jeder Krise werden es ein paar mehr. In Telegram- und Facebook-Gruppen, in denen sich Coronaleugner:innen vernetzen, geht mittlerweile auch Pro-Russische-Propaganda um und
.
Wenn ein Familienmitglied in radikale Ideen abdriftet, an eine Weltverschwörung glaubt, wird es schwierig, im Gespräch zu bleiben. Die Journalistin und Radikalisierungsexpertin Dana Buchzik ist sich trotzdem sicher: Niemand ist wirklich verloren, egal wie ausweglos die Situation scheint.
Buchzik hat sich nicht nur wissenschaftlich mit dem Thema Radikalisierung auseinandergesetzt, sondern weiß auch aus eigener Erfahrung, wovon sie redet: Sie ist selbst in einer Sekte aufgewachsen und schaffte es
. Seitdem beschäftigt sie das Thema. Im Interview erklärt sie, wie wir den Kontakt zu radikalisierten Personen nicht verlieren – und sie bestenfalls zurückholen können.
Lara Malberger:
Du bist als junge Erwachsene selbst aus einer Sekte ausgestiegen, in die du hineingeboren wurdest – heute berätst du Menschen, deren Familien oder Freundschaften in die Brüche gehen, weil sich ihr Gegenüber radikalisiert. Warum machst du das?
Dana Buchzik:
Ich hatte nicht das Gefühl, eine Alternative zu haben. In meinen Augen ist es ein Privileg, wählen zu können, ob man sich mit Parallelgesellschaften auseinandersetzt, und aufgrund meiner Biografie hatte ich dieses Privileg einfach nicht. Mich hat deswegen schon sehr früh die Frage beschäftigt: Wie funktioniert dieser Zauber? Warum glauben manche so felsenfest an etwas, was anderen vollkommen absurd erscheint? Und natürlich habe ich auch Unverständnis und eine gewisse Wut darüber empfunden, dass sich die Politik so wenig für die Schicksale interessiert, die in solchen Parallelgesellschaften zerbrechen. Mit den Jahren hatte ich einfach immer mehr das Gefühl, dass ich das nicht so stehen lassen kann. Dass ich nicht einfach mein Leben leben kann und so tun kann, als gäbe es diesen Riss durch unsere Gesellschaft nicht.
Was erlebst du aktuell in den Gesprächen mit Menschen, die sich einen Rat von dir erhoffen?
Dana Buchzik:
Ich erlebe vor allem, dass die Emotionen höherschlagen. Dass sich Menschen mit einem sehr hohen Anspannungsniveau melden und sagen: Ich kann nicht mehr, ich brauche jetzt auf der Stelle Hilfe. Einmal hat mir eine Person an einem Sonntagmorgen geschrieben; ich habe die E-Mail abends gesehen und geantwortet, und sie schrieb nur, jetzt sei es zu spät, jetzt hätte sie sich schon von ihrem Partner getrennt. Auch wenn ich verstehe, dass die Pandemie uns alle an unsere emotionalen Grenzen bringt: Zu erwarten, dass jemand, der ehrenamtlich arbeitet, 24/7 verfügbar ist und an einem Sonntagmorgen in Echtzeit auffängt, was über Jahre verdrängt wurde – das ist einfach schwierig.
Was bedeutet »radikal« denn im eigentlichen Sinne?
Dana Buchzik:
Radikal bedeutet im eigentlichen Wortsinn nichts Schlechtes. »Radix« kommt aus dem Lateinischen und steht für »Wurzel«. Wer radikal ist, möchte also Probleme nachhaltig lösen, indem er sie mit der Wurzel aus dem Boden reißt. Ich unterscheide eher zwischen nicht problematischer und problematischer Radikalität, und problematisch wird es in meinen Augen dann, wenn die Rechte anderer Menschen ignoriert und verletzt werden.
Anderen Definitionen zufolge ist jemand erst dann radikal, wenn er oder sie selbst dazu bereit ist, Gewalt einzusetzen, um die eigene Ideologie zu verbreiten. Was stört dich an diesem Verständnis?
Dana Buchzik:
Wenn wir das Wort »radikal« nur für offen gewalttätige Personen reservieren, werden wir blind für andere Formen der Menschenfeindlichkeit. Viele tun zum Beispiel rassistische Parolen oder Verschwörungsgläubigkeit im Umfeld als harmlos ab, als kleinen Spleen oder schwierige Phase. Genau das ist auch in den Jahren vor der Pandemie passiert, und dann war das Staunen groß, als der rassistische Onkel oder die Impfgegnercousine scheinbar plötzlich bei Querdenken-Demos mitgelaufen sind.
Menschen werden also nicht plötzlich radikal, sondern es gibt schon vorher erste Anzeichen. Welche sind das, worauf kann ich achten?
Dana Buchzik:
Aufmerksam sollten wir vor allem bei krassen Umbrüchen werden, gerade in Kombination mit Missionierungsdrang. Wenn zum Beispiel der Partner plötzlich einen Job aufgibt, der ihm immer wichtig war, und sich herausstellt: Er will jetzt für einen Geistheiler arbeiten, von dem er sich gerettet fühlt. Oder wenn sich der Teenagersohn, der vorher ständig unterwegs war, plötzlich im Zimmer einschließt und ständig aus dem Koran oder der Bibel zitiert. Wenn jemand seinen Alltag, sein Aussehen, seine Sozialkontakte stark verändert und dabei immer wieder über eine Person oder eine Gruppe redet, die vermeintlich sein Leben verändert hat, ist Vorsicht geboten. Bei Rechtsradikalen haben wir diesen Missionierungsdrang allerdings meist nicht, da zeigt sich die problematische Radikalisierung vor allem im sozialen Rückzug.
Wenn ich solche Anzeichen bei einer Person aus meinem Umfeld entdecke: Was kann ich tun?
Dana Buchzik:
Im ersten Schritt: Unterstützung suchen. Das kann eine Beratungsstelle sein, das kann aber auch ein Netzwerk aus gemeinsamen Freund:innen oder Angehörigen sein. Je mehr Menschen an Bord sind, desto schneller lässt sich verstehen, welche konkrete Funktion die Radikalisierung für die Person im Alltag hat, und desto bessere Alternativangebote können wir machen.
Im zweiten Schritt: Keine Faktensammlungen und keine Diskussionen mehr. Wir müssen Raum für die radikale Ideologie schaffen
Und im dritten Schritt: Einen Raum für die radikale Ideologie in unseren Gesprächen schaffen – und für unsere Haltung dazu. Wir sind nämlich nicht die Einzigen, die sich von der Haltung unseres Gegenübers belastet fühlen; ihm oder ihr geht es mit uns genauso. Wir können zum Beispiel eine Zeit in der Woche festlegen, die für persönliche Überzeugungen reserviert ist und in der es auch keine Unterbrechungen und keinen Widerspruch gibt, solange keine persönlichen oder juristischen Grenzen verletzt werden. Außerhalb dieser Zeit wird aber nur über andere Themen gesprochen. Das erinnert beide Seiten daran, dass sie auch vor der Radikalisierung eine Beziehung hatten und dass diese Beziehung es wert ist, gepflegt zu werden.
Du sagst ganz entschieden: Gegenrede und Diskussionen helfen nicht dabei, Menschen zu überzeugen. Wieso?
Dana Buchzik:
Psychologische Studien zeigen seit den 50er-Jahren, dass Gegenrede bei den allermeisten Menschen kein Umdenken auslöst, sondern nur dazu führt, dass sie sich noch stärker an ihrer Meinung festklammern. Die Psychologie nennt das »belief perseverance«, also
Dieser Effekt ist bei radikalen Menschen noch größer, weil die Ideologie alle individuellen Meinungen, Interessen und Ziele unterdrückt. Der radikale Mensch hat also gefühlt nichts mehr im Leben außer seinem Glauben und seiner Glaubensgemeinschaft. Wenn dieser Glaube hinterfragt wird, fühlt sich das für ihn wie ein akut lebensbedrohlicher Angriff an, und entsprechend heftig wird er auch reagieren.
Sind Faktenchecks und Gegenrede im Netz dann kontraproduktiv?
Dana Buchzik:
Das hängt davon ab, was wir erreichen wollen. Faktenchecks sind in meinen Augen eine wertvolle Ressource, falls eine radikale Person tatsächlich ins Zweifeln kommt und sich im eigenen Tempo informieren möchte. Gegenrede halte ich für Zeit- und Energieverschwendung. Wir werfen ja unsere tiefsten Überzeugungen auch nicht über den Haufen, nur weil eine fremde Person in eine Kommentarspalte schreibt: Ist übrigens alles Quatsch, was du glaubst. Warum sollten wir das dann von anderen erwarten?
Aber ist Gegenrede nicht politisch wichtig, um sichtbar zu machen, dass radikale Behauptungen nicht von einer schweigenden Mehrheit geteilt werden? Diesen Eindruck könnte man ja bekommen, wenn niemand widerspricht.
Dana Buchzik:
Wie gesagt: Es hängt davon ab, was unser Ziel ist. Ich bekomme häufig Nachrichten, in denen steht: »Ich fühle mich aber besser, wenn ich Gegenrede poste oder lese!« Wenn wir vor allem ein gutes Gefühl haben wollen, ist das ein durchaus legitimes Ziel – das sollten wir uns in dem Moment aber auch ehrlich eingestehen. Wenn wir ernsthaft darüber nachdenken, wie wir uns Radikalisierung möglichst wirksam entgegenstellen können, sollten wir meiner Meinung nach 2 Dinge nicht vergessen. Erstens: Nicht alle Bürger:innen leiten aus Kommentarspalten ab, wie es um die Radikalisierung in der Gesellschaft bestellt ist. Zweitens: In sozialen Medien sorgt jede Form von Reaktion dafür, dass Inhalte von den Empfehlungsalgorithmen aufgewertet und noch mehr Menschen angezeigt werden. Gegenrede erhöht die Sichtbarkeit radikaler Inhalte.
Wir erhöhen also mit Gegenrede die Sichtbarkeit radikaler Inhalte. Wenn wir sehen, dass jemand einem Shitstorm ausgesetzt ist, sollten wir allein deswegen erst mal nachfragen, was die Person gerade braucht. Vielleicht wünscht sie sich tatsächlich Gegenrede; vielleicht braucht sie aber auch jemanden, der sie zur Polizei oder zu einer Anwältin begleitet. Vielleicht braucht sie jemanden zum Reden oder einen Schlafplatz, weil ihr Zuhause nicht mehr sicher ist. Wenn wir uns einsetzen wollen, sollten wir erst in Erfahrung bringen, was wirklich gebraucht wird, statt davon auszugehen, dass unsere erste Idee immer die richtige wäre.
Wenn Gegenrede nicht funktioniert, was hilft dann?
Dana Buchzik:
Erfolgreiche Überzeugungsarbeit braucht gute Vorbereitung, Geduld und Zeit. Nur wenn wir dranbleiben und unsere Strategien evaluieren, können wir wissen, ob das, was wir tun, tatsächlich einen Effekt hat, oder ob wir uns das nur einreden. Realistische Erfolgschancen haben wir vor allem, wenn wir im direkten Umfeld aktiv werden, bei Menschen, für die unsere Meinung und unsere Gefühle überhaupt von Bedeutung sind.
Du empfiehlst auch, Verständnis für die Einstellung der Person und ihre Emotionen zu zeigen. Ich stelle mir das unglaublich schwierig vor, gerade wenn es um Verschwörungserzählungen geht. Fühlt sich mein Gegenüber dann nicht eher in seiner Ansicht bestätigt?
Dana Buchzik:
Das ist ein Missverständnis. In der Tat bringt es nichts, Verständnis für eine radikale Einstellung zu zeigen. Allein deswegen, weil das nicht unserer Realität entspricht, und ich rate keinesfalls dazu, unehrlich zu sein. Mein Ansatz besteht darin, zu verstehen, welche Funktion die Radikalisierung für eine Person erfüllt. Die Psychologie unterscheidet zwischen der »Spielebene« und der »Motivebene«: Auf der oberflächlichen Spielebene finden die radikalen Parolen statt. Die »Motivebene« liegt tiefer und beinhaltet die Beweggründe für das radikale Verhalten. Ich muss mich nicht verstellen.
Ein Beispiel: Ich habe mal ein langes Gespräch mit jemandem geführt, der darüber schimpfte, dass Geflüchtete soziale Leistungen erhalten. Ich habe im ersten Schritt viele Nachfragen gestellt, um nachzuvollziehen, was hinter diesen Parolen steht. In diesem Fall war es so, dass die Person chronisch krank war, an der Armutsgrenze lebte und sich von radikalen Demagogen hat aufstacheln lassen. Ich habe dann gesagt, dass ich auch glaube, dass in Deutschland chronisch Kranke viel zu oft allein gelassen werden – das war und ist meine ehrliche Meinung, ich musste mich also nicht verstellen –, und habe dann gefragt, ob es nicht besser wäre, wenn alle mehr hätten. Ob die Person davon nicht eigentlich mehr profitieren würde als von dem Wissen, dass andere noch weniger haben als sie. Und das war in dem Moment ein Gamechanger.
Gibt es denn einen Punkt, an dem es sinnvoll ist, den Kontakt zu einer radikalisierten Person abzubrechen?
Dana Buchzik:
Nein. Es gibt keinen Point of no Return, und es gibt auch keinen allgemein gültigen Zeitpunkt, an dem der Kontakt abgebrochen werden müsste. Sobald wir verstehen, wie Radikalisierung funktioniert, und unsere Kommunikation auf neue Füße stellen, können wir sehr viel bewegen. Die Entscheidung, ob es uns die Mühe wert ist, kann uns aber niemand abnehmen.
Du sagst auch: Radikale Menschen, die andere von ihren Ideologien überzeugen wollen, gab es schon immer und wird es immer geben. Heißt das, dass wir im Grunde nichts dagegen tun können, dass sich Menschen radikalisieren?
Dana Buchzik:
Ich glaube, dass wir vor allem verstehen müssen, dass Radikalisierung ein Geschäftsmodell ist. Radikale Akteur:innen präsentieren sich als selbstlose Aufklärer:innen und ziehen im gleichen Atemzug die emotionalen Daumenschrauben an. Meist geht es dabei um Geld, manchmal geht es auch um Sex, um Arbeitskraft, um Versklavung – in jedem Fall werden Menschen ausgebeutet. Je mehr Wissen es in der Mehrheitsgesellschaft darüber gibt, wie Manipulation funktioniert und wie wir uns und andere davor schützen können, desto weniger Macht können solche Akteur:innen anhäufen. Wir können Radikalisierung nie zu 100% bekämpfen, aber wir haben es in der Hand, ob sie zum Flächenbrand wird oder nicht.
Welche Fehler macht unsere Gesellschaft gerade generell im Umgang mit radikalisierten Menschen?
Dana Buchzik:
Ich sehe die größte Gefahr im politischen Handeln, besser gesagt: im Nichthandeln. Die Ministerpräsident:innen haben noch im Dezember 2021 allen Ernstes Argumentationshilfen als
. Das macht mich wirklich fassungslos.
Was wäre denn eine bessere Strategie?
Dana Buchzik:
Wir brauchen eine Politik, die über einen Zeithorizont von 4 Jahren hinausdenkt. Wir brauchen Forschungsarbeiten, die gewaltsame und nicht gewaltsame Radikalisierungsprozesse vergleichen und schauen: Wo sind da mögliche Interventionszeitpunkte? Wir brauchen eine kritische Evaluation bestehender Deradikalisierungsangebote. Wir brauchen interdisziplinäre Teams, die neue Präventionsmaßnahmen entwickeln, umsetzen und langfristig begleiten. Wir brauchen gute Aufklärungskampagnen darüber, wie wir Manipulation erkennen können, in den Schulen und in der Ausbildung von Lehrer:innen. Und ja, das alles kostet eine Menge Geld, aber es kann Leben retten. Das trifft auf Argumentationshilfe-Postings vermutlich eher nicht zu, auch wenn die natürlich angenehm billig sind.
Du arbeitest auch als Journalistin. Was können Medien deiner Ansicht nach verbessern, wenn sie über radikale Bewegungen berichten?
Dana Buchzik:
Es braucht mehr wissenschaftliche Expertise und mehr Recherchezeit in den Redaktionen. Zum einen, damit nicht mehr ständig Ideolog:innen mit Expert:innen verwechselt werden. Zum anderen, damit nachhaltig über Radikalisierung berichtet wird. Bislang sehen wir immer noch sinnlose Konfrontationen vor laufender Kamera, die als Gesprächsversuch auf Augenhöhe verkauft werden. Oder – auch sehr beliebt – Wutreden vom hohen moralischen Ross herab. Gute Berichterstattung über Radikalisierung würde in meinen Augen vor allem investigative Arbeit bedeuten: die radikale Landschaft Deutschlands abzubilden. Die Allianzen, die da eingegangen werden, die Geldflüsse, auch in und aus dem Ausland. Zu schauen, in welcher Dimension Kinder instrumentalisiert werden. Welche Rolle Gewalt spielt, nicht nur nach außen, sondern auch innerhalb der jeweiligen Gruppe. Aber es braucht auch fundierte Aufklärungsarbeit über Manipulationstechniken, damit Menschen rechtzeitig erkennen, wenn andere sie beeinflussen wollen.