Ein Grenzbesuch: Wo Flüchtende aus der Ukraine auf europäische Solidarität treffen
Hunderttausende flohen in den letzten Wochen aus der Ukraine nach Polen. Viele davon zu Fuß und bei Minusgraden. An der Grenze erlebte unsere Autorin großes Leid – und noch mehr Hilfsbereitschaft.
Nach 80 Stunden in eisiger Kälte dürfen die 10-jährige Klementina und ihre Mutter Svetlana den Grenzbeamten endlich ihre Pässe zeigen. Gemeinsam mit anderen Gruppen von ukrainischen Geflüchteten warten sie am Grenzposten von Hrebenne, einem Dorf im Südosten Polens, unweit der Grenze zur Ukraine. Die Menschen werden dort nur sehr langsam durchgelassen. Warum, weiß keiner so genau.
Bei ihrer Flucht aus Kyjiw haben Mutter und Tochter nicht viel mitgenommen, ein bisschen Kleidung, ihre Papiere und Klementina durfte sich etwas aussuchen. So trug das Mädchen ihren gepackten Schulranzen von ihrer ehemaligen Wohnungstür bis an die polnische Grenze. Für sie steht fest: Sobald es möglich ist, geht sie wieder zur Schule, egal wo. »Wir kommen ursprünglich aus dem Donbas. Es ist ein hartes Leben. Wir sind nach Kyjiw gegangen, um dem Krieg zu entkommen«, erzählt Svetlana und seufzt bedrückt. »Doch Putin und sein Krieg folgten uns. Wieder mussten wir von Freunden und Familie Abschied nehmen.«
Seit das russische Militär am 24. Februar die Ukraine an mehreren Stellen militärisch angegriffen hat, flüchten Menschen von dort in Nachbarländer wie Polen. Die
Und immer mehr Menschen wollen helfen. Die Zusammenschlüsse der deutschen Hilfsorganisationen »Bündnis Entwicklung Hilft« und »Aktion Deutschland Hilft« haben Anfang März einen Spendeneingang von mehr als
Doch die Menschen aus Deutschland schicken nicht nur Geld, sie machen sich auch selbst auf den Weg, um zu helfen. Manche nehmen Urlaub oder reisen am Wochenende mit ihren Pkw an die Grenzposten, um Geflüchteten die Weiterreise zu erleichtern. Das klingt erst mal gut. Doch werden auch immer wieder Stimmen laut, die gerade vor spontanen Fahrten an die nächste Grenze warnen: Sie würden vor allem Staus und Chaos produzieren.
Wie sinnvoll sind solche Aktionen? Wie ist die Situation an den Grenzen? Was wird konkret gebraucht und wie effektiv sind private Hilfen aus Deutschland? Ich habe mit dem Fotografen Florian Bachmeier
Wie ist die Lage an der polnischen Grenze?
Als Putin den Krieg eskaliert, ist der Fotograf Florian Bachmeier in Lwiw, einer Stadt im Westen der Ukraine.
Er wollte eigentlich nach Kyjiw, um an einem Dokumentarfilm zu arbeiten. Doch nun fühlt er sich gezwungen, ebenso wie Tausende andere, die Ukraine vorerst zu verlassen. Etwas mehr als 80 Kilometer liegen zwischen ihm und dem nächsten polnischen Grenzposten. Den Großteil legt er zu Fuß zurück, während Minusgrade herrschen. Eine kurze Strecke kann er in einem Transporter mitfahren, gedrängt zwischen vielen anderen.
Auf dem Weg trifft er auf die Schwestern Olena (24) und Nastia (14). Sie sind die einzigen in ihrer Familie, die es zu diesem Zeitpunkt übers Herz bringen, das Heimatland zu verlassen.
»Man lebt vor sich hin und alles ist gut. Dann gibt es diesen einen Morgen, an dem du aufwachst und es …«, Olenas Stimme bricht für einen Moment. Die 23-Jährige ist auf der Flucht – auf der Flucht vor Putins Macht, seinen Bomben, seinen Soldat:innen und dem Riss und den Wunden, die er nicht erst seit Ende Februar in dem ukrainischen Land hinterlässt. »Es ist wie ein Horrorfilm. Nur dass der nicht im Fernsehen läuft. Es ist unsere Realität.« Nach gut 30 Stunden haben es die Geschwister und auch der Fotograf sicher über die Grenze geschafft. Das ist verhältnismäßig schnell.
Ein paar Tage später treffen Florian Bachmeier und ich uns in Polen und recherchieren Ende Februar und Anfang März an mehreren Grenzposten. Was wir erlebt haben, ist vor allem Humanität und die Dringlichkeit von 2 Botschaften: Zum einen kämpfe man auf ukrainischer Seite nicht nur für das Land selbst, sondern gegen eine Ausweitung des Krieges auf ganz Europa. Und zum anderen: Jetzt hieße es noch mehr denn je, nicht nur auf sich zu achten, sondern einander zu helfen.
Die Hilfen an den Grenzposten sind unterschiedlich strukturiert. Teilweise sind Organisationen wie
Dort waren unter anderem Mitarbeiter:innen einer hiesigen Försterei die Ersten vor Ort. Das Team arbeitet in Schichten. Sie ordnen Spenden, geben anderen Helfenden Aufgaben. Immer wieder versuchen sie, Kontakt zu Personen in den Warteschlangen vor der Grenze zu halten. Sie fragen, was als Nächstes gebraucht wird. Wenn etwas fehlt, machen sich sofort Ortsansässige auf, um aus der Umgebung das zu besorgen, was noch nicht am Platz ist.
Panakh weiß, wie es ist, wenn Russland das eigene Land angreift. Der 38-Jährige lebt seit Langem in Georgien und hat bereits den
Wenn gerade nichts zu tun ist, wärmt er sich – zusammen mit Ankömmlingen, wartenden Angehörigen und anderen Helfenden – an einem der zahlreichen kleinen Lagerfeuer.
Auch der katholische Priester Dominique macht gerade eine Pause. Seine Gemeinde befindet sich in Zamość, gute 60 Kilometer von der Grenze entfernt.
Bevor der 31-Jährige losfuhr, sprach er noch mit seiner Bibelklasse über die jüngsten Geschehnisse. Eine 9-Jährige teilte mit der Gruppe, dass sie am Abend zuvor dafür gebetet habe, dass Putin stirbt. Sie wolle nicht, dass ein so böser Mensch ihre Welt bedrohe. Dominique fährt sich über sein Gesicht, das von Erschöpfung gezeichnet ist. Er sei ihm schwergefallen, aber er habe entgegnet: Sobald man anfängt, anderen etwas Schlechtes zu wünschen, wird man selbst zu einem der Bösen. Wenn man sich gegen Feinde mit Gutem durchsetze, gewinne man für alle.
Daran glaubt auch Krzysztof: Er und seine Frau wohnen auf dem letzten privaten Grundstück vor der Grenze. Das Ehepaar stellt das gesamte Gelände, Wasser und Strom den Helfenden zur freien Verfügung. Für sie sei das selbstverständlich. Der ältere Herr sagt mit fester Stimme, dass wir doch alle gleich seien, eben Menschen – egal welche Ländergrenze uns trenne und präge. Nur der russische Machthaber habe das eben noch nicht verstanden. Krzysztof möchte positiv bleiben und hofft, dass am Ende das Gute und das Schicksal siegen werden.
Der lokale Zusammenhalt ist stark, hier arbeitet man gemeinsam an einem konstruktiven Umgang mit der Situation: Keine 10 Minuten mit dem Auto entfernt befindet sich eine Schule. Die Sporthalle war nicht in Benutzung und so konnten sich dort verschiedene Freiwillige zusammentun und eine Art Erstaufnahme einrichten. Von der Grenzstation werden Geflüchtete in Bussen dorthin gefahren, um sich einen Moment auf Feldliegen ausruhen und aufwärmen zu können. Es gibt einen kleinen abgetrennten Bereich, der Frauen muslimischen Glaubens bei Bedarf zur Verfügung steht. Das ist nicht überall so. Immer wieder werden Berichte von
Mithilfe von Matten, Bierbänken und beweglichen Trennwänden ist die Sporthalle in verschiedene Bereiche unterteilt. Kinder rennen auf und ab, während andere in einen tiefen Schlaf gefallen sind. Auch hier steht reichlich Verpflegung bereit. Einer der Leiter des Hilfsteams ist Mariusz. Der 36-Jährige arbeitet sonst in der Gemeindeverwaltung. »Alle Menschen, die herkommen, sind hilfsbedürftig«, sagt er. »Also ist es unsere Pflicht, ihnen zumindest einen Moment Obhut zu geben.«
Laut Mariusz befinden sich im Schnitt 500 Menschen in der provisorischen Erstaufnahme. Sie bleiben nicht lange, ein paar Stunden oder eine Nacht, bevor es weitergeht. An den Wänden im Gang und an der Außentür hängen Zettel mit Nummern. Sie weisen auf private Unterkünfte und Mitfahrmöglichkeiten in verschiedene Städte auch außerhalb Polens hin. Die kostenfreien Angebote kommen von Freiwilligen aus allen Himmelsrichtungen. Innerhalb der ersten paar Tage haben sie laut Mariusz mindestens 3.000 Geflüchtete in der Turnhalle beherbergt.
Wie kann jede:r Einzelne in Deutschland helfen?
»So kannst du auch von zu Hause aus helfen!«
Nicht jede Form der Hilfe ist zielführend. Kommen zum Beispiel zu viele Hilfsgüter an, die momentan nicht gebraucht werden, so kann es passieren, dass Kleider und Decken auf einem großen Haufen draußen im Schnee und Regen landen und feucht werden. Auch Medikamente verderben, wenn sie nicht richtig gelagert werden können.
Wer selbst mit anpacken und selbstständig an die Grenze fahren möchte, um eine kostenfreie Mitfahrmöglichkeit nach Deutschland anzubieten, sollte einiges beachten:
- Zunächst ist es relativ unberechenbar, wie lange solch ein Trip dauert. Immer wieder entstehen lange Verkehrsstaus. Und: Die Menschen werden nur nach und nach in kleinen Gruppen über die Grenzen gelassen.
- Tanke mindestens 30 Kilometer vor der Grenze, da es immer wieder vorkommt, dass nähere Tankstellen überfüllt sind oder Engpässe haben.
- Nimm zu den Helfenden Kontakt auf, sobald du ankommst. In der Regel vermerken sie dich auf einer Liste und vermitteln deinen Kontakt an Geflüchtete.
- Schreibe dir Basisinformationen auf Englisch, Ukrainisch und Russisch vorher auf, um besser mit allen kommunizieren zu können.
- Wenn du jemanden mitnimmst, heißt es nicht, dass es sofort losgeht. Vielleicht muss sich die Person vorher noch stärken oder benötigt Medikamente. Auf der Rückfahrt bietet es sich an, zu erfragen, ob die Mitfahrenden schon eine Schlafmöglichkeit am Zielort haben. Und auch hier ist vorab ein Austausch gut, um herauszufinden, wo und ob es Bedarf gibt.
Um effektiv zu helfen, musst du dich nicht unbedingt hinter dein Lenkrad schwingen und an die Grenze fahren. Du kannst dich auch von Zuhause aus einbringen. Manche Geflüchtete brauchen nur einen Schlafort für einige Nächte, bevor es für sie weitergeht. Andere müssen Behördengänge erledigen, sprechen jedoch nicht Deutsch, sondern Ukrainisch, Russisch und eventuell noch Englisch. Viele sind für eine übersetzende Begleitung auf den Ämtern dankbar.
Hier findest du Informationen dazu, wie du am besten Hilfe anbieten kannst:
- Auf den Websites von Vereinen wie
- In Telegram-Gruppen wie »Woman Help Woman Ukraine Berlin« oder »Leipzig helps Ukraine« kannst du fragen, wo und welche Hilfe benötigt wird. Dort werden auch Gesuche gepostet sowie Listen mit aktuellem Bedarf für Sachspenden.
- Außerdem gibt es Plattformen, auf denen du dein Angebot für eine (temporäre) Unterkunft registrieren kannst. Beispiele dafür sind »warmes-bett.de« oder »unterkunft-ukraine.de«.
- Gemeinnützige Organisationen wie
- Inzwischen rufen auch Tierärzte und kleinere Vereine dazu auf, bei ihnen Geld- und ausgewählte Sachspenden einzureichen. Eine Hilfe bei der Auswahl der richtigen Adressen geben auf Websites die Rubriken »Über uns«, das Impressum oder »Gütesiegel« wie das
Geld, egal ob es sich um eine große oder vermeintlich kleine Summe handelt, kann in den richtigen Händen viel bewirken.
Wie sich die Situation in Russland und in der Ukraine weiterentwickelt und wie sich die Lage auf andere Länder auswirkt, wird die Zukunft zeigen. Sicher ist: Jeden Tag werden Familien entzweit und Menschen verletzt oder getötet. Millionen Menschen leben in Angst um ihre Angehörigen, harren in der Ukraine aus oder begeben sich auf die beschwerliche Flucht und verlassen ihre Heimat.
Umso wichtiger ist Solidarität. Manche Helfer:innen, die von Deutschland aus an die polnischen Grenzen gefahren sind, konnten einigen Geflüchteten einen Teil des harten Weges ersparen. Dabei ist es wichtig, sich gut vorzubereiten und vorab zu informieren, was man beachten sollte. Denn am Ende kann jede Person nur das machen, wozu sie fähig ist und womit sie sich wohlfühlt.
Text: Lilith Grull; Fotos: Florian Bachmeier; redaktionelle Bearbeitung: Julia Tappeiner
Titelbild: Florian Bachmeier - copyright