Sie versorgen uns mit allem, was wir brauchen. Warum behandeln wir sie wie Dreck?
Vor 40 Jahren war Lkw-Fahrer:in ein angesehener Beruf. Heute sind die Arbeitsbedingungen mies, es wird schlecht bezahlt. Diese Robin Hoods der Truckerszene wollen das ändern – und ich habe sie einen Nachmittag begleitet.
Es ist Samstagnachmittag, die Sonne scheint.
Ein Hotelzimmer für die Nacht oder ein Restaurantbesuch kommen nicht infrage. Daniel und Alexandru können den Lkw und die Ladung nicht unbeaufsichtigt lassen. Wird etwas gestohlen oder beschädigt,
»Wir hätten eigentlich jetzt entladen sollen«, sagt Daniel. Es ist kurz nach 15 Uhr. Er nimmt die Zigarette in die andere Hand und zeigt mir ein Foto auf seinem Handy, eine Art Lieferbestätigung. Er zoomt rein. Vereinbarte Ankunftszeit: Samstag, 15 Uhr. »Wir sind gestern angekommen und uns wurde gesagt, dass sie erst Dienstag oder Mittwoch Platz für uns haben. Jetzt warten wir hier. Zum Glück ist das Wetter schön.« Daniel nimmt es gelassen. Er ist eine solche Behandlung gewöhnt.
Die 2 Kollegen sprechen Rumänisch, ich nicht. Darum übersetzt mir István Attila Szász alles,
Während ich den Beratungsgesprächen zuhöre, erinnere ich mich an die Demonstrationen und Lastwagen-Korsos der vergangenen 2 Sommer, bei denen Hunderte Fahrer:innen in
Noch vor 40 Jahren war Lkw-Fahrer:in ein angesehener Beruf. Wie konnte sich das derart verändern, dass die Transportbranche und die Medien heute von einem europaweiten Fahrermangel und einem drohenden
All diesen Fragen bin ich in einer monatelangen Recherche nachgegangen.
Von den »Versorger:innen der Nation« zur Zwangsarbeit. Wie konnte das passieren?
In den 60er-, 70er- und 80er-Jahren galten Lkw-Fahrer:innen in Deutschland als die »Kapitäne der Straße«. Vor allem Fernfahrer:innen hatten viele Freiheiten, sind in Europa herumgekommen und genossen Respekt, da sie die Supermarktregale füllten und die Wirtschaft am Laufen hielten. Das machen sie auch heute noch, doch werden sie heute von der Öffentlichkeit eher als stauverursachende Störfaktoren und CO2-Schleudern wahrgenommen, welche die Autobahnen verstopfen.
Das liegt zum einen daran, dass heute viel mehr Lkw auf den deutschen Autobahnen unterwegs sind. Der Straßengüterverkehr hat sich seit 1991 mehr als
Zum anderen hat sich die öffentliche Wahrnehmung verändert. Menschen legen mehr Wert auf Nachhaltigkeit; die Dieselfahrer:innen erscheinen als umweltschädliches Auslaufmodell. Dass wir mit unserer Lebensweise alle zu den Transporten beitragen, wird dabei schnell vergessen.
»Früher hatten Lkw-Fahrer ein tolles Image. Es war so ziemlich der einzige Beruf, mit dem Otto-Normalverbraucher die Welt sehen konnte, ohne fliegen zu müssen, was noch viel teurer war«, sagt Martin Bulheller vom Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL) und gibt mir einen
Bis Anfang der 90er-Jahre sah der Markt für den Straßengüterverkehr anders aus als heute. Er war stark reguliert. Ausländische Transportunternehmen durften zwar durch Deutschland fahren, aber nicht ab- und aufladen. Die Zahl der inländischen Lkw-Transporte war gedeckelt. Der Staat gab nur eine gewisse Anzahl an Transporterlaubnissen heraus, sogenannte Konzessionen, damit der Transport mit dem Lkw nicht billiger wurde als mit der Bahn. Das führte dazu, dass es nur wenig Konkurrenz unter den Transportunternehmen gab.
Als sich 1993 der EU-Binnenmarkt öffnete, änderte sich die Situation schlagartig. Mit der grenzüberschreitenden Dienstleistungsfreiheit durften nun auch ausländische Unternehmen in Deutschland arbeiten. Und sie nutzten niedrigere Löhne und Sozialstandards als Wettbewerbsvorteil: »Sie boten ihre Arbeit viel günstiger an als die deutschen Unternehmen«, so Bulheller. »Binnen weniger Jahre hat sich der Markt gedreht: Aus einer traditionell gutverdienenden Branche wurde ziemlich schnell eine mit sehr niedrigen Gewinnmargen am untersten Ende der Skala, ähnlich wie im Lebensmitteleinzelhandel.« Dementsprechend sanken auch die Löhne der Lkw-Fahrer:innen.
In den vergangenen Jahren ist noch ein weiteres Problem hinzugekommen: der demografische Wandel. Als die Wehrpflicht im Jahr 2011 ausgesetzt wurde, fehlte auf einmal der Nachwuchs. Viele junge Menschen hatten während ihres Grundwehrdienstes eine Kraftfahrerausbildung gemacht und sind danach beruflich Lkw
Aktuell fehlen nach Schätzungen des Deutschen Speditions- und Logistikverbands (DSLV) in Deutschland etwa 45.000 Berufskraftfahrer:innen. Jährlich gehen ungefähr 30.000 in Rente. Demgegenüber stehen nur knapp 17.000 Personen, welche die 3-jährige Ausbildung in Deutschland absolvieren und in den Beruf einsteigen. Die schlechte Bezahlung, die langen Arbeitszeiten, der fehlende Respekt und der ständige Zeitdruck machen den Beruf laut Logistikverband unattraktiv.
Wie steht es um den Fahrermangel?
»Jeder Klick für eine Bestellung bei Amazon trägt hierzu bei.«
Während die Zahl der Fahrer:innen sinkt, steigt die Masse an zu transportierenden Gütern in Deutschland und ganz Europa kontinuierlich an. Über 70% aller Güter in Deutschland werden momentan mit dem Lkw transportiert. Die Schiene kann das steigende Volumen (noch) nicht abfangen,
»Inzwischen treffen wir auch immer wieder auf Menschen aus der Ukraine, den Philippinen oder Kirgistan, die in Lkw mit litauischen oder polnischen Kennzeichen sitzen«, sagt Michael Wahl, Berater und Branchenkoordinator des Bereichs Internationaler Verkehr beim DGB-Beratungsnetzwerk Faire Mobilität. Die Fahrer kämen von immer weiter her. »Die Herkunft dieser Menschen wird gnadenlos ausgenutzt«, so Wahl. Ein Ende dieses Systems ist nicht in Sicht; in Asien gibt es genügend Menschen, die dazu bereit sind, ihre Heimat für einen Job in Europa zu verlassen. So verlagert sich das Problem immer weiter – und wird größer.
»In Deutschland beträgt der Mindestlohn 9,82 Euro. Wissen Sie das?«
Zurück hinter das Amazon-Lager nach Mönchengladbach: Seit 2015 müssen alle Lkw-Fahrer:innen, die auf deutschen Straßen fahren und arbeiten, den gesetzlichen Mindestlohn verdienen. Das gilt auch für Fahrer:innen von ausländischen Unternehmen, insofern sie hierzulande etwas be- oder entladen und nicht nur durchfahren – also auch für Alexandru und Daniel. Momentan wären das 9,82 Euro pro Stunde.
Davon wissen jedoch die meisten Trucker:innen nichts, wie das Kopfschütteln zeigt, welches das Faire-Mobilität-Team auf die Frage nach dem Mindestlohn bekommt. Das Team läuft mit
Die 2 Kollegen fahren beide seit 20 Jahren Lkw. Momentan arbeiten sie für ein rumänisches Unternehmen, das für Amazon Güter durch Europa transportiert. Sie fahren zusammen einen 7,5-Tonner, damit sie sich mit den Lenk- und Ruhezeiten abwechseln und längere Strecken zurücklegen können. Von ihrem Recht auf den gesetzlichen deutschen Mindestlohn, während sie hierzulande arbeiten, haben sie »schon einmal gehört«. Ob sie ihn bekommen? Nein. Aber das wäre erst einmal okay, denn sie verdienen nicht schlecht. 2.200 Euro pro Monat netto.
Der Großteil davon ist allerdings kein regulärer Lohn, sondern besteht aus Spesen, also Tagespauschalen,
Fast die Hälfte der Lkw-Fahrer:innen, die in der EU unterwegs sind, sind »oft« oder »manchmal« müde beim Fahren, wie eine Umfrage aus dem Jahr 2020 von der in Brüssel ansässigen European Transport Workers’ Federation zeigt. 30% der über 2.000 Befragten geben sogar zu, in den letzten 12 Monaten mindestens einmal hinter dem Steuer
Daniel erzählt, dass Freunde von ihm, die bei einem deutschen Unternehmen im Saarland angestellt sind, weniger verdienen als er. Dafür hätten sie eine bessere Sozialabsicherung und würden auch in Hotels übernachten. Daniel verdient lieber etwas mehr für seine Familie und wohnt in der Kabine. Auch er hat schon einmal für ein deutsches Transportunternehmen in Köln gearbeitet und überlegt, seine Familie nach Deutschland zu holen, hat die Idee allerdings wieder verworfen. Seine Familie spricht kein Deutsch und sie mögen ihre Heimat, wohin auch er letzten Endes wieder zurückgekehrt ist, damit er sie öfter sehen kann.
»Außerdem waren meine Arbeitsbedingungen in Deutschland genauso schlecht wie jetzt, wenn nicht sogar schlechter«, sagt Daniel. »Ich habe den Mindestlohn bekommen, die Mindestanzahl an Urlaubstagen, von allem nur das Mindeste und genauso wurde ich auch behandelt. Ich war nur der Ausländer.«
Das Thema wühlt ihn auf, er steckt sich eine neue Zigarette an. István übersetzt:
Wir Lkw-Fahrer werden behandelt wie die Hunde. In Bulgarien hat mir eine Firma gesagt: ›Wenn es dir nicht gefällt, kannst du gehen. Wir haben noch 30 andere, die deine Stelle füllen.‹
Daniel und Alexandru sind seit fast 3 Wochen unterwegs. Gegen Ende des Monats geht es für sie zurück in die Heimat, wie es eine EU-Verordnung seit Herbst 2020 verpflichtend vorsieht. Alle 4 Wochen müssen Fahrer:innen für mindestens 2 Tage zum Unternehmenssitz oder an ihren Wohnsitz
Immerhin bekommen die beiden Rumänen die 4–5 Wartetage vor dem Amazon-Lager als Arbeitstage angerechnet und bezahlt. Das ist nicht immer so. Transportunternehmen drängen Fahrer:innen zu allen möglichen illegalen Verhaltensweisen, wie mir Michael Wahl von Faire Mobilität später erzählt. Urlaubstage, an denen durchgearbeitet wird, und der Zwang, den Fahrtenschreiber falsch zu bedienen, der eigentlich die Lenk- und Ruhezeiten, Arbeitsorte und die gefahrenen Kilometer aufzeichnet, kämen häufig vor. »Das sind Straftatbestände und der Gesetzgeber nennt sie Arbeitsausbeutung und Zwangsarbeit. Immer öfter entdecken wir Hinweise auf Menschenhandel«, so der Berater.
Was muss sich ändern? Was wird sich ändern?
Die gute Nachricht: Die Fahrerlöhne sind während der Pandemie in Deutschland durchschnittlich wieder etwas gestiegen. Der Kampf der Logistik, als systemrelevant für die Grundversorgung Deutschland anerkannt
Klar ist aber auch: Steigende Löhne und kurzweilige Anerkennung reichen nicht. Der Fehler liegt im System – ganz ähnlich wie in
Der BGL hat im September 2021 einen Aktionsplan erarbeitet, um die Situation der Trucker:innen in Europa zu verbessern und den Fahrermangel zu entschärfen. Dafür hat der Interessenverband 5 Themenbereiche identifiziert, die mit unterschiedlichen Maßnahmen auf europäischer und nationaler Ebene angegangen
Diese sind:
- Image: Die Leistung von Fahrer:innen muss wieder mehr wertgeschätzt werden.
- Arbeitsbedingungen: Unter diesen Punkt fällt vieles, von einer
- Bürokratieabbau: Lkw-Fahrer:innen müssen beispielsweise einen Sehtest bei Augenärzt:innen machen, während ein Besuch beim Optiker für normale Autofahrende genügt. Der BGL fordert eine gleiche Behandlung für Lkw-Fahrer:innen.
- Nachwuchsgewinnung und Digitalisierung: Der BGL will unter anderem, dass Teile der Ausbildung zum Onlinelernen bereitgestellt werden, so wie es heute zu vielen Lernzwecken
- Fachkräftezuwanderung erleichtern: Würde die Ausbildung zum Kraftfahrer auch für Menschen aus Nicht-EU-Ländern und in Fremdsprachen angeboten werden, könnten mehr Menschen angesprochen werden, so die Hoffnung des Verbands.
Gleiche Arbeit am gleichen Ort für gleichen Lohn.
Manche Forderungen lassen sich schneller umsetzen als andere: So können auch wir unseren Teil zu einem besseren Image beitragen, wenn wir erkennen, dass in erster Linie unsere Konsumgewohnheiten dafür verantwortlich sind, dass sich Lkw-Kolonnen auf den Autobahnen stauen – und nicht die Menschen in den Fahrerkabinen. Der Bürokratieabbau hingegen ist ein langwieriger Prozess. Andere Punkte auf der Liste sind bereits in der Umsetzung.
Hier sind 2 Beispiele. Sie stammen aus der neuen EU-Verordnung, dem sogenannten EU-
- Alle Fahrer:innen, die in ein anderes EU-Land geschickt werden, um dort zu arbeiten, müssen für diese Zeit den gesetzlichen Mindestlohn erhalten. So stehen auch Alexandru und Daniel die derzeit 9,82 Euro gesetzlicher Mindestlohn zu, während sie in Deutschland arbeiten.
- Alle Lkw müssen spätestens nach 8 Wochen in das Ursprungsland ihres Unternehmens zurückkehren. Die Hoffnung der Europäischen Kommission: Ein Großteil der osteuropäischen Lastwagen ist dauerhaft im Westen im Einsatz und kehrt nur selten in ihre Heimat nach Polen, Litauen oder Rumänien zurück. Dass es nun alle 2 Monate geschehen muss, macht das Geschäft teurer. Es soll Unternehmen und Briefkastenfirmen zwingen, mit ihren Unternehmen wieder nach Deutschland
Wer kontrolliert die neuen Regeln und wie geht es weiter?
Aber wer überprüft, ob die Regeln eingehalten werden? In Deutschland ist dafür das Bundesamt für Güterverkehr (BAG) zuständig. »Das BAG ist chronisch unterbesetzt«, sagt Martin Bulheller. Bundesweit sind laut einem
Es wird also noch einige Zeit dauern, bis die neuen EU-Regeln Wirkung zeigen. Bis dahin werden Michael Wahl, István Attila Szász und seine Kolleg:innen von Faire Mobilität weiter mit Infobroschüren über die Parkplätze Deutschlands ziehen und Fahrer:innen über ihre Rechte informieren.
Damit ist das Team von Faire Mobilität übrigens nicht allein, Gewerkschaften und von Trucker:innen selbstorganisierte Kraftfahrerkreise setzen sich für die Rechte ihrer (ausländischen) Kolleg:innen ein und informieren sie im Internet und vor Ort.
An diesem Samstag hat das Beratungsnetzwerk über 20 Fahrer erreicht. Daniel und Alexandru sind 2 von ihnen. Sie bedanken sich herzlich für den Austausch und halten die Infobroschüren noch aufgeschlagen in der Hand, als sie sich wieder ihrer Diskussion widmen. Vielleicht sprechen sie nun über den gesetzlichen Mindestlohn, der ihnen zusteht.
Titelbild: Désiree Schneider - copyright