Ein (Wut-)Brief an mein ungeborenes Kind
Der neue Bericht zur Erderwärmung ist da und es interessiert anscheinend wieder niemanden. Unsere Autorin ist Mitte 20 und verflixt wütend darüber, denn die Klimakatastrophe beeinflusst auch ihre Entscheidung, Kinder zu kriegen – oder nicht. Hier macht sie sich Luft.
Hallo du,
ich weiß nicht, ob dich dieser Brief je erreichen wird. Ob es dich überhaupt geben wird. Um ehrlich zu sein, ist das aktuell mehr als ungewiss.
Heute, im Jahr 2022, bin ich als Frau langsam in einem Alter, in dem ich mir Gedanken darüber machen sollte, ob ich Kinder haben möchte. Wenn ja, wann der richtige Zeitpunkt dafür ist. Wie viele Kinder ich mir vorstellen kann. In meinem Freundeskreis häufen sich die Gespräche darüber. Doch es fällt mir schwer, wirklich darüber nachzudenken.
Zu unsicher erscheint gerade die Zukunft. Zu groß und beängstigend schwebt die hereinbrechende Klimakatastrophe über meinem Kopf – über unser aller Köpfen. Auch wenn manche Menschen sie einfach nicht sehen wollen – das ist für dich in der Zukunft sicher unvorstellbar. Es ist, als würden sie einfach ihren Kopf in den Sand stecken. Alle anderen wissen sehr genau, um was es gerade geht: um den Erhalt einer Welt, in der es auch in 20, 30, 50 Jahren überhaupt noch eine Lebensgrundlage für uns und nachfolgende Generationen gibt.
Deshalb komme ich gar nicht dazu, mich wirklich mit der Kinderfrage auseinanderzusetzen. Ich umkreise sie, ohne ihren Kern zu berühren.
Diese Sorge überdeckt alle anderen Überlegungen, die bei so einer Entscheidung eigentlich eine Rolle spielen sollten. Und diese Sorgen und Ängste wiederum machen mich wütend.
Ich bin wütend, weil das politische Nichthandeln in den vergangenen Jahren so stark in eine so persönliche Entscheidung hineingrätscht.
Ich bin wütend, weil wir längst wissen, wie wir hätten handeln können. Seit Jahrzehnten warnen Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen schon. Immer und immer wieder.
Ich bin wütend, dass so viele Menschen die Mahnungen einfach ignorieren und ich mich in der Minderheit fühle unter denen, die die Krise noch abschwächen wollen.
Diesen Monat, im April 2022, gab es eine weitere Warnung in Form eines 3.000 Seiten umfassenden Dokuments: der sogenannte IPCC-Bericht. Vielleicht hast du schon einmal davon gehört, auch wenn sein Inhalt hoffentlich keine große Rolle mehr spielen wird, wenn du diesen Brief liest. Aktuell sollte er aber von Interesse sein. Er sollte Wellen schlagen und jeden Tag auf Seite 1 der großen Zeitungen stehen. In der Realität geht der Bericht in der Flut anderer Nachrichten allerdings unter. Warum? Nach 2 Jahren Pandemie ist unsere Gesellschaft psychisch ausgelaugt und seit einigen Wochen tobt mitten in Europa ein Krieg. Ach ja, und
Gründe dafür, Warnungen zu ignorieren, gab es schon immer. Irgendeine akute Krise ist bisher leider jedes Mal dazwischengekommen. Schließlich ist der IPCC-Bericht nicht der erste seiner Art. In den 80er-Jahren hatten sich Wissenschaftler:innen aus aller Welt zum ersten Mal getroffen, um zusammenzutragen, was über den Klimawandel bekannt war. Wie unfassbar lange das her ist, das war sogar noch vor meiner Geburt!
Die Ergebnisse des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) – auf Deutsch: Weltklimarat – werden seitdem in unregelmäßigen Abständen veröffentlicht. Von Bericht zu Bericht dokumentieren sie, wie die Lage immer brenzlicher und dringlicher wird. Doch auch nach rund 40 Jahren schlagen sich die Erkenntnisse kaum im politischen Tagesgeschäft nieder.
Und ich habe Menschen so satt, die heimlich denken:
So hat mich auch der im April 2022 erschienene
Als ob wir das nicht schon längst wüssten.
Wieso mich dieser Bericht gerade so wütend macht? Lass mich ein paar der wichtigsten Punkte kurz zusammenfassen: Die Kosten für Windenergie sowie für Lithium-Ionen-Batterien sind in den letzten 10 Jahren stark gesunken,
Das war es leider schon mit den guten Neuigkeiten. Dafür ist die Liste der schlechten Nachrichten umso länger: Die durchschnittlichen jährlichen Treibhausgasemissionen der vergangenen 10 Jahre sind heute die höchsten der gesamten Menschheitsgeschichte. Wenn wir weitermachen wie bisher, werden wir das angestrebte Ziel, die Erderwärmung auf weniger als 1,5 Grad Celsius zu beschränken, nicht einhalten können.
Die Botschaft der Wissenschaftler:innen ist klar: Es braucht noch drastischere Reduktionen der Emissionen in allen Ländern und in allen Sektoren, als die Regierungen gerade geplant haben (von der Umsetzung ganz zu schweigen). Selbst 2 Grad Celsius liegen aktuell noch weit außer Reichweite. Konkret schlussfolgern sie, dass die weltweiten Emissionen bis 2030 halbiert und bis 2050 auf null gesenkt werden müssen, um die schlimmsten Folgen der Erderhitzung abzuwenden. Die nächsten Jahre sind entscheidend.
Was viele noch immer nicht verinnerlicht haben: Klimaerwärmung einzudämmen ist kein Selbstzweck. Erhitzt sich die Erde ungebremst weiter, sind auch andere Entwicklungsziele wie der Zugang zu Wasser für alle, Gesundheit und Bekämpfung von Armut unerreichbar – alles hängt mit der Klimakrise zusammen.
Was das Ganze besonders frustrierend macht: Es steht nichts wirklich Neues in dem Bericht, worüber meine Kolleg:innen und ich uns nicht schon zigfach die Finger wund geschrieben haben. Dabei meine ich nicht nur die Probleme, sondern vor allem auch die Lösungen. Wir wissen ganz genau, was zu tun ist. 3 Punkte sind besonders wichtig: Das Kohlezeitalter muss so schnell wie möglich enden. Bis 2030 muss 3–6-mal mehr in Klimaschutz investiert werden als bisher. Und:
Es mag für dich absurd klingen, wie sehr sich in meiner Gegenwart politische Entscheidungsträger an fossile Rohstoffe klammern. In der gleichen Woche, in der der IPCC-Bericht erschien, wurden weltweit
Vielleicht fragst du dich, wieso ich dir überhaupt von all dem erzähle?
Jede Zeit hat ihre Krisen und Herausforderungen. Es ist unsicher, ob ich mich in Anbetracht der Situation jemals dafür entscheiden kann, Kinder zu kriegen. Ob es dich geben wird und ob du diesen Brief lesen wirst. Das wird wohl auch davon abhängen, was in den nächsten Jahren alles passiert.
Aktuell ist noch nicht alles verloren und es gibt zumindest Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft. Diese Hoffnung möche ich nicht aufgeben. Sie steigt ein Stückchen mehr mit jeder Person, die ihren Kopf aus dem Sand zieht. Ein Stückchen mehr mit jeder Regierung, die die wissenschaftlichen Erkenntnisse und nötigen Schritte nicht länger ignoriert. Es gibt immer eine Lösung – wir müssen sie nur umsetzen.
In Liebe,
deine Maria
Titelbild: Carl Larsson - public domain