Russische Journalistin: »Ich muss Verantwortung übernehmen für das, was hier passiert«

Viele Journalist:innen und Menschenrechtsaktivist:innen haben Russland in den vergangenen Wochen verlassen – darunter auch unsere Autorin. Doch wie geht es denen, die geblieben sind?

3. Mai 2022  –  11 Minuten
Artikel anhören Gelesen von Kilian Land

Die russische Invasion der Ukraine hat vieles verändert. Menschen verlassen die Ukraine – wegen der Bedrohung durch Russland – und Menschen verlassen Russland – wegen der Bedrohung von innen, durch die russische Regierung. Viele Journalisten und Aktivistinnen haben das Land verlassen, obwohl ihre Arbeit dringender gebraucht wird als je zuvor. Auch ich bin gegangen.

[Anmerkung d. Red.: Anna Fimina arbeitete für den russischen TV-Sender Doschd und gehörte zu den wenigen kritischen Stimmen im Land. Dann musste sie fliehen. In diesem Artikel hat sie von den letzten Sendetagen und ihrer aktuellen Situation berichtet:]

Deshalb war es mir ein Herzensanliegen, mit denjenigen zu sprechen, die die riskante Entscheidung getroffen haben, in Russland zu bleiben und ihre Arbeit fortzusetzen – trotz der potenziellen Konsequenzen.

Swetlana Gannuschkina, 80 Jahre

Swetlana ist eine Mitgründerin des Komitees Bürgerhilfe, einer Nichtregierungsorganisation, die Migrierten und Geflüchteten hilft. Sie wurde in Moskau geboren und hat ihr ganzes Leben hier verbracht.

Swetlana Gannuschkina

Swetlana Gannuschkina ist Mathematikerin, Menschenrechtsaktivistin und Leiterin der Bürgerhilfe. 2016 wurde ihr der Alternative Nobelpreis verliehen. Schon seit den 80er-Jahren setzt sie sich für Geflüchtete ein. Neben der Bürgerhilfe ist sie auch bei der Nichtregierungsorganisation Memorial aktiv, kandidierte für das russische Parlament und wurde mehrfach für den Friedensnobelpreis nominiert.

Bildquelle: privat

»Ich denke nicht daran, das Land zu verlassen. Zum einen habe ich hier einen Job zu erledigen. Natürlich wägen wir das Risiko ab und die Angestellten, die gehen wollen, können das tun. Zum anderen muss ich hierbleiben und Verantwortung übernehmen für das, was hier passiert. Ich bin eine Bürgerin dieses Landes und ich werde meine Staatsbürgerschaft weder Putin noch irgendjemand anderem geben.

Die macht das, was sie schon immer getan hat: Wir helfen allen Geflüchteten. Wir versuchen nicht nur Menschen zu helfen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden, sondern auch Arbeitsmigranten. Wir haben weiterhin Syrer, Afghaninnen und seit 2014 auch viele ukrainische Geflüchtete. Jetzt sind es sehr viele. Putin hat ihnen 10.000 Rubel versprochen, und egal ob sie diese bekommen haben oder nicht – das Geld reicht nicht. Sie kommen also zu uns und wir helfen ihnen, ohne über ihre politischen Ansichten zu reden. Wir wissen, dass sie vor Krieg fliehen. Das reicht.

Was ich über die Veränderungen in unserer Gesellschaft sagen kann: Unsere Bürger zeigen viel Solidarität. In den ersten 2 Wochen nach dem Beginn des Krieges kamen doppelt so viele Spenden bei uns an wie im gesamten Monat davor. Viele Menschen bieten Räume an, Zuflucht in ihren Häusern, Arbeit. Sie versuchen, auf diese Weise zu helfen.«

Doch selbst diese Art der Hilfe könnte jetzt als Verbrechen geahndet werden, wenn alles, was die Regierung als »anti-russisch«, gegen den Krieg oder einfach als falsch einstuft, vor Gericht gebracht wird. Das zeigt der Fall von Swetlana Gannuschkina – sie wurde am 6. März, ihrem Geburtstag, verhaftet, weil sie einige Tage zuvor angeblich an einer Protestaktion teilgenommen hatte.

»Was heute als Vergehen gilt und wie die Gerichte in unserem Land arbeiten, ist verrückt. Das zeigt mein Fall: Ich wurde beschuldigt, an einer Protestaktion teilgenommen zu haben, welche am 27. Februar zwischen 19 und 22 Uhr stattgefunden hat. Ich war an diesem Tag ab 17 Uhr und bis zum nächsten Morgen zu Hause. Ich hatte ein Alibi. Sie hatten ein Foto von mir, das meine Teilnahme beweisen sollte, aber eine Zeitmarkierung von 16 Uhr hatte. Ich habe außerdem einen Eintrag meiner Google-Timeline gefunden, der zeigt, dass ich um 17:45 Uhr nach Hause gekommen bin. Und ich habe Aufnahmen von unserem Hoftor, die zeigen, dass ich den Hof genau um 17:45 Uhr betreten habe. Trotz meines Alibis hat mich das Gericht für schuldig befunden und mich mit einer Strafe von 10.000 Rubel belegt. Mir geht es nicht um das Geld – der Punkt ist, dass die Gerichte sich ganz genauso verhalten, wenn es nicht um 10.000 Rubel, sondern um 10 Jahre eines Menschenlebens geht. Sie können sich das erlauben.«

Ich höre den Schmerz in Swetlanas Stimme, während wir telefonieren. Wir sprechen über den Krieg und darüber, wie es denjenigen ergeht, die ihn nicht unterstützen.

»Dieser Krieg ist das Schlimmste, was mir in meinen 80 Jahren widerfahren ist. Es macht selbst jene Siege des Zweiten Weltkrieges zunichte, die wirklich eine große Leistung unseres Volkes waren. Jetzt stehen wir auf der anderen Seite.

Ich erinnere mich an das erste Jahr nach dem Krieg. Meine Eltern erzählten mir, dass Moskau am 6. März 1942 zum letzten Mal bombardiert wurde. Ich erinnere mich an ein schreckliches, beinahe kindisches Gefühl, als gefangengenommene Deutsche durch unsere Straße gefahren wurden. Ich wurde mit dem Statement »Kein Krieg!« geboren und aufgezogen – und auf einmal gilt dieser Slogan in Russland als extremistische Parole. Das ist ungeheuerlich, es ist ein Verrat an der Leistung des sowjetischen Volkes, über das unsere Obrigkeiten doch so gerne reden. Ein echter Verrat.«

Tatjana Felgengauer, 37 Jahre

Tatjana Felgengauer war Nachrichtensprecherin bei Echo Moskwy, einem unabhängigen Nachrichtensender. – Quelle: privat

»Ich denke immer wieder daran zu gehen, aber solange ich in Russland arbeiten kann, werde ich das tun. Es ist mir wichtig, mit meinen eigenen Augen zu sehen, was mit meiner Stadt und meinem Land passiert. Ich will diesen Horrorfilm zu Ende schauen. Ich habe kaum Hoffnung auf ein gutes Ende, aber ich möchte es aus nächster Nähe sehen.«

Tatjana hat als Nachrichtensprecherin für (deutsch: Echo Moskaus) gearbeitet, der älteste unabhängige Radiosender. Tatjana hat Echo 18 Jahre ihres Lebens gewidmet.

»Ich gestatte mir noch nicht, über die Schließung von Echo nachzudenken. Im Vergleich zu den Geschehnissen in der Ukraine ist das eine Nebensächlichkeit. Krieg ist viel schlimmer als das Ende eines Radiosenders, so wichtig dieser auch war. Wenn das alles vorbei ist, werde ich versuchen, die Schließung meines Zuhauses zu verarbeiten. Echo war mein Zuhause. Mein Leben hat sich dramatisch verändert. Alles, was ich hatte, wurde zerstört: mein Beruf, meine Arbeit, meine Vorstellung von der Zukunft. Was vorherrscht, ist ein konstantes Gefühl von Machtlosigkeit mit Blick auf den schrecklichen Krieg, den der Präsident meines Landes begonnen hat. Dabei versteckt er sich hinter meinem Namen, indem er so tut, als stehe die ganze Bevölkerung hinter seiner Entscheidung. Ein Gefühlschaos zerreißt mich innerlich: Ich fühle Horror und Verzweiflung, weil ich unfähig bin, den Ukrainern zu helfen und die russische Regierung zu stoppen; Angst um meine Familie, Trauer, weil ich andauernd an das unaufhörliche Töten denken muss, Scham wegen allem, was passiert, und ein Gefühl persönlicher Verantwortung für das Geschehene.

Im Moment arbeite ich an einigen Sendungen auf dem alternativen Kanal des früheren Echo-Teams und streame ein bisschen auf Youtube. Ansonsten betreibe ich noch meinen eigenen Youtube-Kanal und arbeite als Freie für einige andere Medien. Solange es die Möglichkeit gibt zu arbeiten, mache ich das. Es ist jetzt extrem wichtig, dass die Leute unabhängige Informationen bekommen. Journalisten müssen ihrer Berufspflicht nachkommen. Das erscheint mir offensichtlich.«

Es ist allerdings in Russland nicht so einfach, noch als Journalistin zu arbeiten. Am 4. März wurde das neue »Fake News«-Gesetz verabschiedet. Auf dieser Grundlage können unabhängige Medienschaffende für bis zu 15 Jahre eingesperrt werden, wenn sie Aussagen treffen, die das »Militär diskreditieren«. Ich frage Tatjana, ob sie Angst hat weiterzumachen.

»Die Zukunft einer jeden Person in Russland ist in der Schwebe, ob Journalistin oder nicht. Die Medienlandschaft wurde gesäubert und Propaganda breitet sich überall aus. Wenn dieses Gesetz in Kraft tritt, sind Journalisten (und noch einmal: nicht nur diese!) in Gefahr. Es ist unglaublich schwierig, unter solchen Bedingungen zu arbeiten, aber das sind die Risiken des Berufs, da kann man nichts machen.

Ich plane immer nur maximal ein paar Tage voraus. Es ist zwecklos, sich das Gehirn zu zermartern, wo wir alle in einem Monat oder ein paar Jahren sein werden. Versuche einfach, dich darauf zu konzentrieren, denen zu helfen, die Hilfe brauchen, dich um deine Nächsten zu kümmern, und verstecke dich nicht vor der Wahrheit.

Aber es ist wichtig weiterzuarbeiten. Wir müssen teilen, welche Erfahrungen wir machen, während wir Informationen suchen und aufbereiten. In einer vollständig auf Linie gebrachten Medienlandschaft müssen die Leute selbst ein bisschen zu Journalisten werden. Wohin das führen wird, weiß keiner.

Die Menschen, die früher Echo gehört und Doschd geschaut haben, brauchen uns. Die ganz normalen Leute, die Informationen wollen und keine Propaganda. Menschen, , die bereit sind, die Wahrheit zu hören, und sich nicht vor ihr verstecken. Ich glaube, je mehr Leute sich bewusst machen, dass in unserem Land etwas gehörig schiefläuft, desto größer wird das Verlangen nach Informationen.«

Alexandra Baewa, 25 Jahre

Alexandra Baewa arbeitet bei der Nichtregierungsorganisation OVD-Info, die politisch Verfolgten in Russland Rechtsbeistand leistet. – Quelle: privat

Ich spreche mit Alexandra, Leiterin der Rechtsabteilung von OVD-Info, einem unabhängigen Medienprojekt über Menschenrechte und politische Verfolgungen in Russland. Unser letztes Gespräch fand in den ersten Kriegstagen statt. Ich bereitete die nächtliche Nachrichtensendung vor und Alexandra war als einzige Expertin dazu bereit, um 7 Uhr morgens live auf Sendung zu gehen. Als ich sie auf diese Nacht anspreche, schlägt sie sich die Hände vors Gesicht und lacht.

»Ich erinnere mich nur daran, dass ich ohnehin nicht schlafen konnte und dachte: Warum nicht noch ein bisschen mehr arbeiten? Die erste Kriegswoche war die härteste für OVD-Info. Bei den Antikriegsprotesten, die zeitgleich mit der Invasion begannen, gab es eine außergewöhnliche Zahl an Festnahmen. Das hatten wir so noch nicht erlebt. Es gab immer Verhaftungen bei Protesten, aber das waren Einzelfälle. Jetzt zählten wir Hunderte Festnahmen, manchmal sogar Tausende pro Tag, bis zum 6. März. Seither hat es keine Massenfestnahmen mehr gegeben, aber einzelne Verhaftungen gibt es jeden Tag, was bedeutet, dass weiterhin Hunderte Menschen festgenommen werden. Seitdem der Krieg begonnen hat, haben wir in ganz Russland mehr als 15.000 Festnahmen gezählt.«

Die meisten von Alexandras Kollegen und Kolleginnen entschieden sich, ihre Arbeit außerhalb Russlands fortzusetzen.

»Wir müssen uns entscheiden: Gehen oder bleiben? Du kannst das Land verlassen und damit das Risiko eingehen, niemals zurückkehren zu können, oder du bleibst, auch wenn du möglicherweise jegliche Chance verlierst, gehen zu können. Du musst auf einmal eine Entscheidung treffen, die du vielleicht nur einmal treffen kannst.

OVD-Info

OVD-Info ist eine Menschenrechtsorganisation mit Sitz in Moskau. Die Organisation wurde 2011 mit dem Ziel gegründet, politische Verfolgung in Russland sichtbar zu machen und Menschen zu unterstützen, die bei Protesten verhaftet werden. Die Aktivist:innen veröffentlichen Berichte über politisch motivierte Festnahmen und Machtmissbrauch durch die Polizei. Betroffenen helfen sie mit einer Hotline zur Rechtsberatung. Im September 2021 wurde OVD-Info als »ausländischer Agent« eingestuft und dadurch stark in ihrer Arbeit eingeschränkt.

Als Bürgerin eines Landes, das einen Krieg gegen einen seiner nächsten Nachbarn begonnen hat – ich kenne niemanden, der keine Verwandte oder Freunde in der Ukraine hat! –, und als Mitglied der Opposition in diesem Land bin ich in einer schwierigen Lage. In Russland bin ich nicht erwünscht, im Ausland auch nicht.

Ich habe mich fürs Bleiben entschieden. Aber um ehrlich zu sein, gab es 2 Tage, an denen ich Panik bekommen und mich gefragt habe: Was, wenn ich die falsche Entscheidung getroffen habe? Die Situation ändert sich rasend schnell. Früher war es möglich, das persönliche Risiko einzuschätzen; jetzt leben wir damit, dass jederzeit jemand kommen und dich festnehmen kann.

Viele Russen sagen, sie fühlen sich schuldig wegen der aktuellen Ereignisse. Weißt du, ich bin 25 Jahre lang in einem unterdrückerischen Regime aufgewachsen und die nächsten 25 Jahre werden wir mit der Schuld leben und versuchen müssen, alles wieder gutzumachen.«

Alexandra hat allerdings schon immer versucht, die Dinge von innen heraus zu ändern, zumindest mit ihrer Arbeit für OVD-Info. Gegen Ende März stellte die Gruppe fest, dass ihnen Anwälte fehlten – sie vertreten die Interessen der Menschen, welche bei den Protesten verhaftet wurden. Kein Wunder, denn es gab deutlich mehr Fälle als »normalerweise«.

»Unsere Anwälte sind ausgelaugt von den Gerichtsverfahren, die sie immer verlieren. Es ist mental belastend, wenn du zu einer Sitzung Beweismaterial, Fotos, Videos, Erklärungen der Mandanten und Zeugen bringst und der Richter all das einfach ignoriert. Wenn er die Hälfte der Gesuche, wenn nicht alle, ablehnt und dir sagt, dass es keinen Grund gäbe, den Polizeibeamten nicht zu glauben, die dem Richter sagen: Ich schwöre, ich weiß viel besser, wie es sich zugetragen hat.

Wir leben jetzt in einer neuen Realität, die noch kaum greifbar ist, in der die Dinge kaum vorhersehbar sind. Und das Schwierigste ist die juristische Dimension dieser Situation. Vorher konnten wir das Rechtssystem noch einschätzen: welche juristischen Schutzmechanismen es gibt, welche Rechte und Pflichten wir haben. Aber jetzt habe ich das Gefühl, bei all den Veränderungen gar nicht mehr hinterherzukommen. Gerade hatten wir den Gedanken verworfen, dass Russland wirklich aus dem austreten könnte – und schon ist Russland ausgetreten. Wie sich das auf uns und unsere Klienten, die politisch verfolgt werden, auswirkt, versuchen wir so schnell wie möglich herauszufinden. Aber es ist schwierig. Morgen kann schon das nächste repressive Gesetz erlassen werden und wir haben nicht die Zeit, die Folgen so schnell einzuschätzen.«

Ein anderer Grund zu bleiben ist Alexandras Masterstudium, das sie noch abschließen möchte.

»Schon vor dem Krieg hatte ich überlegt, zu gehen und meine Ausbildung woanders fortzusetzen. Momentan studiere ich. Ich hatte überlegt, anschließend in einem anderen Land zu promovieren, wo der Rechtsstaat demokratischen Prinzipien untergeordnet ist. Aber ich hatte immer vor, zurückzukehren und zu versuchen, etwas im russischen Rechtssystem zu verändern. Ich hatte nie vor, ganz auszuwandern.«

Es klingt fast schon ironisch, dass Alexandra ihre Masterarbeit über die Kontinuität von Bürgerrechten nach der Russischen Revolution 1917 schreibt. Wir sprechen über die und ob wir uns wirklich am selben Punkt befinden wie die Menschen nach der Russischen Revolution. Ich frage Alexandra, wie sie sich Russland in ihren Träumen vorstellt.

»Das Russland meiner Träume ist ein Staat, der Menschenrechte und die Freiheit schützen kann – und diejenigen bestraft, die sie verletzen.«

Redaktionelle Bearbeitung: Katharina Wiegmann, Übersetzung aus dem Englischen: Mathis Gilsbach und Katharina Wiegmann

Titelbild: privat - copyright

von Anna Fimina 
Anna Fimina arbeitete 4 Jahre lang für den russischen TV-Sender Doschd, bis er im März von der russischen Regierung gesperrt wurde. Heute ist sie freie Journalistin und ein großer Fan der Kulturwissenschaften.