Lebensmittelpreise: Die Schmerzgrenze ist längst erreicht. Was jetzt passieren muss
Unser Autor weiß, wie es ist, mit einem knappen Budget den Kühlschrank füllen zu müssen. Doch als er noch jeden Cent abzählen musste, kosteten Lebensmittel nur halb so viel wie heute.
In meiner Studienzeit kostete eine Packung Nudeln 45 Cent. Das ist inzwischen schon 10 Jahre her, doch dieser Preis ist fest in mein Gehirn eingebrannt:
Ich weiß seit damals sehr genau, wie es ist, auf günstige Lebensmittel angewiesen zu sein. Abzüglich der Miete und Nebenkosten blieb mir nur wenig mehr zum Leben als Hartz-IV-Beziehenden heute: 449 Euro. Nur kosten Nudeln heute keine 45 Cent mehr. Sie kratzen aktuell an der 1-Euro-Grenze und sind damit inzwischen doppelt so teuer wie damals.
Ich komme mir vor wie mein Opa, der früher immer davon erzählte, dass Brötchen »damals« für ein paar Pfennige zu haben waren. Doch ähnlich anekdotisch erscheinen mir heute die Lebensmittelpreise aus meiner Studienzeit. Schuld daran ist die aktuelle Entwicklung der Inflation, bei der Pasta im Vergleich
Man muss sich vorstellen, die [Hartz-IV-Beziehenden] haben als Single pro Tag nur 5 Euro zur Verfügung für Ernährung, für alles: Getränke, Essen. Ein Kind hat gerade mal 3 Euro zur Verfügung für Ernährung den ganzen Tag. Die Menschen stehen vor den Gemüseregalen oder vor den Schränken mit den Milchprodukten und schlagen die Hände über dem Kopf zusammen.
Angesichts der aktuellen Entwicklung wäre es das Mindeste, die Regelsätze für Bezieher:innen von Grundsicherung zu erhöhen und an die gestiegenen Preise anzupassen, genauso wie es der Paritätische Wohlfahrtsverband fordert. Das sollte spätestens jetzt auch den letzten Sparsamkeitshardlinern in der Regierung klar sein. (Wichtiger Hinweis an den Finanzminister:
Wenn wir aber wirklich »fair« wären, dann würden wir erkennen, dass auch das bei Weitem nicht ausreicht. Denn ein Detail übersehen wir dabei: »Haushalte mit geringeren Einkommen sind durch den Preisanstieg bei Haushaltsenergie überproportional belastet und sie spüren auch die Verteuerung der Nahrungsmittel stärker«, schreiben Wissenschaftler:innen der Hans-Böckler-Stiftung in ihrem aktuellen Inflationsmonitor. Das liege daran, dass bei diesen Haushalten die unverzichtbaren Ausgaben – für Lebensmittel, Wohnen, Heizen oder Mobilität – einen größeren Anteil an den Gesamtausgaben ausmachten.
Dabei ist das Ende des Preismarathons noch nicht einmal in Sicht: Branchenverbände warnen, dass die Preise für Milch und Brot in den kommenden Wochen nochmals um
Tafeln können nicht abfangen, was der Staat sicherstellen müsste
Was diese trockenen Zahlen in der Realität bedeuten, wird am Hilferuf des Vorsitzenden des Bundesverbandes der Tafeln, Jochen Brühl, deutlich: Die Tafeln allein könnten »diesen Druck nicht aushalten. […] Die Einmalzahlungen von wenigen Hundert Euro (im Rahmen des Entlastungspakets der Regierung) reichen nicht aus und kommen zu spät«, kritisierte Brühl. Die Situation sei so angespannt wie nie, der Andrang wachse,
Tafeln sind nicht Teil des sozialstaatlichen Systems. Wir helfen ehrenamtlich und nach Kräften, aber es war nie die Idee der Tafeln, alle armutsbetroffenen Menschen verlässlich und verbindlich zu versorgen.
Es ist wichtig, sich dies zu verdeutlichen: So (überlebens-)wichtig die Tafeln für arme Menschen in Deutschland sind, so sehr ist es ein Skandal, dass sie existieren müssen – in einem Land, in dem es
Sind wir denn wirklich alle derart abgestumpft, dass es uns gelingt, diese Absurdität angesichts der aktuellen Situation weiter ignorieren zu können? Und das, während eine ganze Reihe kurz- und mittelfristiger Lösungen zur Verfügung steht?
Was jetzt gefragt ist: Kurzfristige Hilfe und langfristiger Wandel
Einen ersten Schritt hat die Bundesregierung bereits am 27. April getan, um Empfänger:innen von Hartz IV zu helfen, indem sie den Einmalzuschlag auf 200 Euro verdoppelt hat. Doch dieser Plan lässt viel zu viele außen vor: Rentner:innen, Minijobber, Azubis ohne Vergütung und Studierende erhalten nichts. BAföG-Empfänger:innen erhalten immerhin eine Heizkostenpauschale von 230 Euro,
Dabei braucht es so oder so Geld für weitreichende strukturelle Maßnahmen, denn Einmalzahlungen sind aufgrund der andauernden Mehrbelastungen nur ein Tropfen auf den heißen Stein – vor allem weil es mehr als fraglich ist, ob (und wann) sich die Preisuhr zurückdrehen lässt.
Vor diesem Hintergrund mehren sich die Stimmen, die von Landwirtschaftsminister Özdemir (Grüne) fordern, mehr Anbauflächen für Lebensmittel in Deutschland freizugeben, die aktuell aus ökologischen Gründen nicht bewirtschaftet werden dürfen. Der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie sagte gegenüber der BILD, man könne »keinem Menschen erklären, dass deutsche Landwirte 20% Anbaufläche künftig lediglich biologisch bewirtschaften und 10% sogar als ökologisches Brachland stilllegen sollen«. Wer auf diese Weise versucht, Ökologie und Soziales gegeneinander auszuspielen, denkt viel zu kurz und sitzt einem grundlegenden Denkfehler auf, der uns nur noch mehr in die Misere führt. Denn ohne mehr Rücksicht auf die landwirtschaftlichen Nutzflächen werden die Böden mittelfristig nur schlechter und ertragsärmer, also das Gegenteil von dem, was wir brauchen.
Umso besser, dass es eine viel effektivere Maßnahme gibt, die gleich mehrere Probleme auf einmal lösen könnte: eine sozial gerechte und nachhaltige Reform der Mehrwertsteuer! Wie das gegen teure Lebensmittel und gegen die Klimakrise (ja, die gibt es immer noch, und zwar
Eine Maßnahme, 3-fache Dividende
Wie eine Reform der Mehrwertsteuer aussehen könnte,
Es könnte sogar eine 3-fache Dividende daraus werden – vorausgesetzt, es würde der Mut für einen entschlossenen weiteren Schritt aufgebracht: Nämlich den Satz für Fleisch als nicht unbedingt notwendiges Grundnahrungsmittel auf 19% zu erhöhen. Das wäre bei vielen Bürger:innen zweifellos unpopulärer, jedoch nur konsequent, da so zwangsläufig weniger Getreide für Viehfutter draufgehen und mehr direkt übers Brot in unseren Mägen landen würde. Und das sage ich als Fleischesser.
Zwar ist nicht zu 100% sicher, dass eine solche Mehrwertsteuersenkung an die Konsument:innen weitergereicht werden würde
Gegen die Vorschläge ist derweil die FDP. Deren Fraktionschef Christian Dürr kritisierte, dass eine solche Steuersenkung keine Maßnahme sei, die gezielt Menschen mit geringem Einkommen entlaste, und verwies auf das bereits beschlossene Entlastungspaket der Bundesregierung. Vielleicht sei den Liberalen, die nun ihr Herz für Geringverdiener:innen entdecken, am Ende gesagt: Wir könnten das eine tun, ohne das andere zu lassen.
Am Ende sind die Maßnahmen im Kampf gegen die Inflation reine Symptombekämpfung. Die Wurzel des Übels ist die wachsende Ungleichheit, die wir seit Jahren tolerieren. Diese Entwicklung drängt immer mehr Menschen an den unteren Rand der Gesellschaft, während sich am oberen Ende eine ebenso wachsende Gruppe von Millionär:innen abschottet. Würden wir es wirklich ernst meinen, bräuchten wir faire Umverteilung statt Almosen. Das ist keine Utopie: Es ist noch nicht lange her, dass der Staat durch die Vermögensteuer für mehr Ausgleich gesorgt und Parteien mit einer Reform der Erbschaftsteuer Wahlkampf gemacht haben. Wir müssen uns nur erinnern.
Hier erfährst du, auf welch dubiose Art und Weise die Vermögensteuer abgeschafft wurde:
Hier liest du, wie die Ampelkoalition die historische Chance zur Reform der Erbschaftsteuer liegen lässt:
Mit Illustrationen von Claudia Wieczorek für Perspective Daily