Warum dieser See gegen den US-Staat Florida vor Gericht zieht
Du, ich, sogar Unternehmen haben Grundrechte, die Natur nicht. Wieso eigentlich nicht? Was passiert, wenn Flüsse die gleichen Rechte wie Menschen bekommen.
Mary Jane ist nicht besonders
Du hast es sicher längst erkannt: Mary Jane ist ein See.
Und Mary Jane ist neuerdings »Anklägerin« in einem Rechtsstreit, der den US-Bundesstaat Florida und ein Bauunternehmen verklagt. Denn der Immobilienentwickler Beachline South Residential will 9 Quadratkilometer des Feuchtgebietes trockenlegen, das Mary Jane speist, und Pinienflachland und Zypressenwald fällen, um es in Wohnhäuser, Rasenflächen und Bürogebäude umzuwandeln. Mary Janes Existenz ist bedroht.
Moment mal. Ein See, der ein Gerichtsverfahren führt?
Jein. Der Umweltaktivist Chuck O’Neal reichte 2021 im Alter von Mitte 60 eine Klage gegen das geplante Bauprojekt ein – allerdings im Namen von Mary Jane und 4 anderen
Damit reiht sich die Verfassungsänderung des Orange Countys in eine Reihe von Gesetzesänderungen und Gerichtsurteilen der vergangenen Jahre ein, die versuchen, der Natur und den Tieren vor dem Gesetz eigene Rechte zu geben. So soll die Natur besser geschützt werden als über
Was diese Naturrechte wirklich bringen und wo ihre Grenzen liegen, will ich dir in diesem Text verdeutlichen – und zwar am Beispiel Mary Janes, die Ende April
Für uns Europäer:innen (und auch für viele US-Amerikaner:innen) klingt das erst mal befremdlich – haben wir doch den Bezug zur Natur durch deren wirtschaftliche Übernutzung und touristische Erschließung verloren.
Manchmal sind Perspektivwechsel erforderlich. Darum bekommt Mary Jane in diesem Text (m)eine Stimme, um ihre eigene Geschichte zu erzählen.
Ich, Mary Jane, erzähle dir meine Geschichte …
Wie alt ich bin, weiß ich nicht. Doch ich erinnere mich an die Zeit, es ist noch nicht allzu lange her, als mein Wasser ungestört fließen konnte, wohin es wollte. Damals paarten sich Alligatoren an meinen Ufern und bevölkerten das fruchtbare Sumpfland zwischen mir und meinem Zwilling Lake Hart.
Auch heute gelangt ab und an noch ein Riesenreptil in mein Wasser, doch das ist selten – zu groß ist die Angst der Anwohnenden vor den in ihren Augen »wilden Tieren«. Alligatoren werden von der Tierschutzbehörde sofort entfernt oder getötet – wenn sie sich vorher aggressiv gegenüber Menschen oder deren Haustieren verhalten haben. Heute dümpeln vor allem Menschen in meinem Wasser oder verweilen an meinen Ufern. Sie angeln die Forellenbarsche und manche erfreuen sich an den seltenen Gopherschildkröten oder lauschen dem Gesang des Florida-Buschhähers.
Für die Menschen scheine ich eine grüne Oase zu sein, die ihnen Ruhe und Abwechslung, ein wenig Schatten und Abkühlung verschafft – sobald sie ihre Betonbauten satthaben. Dabei bin ich so viel mehr.
Für die Fische, Insekten und Frösche bin ich Zuhause, Kinderstube, Zufluchtsort und Transportmittel in einem. Für Pflanzen bin ich ein Lebenselixier und Vögel finden bei mir ein offenes Büffet an Nahrung und Nistmaterial.
Mein Sumpfland saugt bei Starkregen das Wasser wie ein Schwamm auf und hält es für trockene Tage zurück. Dabei filtert die torfhaltige Bodenschicht Wasser und reinigt es wie eine Niere. Das Ökosystem, von und mit dem ich lebe, hält auch den Menschen die Füße trocken und das Grundwasser – ihr Trinkwasser – sauber.
Doch die Menschen leben nicht mit diesem Ökosystem. Sie leben von uns Seen und Flüssen wie Parasiten. Sie nutzen uns so lange, bis wir ausgedient haben. Ich weiß genau, wie das abläuft, denn ich erlebe es täglich mit.
Der Ernst der Lage – und neue Verbündete
Jedes Jahr muss ich mich von der Sonnencreme, den Parfums und all den anderen Substanzen erholen, welche die Menschen mit in mein Wasser bringen.
Kein Wunder, dass meine Wasserwerte nicht mehr so gut sind, wie sie es einmal waren. Die letzten Wasserproben haben gezeigt, dass meine Bleiwerte zu hoch sind. Auch Quecksilber wurde schon in den Geweben der Fische festgestellt, die in mir leben. Die lokale Behörde testet regelmäßig meine Werte, unternimmt jedoch nichts
Und der Mensch bedrängt mich immer mehr. Meine Region ist bei Tourist:innen sehr beliebt. Verübeln kann ich es ihnen nicht. Die Natur ist wunderschön, zumindest die, die noch übrig ist. Ständig kommen Scharen an Menschen in das sogenannte »Erholungsgebiet«, lassen ihren Müll liegen, verscheuchen die Tiere oder trampeln Pflanzen platt. Und jedes Jahr werden neue Ferienwohnungen an meine Flussufer gebaut; auch die Wohnbebauungen um mich herum werden immer größer.
Ein Großteil meiner Nord- und Ostseite ist zugebaut mit Häusern. Ihre langen Docks ragen einige Meter in mein Wasser, schwere Zementbetonierung sollen sie dort halten. Noch viel mehr Häuser sollen folgen. Das erzählt mein Freund Chuck O’Neal, der mich seit einiger Zeit regelmäßig besucht. Manchmal allein und manchmal in Begleitung, wie neulich mit der
»Dieses Wasser fließt schon seit Zehntausenden von Jahren so. Wo wird das bei dieser Entwicklung berücksichtigt?«, fragt er und bringt das Problem auf den Punkt.
O’Neal ist Gründer von Speak Up Wekiva, einer Naturschutzorganisation, die nach einem Fluss benannt ist, der in der Nähe seines Hauses fließt. Wekiva kenne ich selbst nicht, doch sie klingt nach einer netten Weggefährtin. Bis vor Kurzem war O’Neal auch der Vorsitzende einer Gruppe namens
Er ist der Erste, der wirklich Partei für mich und die 4 anderen Gewässer in meiner Nähe ergreift und unseren Schutz vor Gericht einklagt. Denn auch wir wollen nichts anderes, als zu existieren.
Doch unsere Existenz ist bedroht, wenn weitere Quadratkilometer des Feuchtgebietes, das uns versorgt, für Apartments, Gewerbeflächen, Parkplätze und Straßen aufgeschüttet und trockengelegt werden sollen. Damit würde der natürliche Abfluss der Flüsse in uns Seen empfindlich gestört.
Das verantwortliche Bauunternehmen will die verursachten Schäden zwar wieder ausgleichen, indem es den Schutz von Feuchtgebieten oder bedrohten Arten andernorts finanziell unterstützt. Das ist löblich, doch wieso muss ich dafür zugrunde gehen?
Hat die Natur wirklich Rechte – oder nur der Mensch?
Das Bauunternehmen Beachline South Residential drängt auf die Abweisung unserer Klage. Die Rechte, auf die wir uns beriefen, würden nicht existieren und könnten es auch nicht. Denn ein See sei ja kein Lebewesen.
Doch diese Gesetze sind nicht fair, finde ich. Denn die derzeitigen Gesetze in den USA (und in den meisten Teilen der Welt) sind
Eine andere Form von Rechtsauffassung sind Naturrechte. Sie basieren auf der Erkenntnis, dass Mensch und Natur gemeinsam existieren und ein Gleichgewicht hergestellt werden muss. So schaffen Naturrechte Leitlinien für Maßnahmen, die uns unabhängig vom Nutzen für den Menschen schützen.
Unsere Gastautorin Henrike Wiemker erörtert die Chancen und Gefahren von Naturrechten:
»Im Moment gibt es einen Bauboom, der Wälder in Rekordtempo abholzt und große Teile der Natur vernichtet. Es ist wichtig, dass die lokalen Regierungen das Recht haben, ihre Umwelt zu schützen«, so mein Interessensverfechter Chuck O’Neal. Er hat in seiner Position als damaliger Vorsitzender des Florida Rights of Nature Networks maßgeblich zum Erfolg der Volksabstimmung der Naturrechte im Orange County beigetragen. Seitdem habe das Netzwerk viele Anfragen von Bürger:innen aus Gemeinden im ganzen Bundesstaat erhalten,
Brasilien, Bolivien, Kolumbien, Ecuador, Indien, Mexiko, Neuseeland, die Schweiz und die USA: Seit 2006 gibt es über 100 Initiativen in 24 Ländern, die die Rechte der Natur in geltendes Recht
Das Schutzrecht der Natur besteht dabei um seiner selbst willen, es ist unabhängig von dem Recht des Menschen auf eine
Im Jahr 2017 wurden zudem Flüssen in Kolumbien und Neuseeland Rechtsansprüche zugesprochen, darunter dem Whanganui River,
Der Gedanke, Wäldern und Bächen ein Mitspracherecht einzuräumen, ist nicht neu. Die meisten indigenen Völker und auch Religionen haben bereits seit Jahrtausenden ihre Abhängigkeit von der Natur erkannt und damit auch ihre Beziehung zu ihr respektiert. Erst in den letzten Jahrhunderten ist dieser Respekt verloren gegangen und wirtschaftlicher Profit und Wachstum wurden wichtigere Ziele.
Es ist Zeit, das Blatt zu wenden, finde ich.
Doch ich kann nichts ändern, der Mensch muss für mich eintreten. Denn seine Rechtssysteme sind von Menschen für Menschen gemacht. Er hat aber jederzeit die Möglichkeit, sein Rechtsverständnis zu verändern – so wie er das schon immer getan hat. Zum Beispiel wurde die Definition einer »juristischen Person«, wie O’Neal sie nennt, von weißen, männlichen Grundbesitzern im 18. und 19. Jahrhundert heute auf Schwarze, Frauen und Kinder ausgedehnt. Recht und Definitionen sind nicht in Stein gemeißelt. Vielleicht ist es an der Zeit,
Wieso Europa bei den Naturrechten hinterherhängt
Auf einem Kontinent speziell scheinen die Eigenrechte der Natur auf taube Ohren zu stoßen: in Europa. Meine Freund:innen Wolga, Donau und Ural wissen, dass die Europäische Union keine Anstalten pflegt, Naturrechte anzuerkennen. Sie hat im Jahr 2021 ein paar Forscher:innen den aktuellen Stand und die Wirksamkeit der bisher
Der EU reichen die bestehenden Umweltgesetze aus. Die Interessen der Natur werden dort durch nicht staatliche Organisationen vertreten, meistens von Umweltschutzorganisationen. Sie hätten ein spezielles Klagerecht, von dem sie Gebrauch machen könnten, erklärt mir O’Neal.
In Ordnung. Immerhin haben sie geklärt, wer ein wachsames Auge auf uns werfen soll und für uns sprechen darf. Doch haben sie auch bedacht, dass das ganze Konzept der Naturrechte erst am Anfang steht?
Immerhin werden Naturrechte weiter diskutiert, inzwischen auch in Europa – zuletzt beim
Wäre das wirklich so seltsam? Auch Unternehmen, Kapitalgesellschaften und Stiftungen können nicht sprechen und fühlen, trotzdem haben sie ihre »eigenen Interessen« vor Gericht, können sich schützen und ihre Rechte einklagen. Auch diese kapitalistischen Konstrukte agieren nur so wie die Menschen, die als Treuhänder:innen hinter ihnen stehen.
Das deutsche Umweltbundesamt findet: Menschen können nur aus menschlichen Perspektiven denken und daher nicht für
Erst wenn Rechtssysteme auch die Interessen und Bedürfnisse der Natur in den Fokus nehmen – und sei es auch nur durch die Brille des Menschen –, vermag das Verhältnis von Mensch und Natur wieder repariert werden.
Warum mein Urteil wichtig ist, selbst wenn meine Klage abgewiesen wird
Zurück zu meiner Heimat, dem Orange County. Dort hat mir Chuck O’Neal letztens gebeichtet, dass unsere Klage vermutlich scheitern wird. Denn Wirtschaftslobbyist:innen verankerten in einem Gesetzentwurf, der sich hauptsächlich mit der Regulierung von Klärsystemen befasse, einen Zusatz, der es den lokalen Regierungen untersage, Rechtsansprüche auf irgendeinen »Teil der natürlichen Umwelt« zu gewähren.
Nichtsdestotrotz bleibe ich optimistisch. Momentan tut sich überall auf der Welt etwas, Naturrechte rücken angesichts der Klimaerhitzung und der sich vermehrenden Katastrophen
Meine Urteilsbegründung wird zeigen, wo es nach Ansicht der Richter:innen noch Schwachstellen und Nachbesserungsbedarf für die Zukunft gibt. Jeder Gerichtsprozess ist eine Lektion, aus der Umweltschützer:innen lernen können. Es ist ein mühsamer Prozess, doch das bin ich gewohnt. Für das große Ganze, unsere Existenz, zählt jeder noch so kleine Schritt.
Mit Illustrationen von Claudia Wieczorek für Perspective Daily