Ein Land ohne Gefängnisse: Kann das funktionieren?
Ein ehemaliger Gefängnisdirektor und ein Ex-Häftling machen gemeinsame Sache. Unsere Autorin hat mit dem ungewöhnlichen Duo gesprochen – und einen Ort besucht, der sie beide geprägt hat.
»Strafgevangenis A° MDCCCCI«. In goldenen Buchstaben steht es über dem Haupteingang des ehemaligen Gefängnisses in der niederländischen Stadt Haarlem, dank seines gigantischen Kuppeldachs eines der bekanntesten Bauwerke der Stadt.
Beim Betreten des ringförmigen Gebäudes geht der Blick beinahe automatisch nach oben. Es ist ein beeindruckender Anblick: Von der Kuppel bis zum Keller, in dem sich seit 2022 ein Kino befindet, erstrecken sich knapp 43 Meter. Sonnenlicht strömt durch die Fenster des gewölbten Daches. Im Innenraum steht eine 3-stöckige Stahl-Glas-Konstruktion, die Platz für offene Büros, eine Hochschule, ein Café, ein Fotostudio und Ausstellungsräume bietet.

»De Koepel« – wie das ehemalige Gefängnis von Stadtbewohner:innen genannt wird – ist ein heller, freundlicher Ort, der zum Verweilen einlädt. Studierende arbeiten in Kleingruppen an ihren Laptops, Kinobesucher:innen laufen ein und aus, Baristas brühen Kaffee. Nur die mit Metallstangen versehenen ehemaligen Zellfenster sowie die in schwarzer Farbe an die Wand gemalten Zellnummern erinnern daran, dass dieser offene Raum einmal eine geschlossene Festung war.
Ohrenbetäubender Lärm und ständige Überwachung
Was besonders auffällt: Dank guter Schalldämmung ist es in dem großen Innenraum trotz eines Durchmessers von rund 60 Metern ruhig. Kaum zu vergleichen ist die Stille mit dem
Du hörtest alles: die Schritte der Wachen, die Patrouille liefen; das Klappern der Zellschlüssel; deine Mitgefangenen, die sich nachts gegenseitig anschrien. In Haarlem warst du niemals allein.
Khalil Chaït verzieht das Gesicht vor der Videokamera, als er daran zurückdenkt. Er engagiert sich für eine Reform des niederländischen Strafrechtssystems und hat selbst einen 10-jährigen Gefängnisaufenthalt hinter sich. Erst vor knapp einem Jahr ist

Auch
Eine Gesellschaft ohne Gefängnisse?
Für Chaït und Douw fungiert »De Koepel« heute als Denkmal, das an eine Gefängniskultur erinnern soll, die hoffentlich bald der Vergangenheit angehört. Es ist eines von rund 20 Gefängnissen, die der niederländische Staat in den Jahren 2014–2017 geschlossen und
Denn im Laufe der Zeit ist die Inhaftierungsrate in den Niederlanden stark gesunken. 2021 gab es fast 1/4 weniger inhaftierte Menschen als 2011; insgesamt ging die Zahl auf 54 Personen pro 100.000 Einwohner:innen
Was für einige unmöglich klingen mag, empfinden Chaït und Douw als erstrebenswert. Zumindest wenn es um geschlossene Gefängnisse geht. Denn nach einer 10-jährigen Haftstrafe bzw. einer 27-jährigen Tätigkeit als Gefängnisdirektor kennen die beiden Freunde die
Kennengelernt haben sie sich im Jahr 2015, als Chaït in der Justizvollzugsanstalt Heerhugowaard
Hier waren die Zelltüren stets geöffnet und die inhaftierten Personen stellten eigene Regeln auf. So erstellten sie einen Dienstplan für das Säubern der Gemeinschaftsräume, coachten einander beim Sport und halfen in der Gefängnisbibliothek aus. Jeden Abend kochten und aßen alle miteinander, um den Tag und eventuelle Konflikte zu besprechen. Frans Douw brachte einmal pro Woche eine Kanne Kaffee vorbei und suchte das Gespräch mit den Teilnehmenden seines Experiments. Er hatte großes Vertrauen in sie.
Ich wusste, dass es klappen würde. 41 Jahre lang habe ich in Gefängnissen gearbeitet und gelernt, dass inhaftierte Menschen nicht böse sind. Sie haben Talente und Bedürfnisse. Wenn wir ihnen die Chance geben, ihren Beitrag zur Gemeinschaft zu leisten, dann können wir alle davon profitieren.
Und Douw behielt recht. So gab es auf dem Trakt ohne Wärter:innen, der 7 oder 8 Jahre lang fortbestand, nicht einen gewaltsamen Vorfall. Niemand missbrauchte das entgegengebrachte Vertrauen. Stattdessen nutzten die Teilnehmenden die Chance, Eigenverantwortung zu übernehmen und sich somit auf ihr Leben nach der Haft vorzubereiten.
Warum Gefängnisse niemandem nützen
Obwohl es innerhalb von Gefängnismauern stattfand, steht Douws Experiment in seinem Ansatz beispielhaft für ein Justizsystem, wofür sich er und Chaït stark machen: weg von reiner Bestrafung und hin zur Förderung von Talenten; weg von Isolation und hin zu Integration.
Geschlossene Gefängnisse als Standardlösung haben in dieser Vision keinen Platz. Natürlich sei es weiterhin wichtig, Straftaten zu ahnden – insbesondere um die Rechte der Opfer und ihrer Angehörigen zu schützen. Das betonen sowohl Chaït als auch Douw.
Doch sie wissen, dass eine Abschottung im Gefängnis nicht den Zweck der Resozialisierung und Reintegration erfüllt. So liegt der Prozentsatz der ehemaligen Inhaftierten, die innerhalb von 2 Jahren nach ihrer Entlassung erneut straffällig werden, in den Niederlanden bei
»Wir wissen genau, wo die Kriminellen der Zukunft leben«
Außerdem sind Gefängnisse unwirksam gegenüber einer Kernursache von Kriminalität: struktureller Ungerechtigkeit. Denn in Gefängnissen sitzen überproportional viele Menschen aus systematisch benachteiligten Gruppen ein. Rassismus, Klassismus: Viele Menschen, die im Gefängnis landen, haben eine jahrelange Vorgeschichte voller Marginalisierungserfahrungen.
Wir wissen genau, in welchen Nachbarschaften die Kriminellen der Zukunft leben. Denn wir wissen, wer die entrechteten Gruppen sind. In den Niederlanden wachsen etwa 400.000 Kinder unter der Armutsgrenze auf. Wenn wir wirklich etwas gegen Kriminalität tun wollen, müssen wir unsere Anstrengungen darauf lenken, dass diese Kinder und ihre Familien mehr Gerechtigkeit erfahren.
Auch Khalil Chaïts Inhaftierung hat solch eine Vorgeschichte. Er wuchs in einer von Rassismus betroffenen marokkanischen Community in den Niederlanden auf; berufliche Träume platzten, da die Familie keinen Kredit für hohe Ausbildungskosten bekam. Er schrieb mehr als 200 Bewerbungen für Firmenpraktika – alle wurden abgelehnt.

Um anderen die Chancen zu geben, die er nie hatte, gründete Chaït nach seiner Haftentlassung die
Zu Besuch in der Gefangenen-WG
Ortswechsel: In einer Wohnsiedlung mitten in Utrecht, rund 50 Kilometer von dem ehemaligen Gefängnis in Haarlem entfernt, ist Chaïts und Douws Vision von einer gefängnislosen Gesellschaft bereits ein Stück weit Realität.
Das 2-stöckige Eckhaus, in dem rund 15 inhaftierte und kürzlich entlassene Personen wohnen, ist aus dem gleichen braunen Klinker gebaut wie fast alle Häuser in der Nachbarschaft. Neben der Haustür hängt ein Schild, auf dem der Name des Trägers der offenen Haftanstalt steht: Exodus. Drinnen befindet sich im Eingangsbereich eine schwarzgraue Sofagarnitur. Eine Treppe führt nach oben, zu einer Gemeinschaftsküche und den Zimmern der Bewohner:innen. An einer verglasten Tür hängt ein Putzplan, der Erinnerungen an ein Studierendenwohnheim weckt. Montag: Küchendienst. Dienstag: WC reinigen. Hinter jedem Dienst steht ein anderer Name. Doch anders als in einem normalen Wohnheim ist die Tür, an der der Plan hängt, verschlossen. Hindurch kommen nur die Sozialarbeiter:innen, die dafür eine Schlüsselkarte besitzen.
In die Kieze und Siedlungen unserer Städte und Dörfer kehren straffällige Menschen letztendlich sowieso zurück. Daher ist es besser, wenn wir gleich hier mit der Reintegration beginnen und sie nicht irgendwo abschotten.
Einer dieser Sozialarbeiter:innen ist Pieter Dekker. Er sitzt in dem verglasten Besprechungsraum hinter der verschlossenen Tür, den Blick stets auf den Eingangsbereich der ungewöhnlichen Institution gerichtet. Es ist später Nachmittag, viele der ausschließlich männlichen Bewohner gehen ein und aus, kommen von der Arbeit oder gehen im Supermarkt um die Ecke einkaufen. Andere machen sich auf den Weg zum Sportplatz. Spätestens um 23 Uhr müssen sie zurück sein, Alkohol- und Drogenkonsum sind strikt verboten. Das kontrollieren Pieter Dekker und seine Kolleg:innen genau, sie sind 24/7 vor Ort. Der Sozialarbeiter ist überzeugt: »Wenn wir den Menschen ein Gefühl der Selbstbestimmtheit geben, wenn sie wissen, dass sie wichtig sind, dann sind sie in der Lage, sich für einen anderen Lebensstil zu entscheiden.«

Gegründet wurde Exodus bereits 1979 vom Gefängnisprediger Jan Eerbeek mit der Idee, Wohnraum und ambulante Betreuung für ehemals inhaftierte Personen zu schaffen. Heute können sich inhaftierte Menschen schon während ihrer Haft auf einen anderthalbjährigen Aufenthalt bewerben. Das Ziel: der Aufbau einer Zukunft mitten in der Gesellschaft, nicht an ihrem Rande. Dabei arbeiten die Teilnehmenden eng mit Sozialarbeiter:innen und Freiwilligen zusammen, die sie dabei
»Verändern wird sich nichts, solange wir unser Denken nicht verändern«
Trotz der Erfolge gibt es Exodus-Häuser neben Utrecht bisher nur in 10 weiteren Städten. Damit solche Programme Gefängnisse als Norm ersetzen können, brauchen sie mehr Unterstützung aus Justiz, Politik und Gesellschaft – und die gibt es momentan nicht. Im Gegenteil. Der anfangs beschriebene Rückgang der niederländischen Inhaftierungsrate bedeutet nicht, dass die Justiz häufiger auf

Expert:innen vermuten andere Gründe hinter dem Rückgang. So sollen beispielsweise finanzielle Kürzungen dazu geführt haben, dass strafrechtliche Ermittlungen ineffizienter geworden sind. Zudem stellt die Justiz inhaftierten Personen und ihren Angehörigen keine Informationen über Alternativprogramme wie Exodus zur Verfügung. Inhaftierte Menschen müssen sich selbst darüber informieren und sich
Auch die Politik ist nicht auf Chaïts und Douws Seite. So verabschiedete die aktuelle Regierung im Juli ein Gesetz, das vorsieht, dass inhaftierte Menschen nicht mehr standardmäßig nach 2/3 ihrer Haftzeit, sondern höchstens 2 Jahre vor dem Ablauf ihrer Haftstrafe vorzeitig entlassen werden. Chaït erklärt, dass das vielen inhaftierten Menschen die Motivation nimmt, sich auf Programme wie Exodus zu bewerben.
Wir kennen die Probleme und haben die Lösungen. Doch es verändert sich nichts, solange wir nicht unser Denken verändern.
Überrascht sind Khalil Chaït und Frans Douw von dieser Entwicklung jedoch nicht. Sie erklären, dass der härter werdende Umgang mit Kriminalität vor allem eine gesellschaftliche Forderung nach härterer Bestrafung widerspiegelt.
Vor ein paar Jahren besuchte der Verteidigungsminister mein damaliges Gefängnis und sagte: ›Ich muss nicht tun, was richtig ist. Ich muss tun, was meine Wähler:innen von mir verlangen.‹
Die Forderung danach, Menschen wegzusperren, sei in vielen Fällen nachvollziehbar, so Chaït und Douw, vor allem dann, wenn sie von Opfern und ihren Angehörigen gestellt werde. Selbstverständlich müsse auch ihr Recht auf Sicherheit geschützt werden.
Gleichzeitig gründe der Wunsch nach Bestrafung in einer
Dafür, dass dieses gesellschaftliche Umdenken stattfindet, setzt sich Veronique Aicha ein. Sie ist die Landeskoordinatorin der niederländischen Fraktion von RESCALED, einer europäischen Bewegung für kleine, dezentralisierte Haftanstalten. Ich habe mit Aicha gesprochen und gefragt: Wie wollt ihr das Justizsystem verändern? Das Interview kannst du hier nachlesen:
Redaktionelle Bearbeitung: Katharina Wiegmann
Titelbild: Lena Bäunker - copyright