Warum denkst du, dass du recht hast?
Mit manchen Menschen lässt sich einfach nicht diskutieren. Ganz klar, du weißt, was Sache ist. Oder gaukelt dir dein Gehirn das nur vor?
Halte mal kurz inne und schaue entspannt auf den Bildschirm. Wir wollen eben deine Gedanken lesen und beginnen mit deiner politischen Position. Also:
Du bewertest deine politische Offenheit als angemessen. Du bist gewillt, über andere Positionen zu diskutieren, setzt dich aber stets für deine Werte ein. Bei den meisten politischen Debatten schätzt du Menschen, die links von dir stehen, als etwas naiv, zu idealistisch und realitätsfremd ein; sie tendieren deiner Meinung nach dazu, politisch überkorrekt zu sein. Menschen auf der anderen, rechten Seite deiner eigenen Position siehst du als egoistisch und ein wenig engstirnig. Du denkst, dass es ihnen an Mitgefühl für Menschen mangelt, die anders leben als sie, und dass sie deren alltäglichen Probleme nicht verstehen.
Und?
Die Antwort ist viel einfacher. Du stehst mit großer Wahrscheinlichkeit nicht in der Mitte, sondern irgendwo rechts oder links. In deiner Wahrnehmung bist du aber genau die Person, die vernünftig, objektiv und richtig ist.
»Gesunder Menschenverstand ist das bestverteilte Gut der Welt: Jeder meint, dass er da genug von habe.« – Voltaire
Genau das ist das Problem. Jeder hält sich selbst für klüger. Deshalb sind politische Debatten und Konflikte festgefahren, deshalb scheinen sich Wähler und Politiker voneinander zu entfremden, deshalb scheinen die Gräben zwischen dir und anderen politischen Positionen breiter zu werden.
Die gute Nachricht: Wir haben den Verursacher all dieser Probleme aufgespürt. Es ist der
1. »Meine Realität ist doch objektiv!«
Hier hilft ein einfaches Alltagsbeispiel. Du bist auf der Autobahn unterwegs und neben dir rast ein Auto vorbei. »So ein Spinner!« Wenige Kilometer weiter musst du kräftig bremsen, weil der Fahrer vor dir das Gaspedal nicht zu finden scheint.
»Wenn nur alle so Auto fahren würden wie ich, wäre die Welt eine viel bessere!«
Selbstredend hast du genau das richtige Tempo. Die Situation ist ein typisches Beispiel für unsere automatische Einschätzung, dass unsere Wahrnehmung der Welt stets die richtige ist – wenn das jemand anders sieht, ist er schlecht informiert oder nicht ganz auf der Höhe. Doch es gehört zu den Unzulänglichkeiten unseres Gehirns, dass wir glauben, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind.
Hand aufs Herz: Du kennst das Gefühl nach einem Spiel der Nationalelf. »Was haben die Italiener unfair gespielt! Und der Schiedsrichter hat nichts gesehen und war total parteiisch!« Das Problem daran: Die italienischen Fans sehen das genauso,
2012
Der Trick dabei: Einem Teil der Zuschauer erzählten die Wissenschaftler vorab, dass die Proteste sich gegen Abtreibungen richteten; die andere Hälfte ging davon aus, dass sich der Protest gegen den Umgang des amerikanischen Militärs mit Homosexuellen richtete.
»Wir sehen, was wir sehen wollen – und wir lehnen die Fakten ab, die unsere Identität gefährden.« – Tim Harford, englischer Ökonom und Journalist
Die Aussagen der Zuschauer, was sie gesehen hatten, wurden stark durch ihre politische Haltung beeinflusst: Politisch konservative Zuschauer sahen den Protest gegen das US-Militär aggressiver als
Es ist verlockend anzunehmen, dass wir die Welt so sehen, wie sie ist – und dass unsere Wahrnehmung nicht verzerrt, gefiltert oder tendenziös sei. Alles, was wir haben, ist jedoch ein subjektives Bild – egal ob es um die Wahrnehmung eines Fußballspiels oder einen politisch motivierten Protest geht. Wir sind alle nichts weiter als
2. »Warum kapieren die das nicht?!«
Als naive Realisten gehen wir schnell davon aus, dass andere Menschen, die das Gleiche sehen, lesen und hören wie wir, die gleichen Schlussfolgerungen ziehen.
Wir Menschen nehmen nicht nur reflexartig an, dass unsere Wahrnehmung eins-zu-eins der Realität entspricht; wir gehen oft einen Schritt weiter und gehen davon aus, dass unsere eigenen persönlichen Wahrnehmungen besonders akkurat und objektiv sind.
Wärst du bereit, dich als lebensgroße Werbetafel für eine Sandwichkette herzugeben? Als Wissenschaftler
Wir sind also geneigt zu denken, dass ein (zu) großer Teil der Menschen denkt wie wir selbst. Das ist nicht verwunderlich – schließlich nehmen wir an, dass wir die Welt so wahrnehmen, wie sie wirklich ist. Der nächste Schritt liegt auf der Hand. Andere Menschen nehmen die Welt so wahr wie ich – angenommen, sie haben die gleichen Informationen und diese vernünftig verarbeitet.
72,4%. Das war die
Nicht nur bei Alltagsentscheidungen, sondern auch wenn es um politische Fragen geht, überschätzen wir die Ähnlichkeit zwischen uns und anderen Menschen. Wenn zum Beispiel der Linke-Wähler aus Erfurt mit dem CSU-Wähler aus
Dabei sind sie – genau wie du – in der eigenen Wahrnehmung gefangen. Wir alle ignorieren häufig, dass das Gegenüber oder der Politiker im Fernsehen ein anderes Konzept im Kopf hat, wenn er über das Gleiche zu sprechen scheint: »Das Gleiche«, weil er die gleichen Wörter benutzt; »zu scheint«, weil die Wörter etwas anderes für ihn bedeuten als für uns. Bei jeder Bewertung unterschätzen wir meist den riesigen Einfluss, den unser Hintergrund, unsere Werte und Überzeugungen auf unsere Wahrnehmung haben.
Wir müssen anerkennen, dass unser Weltbild genau das ist – ein Bild, das durch unseren Blickwinkel, unsere Geschichte und unser spezifisches Wissen geformt wurde.
Nicht so, wenn es um die Urteilsfähigkeit des Gegenübers geht: Während wir selbst uns für den objektiven Betrachter halten, sind »die anderen« all diesen Einflüssen hoffnungslos ausgeliefert. Aber großzügig wie wir sind, geben wir uns trotzdem Mühe, sie zu überzeugen …
3. »Ich bin weniger voreingenommen als die anderen!«
Generell haben wir meist 3 mögliche Erklärungen, wenn das Gegenüber nicht unsere Ansichten und Schlussfolgerungen teilt.
- Unterschiedliche Informationen: Sollen die deutschen Grenzen dichtgemacht werden? Jemand, der diese Frage anders beantwortet als du, hat sicher
- Faul oder eingeschränkt: Kommt er trotz gleichem Informationszugang noch immer zu einem anderen Ergebnis als du, ist er entweder faul,
- Voreingenommenheit: Gehst du davon aus, dass die andere Person weder faul noch dumm ist und sich durchaus Mühe gegeben hat, die vorliegenden Informationen zu verstehen, bleibt nur eine Erklärung. Das Gegenüber ist
Alle 3 Aspekte können eine Rolle spielen – doch wie oft machen wir uns bewusst, dass sie auch für uns selbst gelten? Eher selten. Generell gehen wir davon aus, dass wir
Machen wir uns die eigene und fremde Voreingenommenheit nicht bewusst, enden Diskussionen vor allem hier:
Wie kommen wir da wieder raus?
»Weisheit besteht darin, unsere Beschränkungen zu verstehen.« – Carl Sagan, amerikanischer Astronom und Wissenschafts-Vermittler
Schritt 1 ist natürlich, sich selbst einzugestehen – genau wie alle anderen – voreingenommen zu sein. Eine bessere Demokratie beginnt damit bei jedem Einzelnen von uns. Und dem Geständnis, nicht ganz so clever zu sein, wie wir gern denken.
Das tieferliegende Problem ist jedoch: Wenn wir in uns gehen, um nach dem blinden Fleck der eigenen Einschränkungen zu suchen, finden wir nichts. Wir sind noch immer davon überzeugt,
Egal wie sehr wir suchen, den blinden Fleck können wir allein nicht sehen. Dafür brauchen wir Hilfe von außen.
Das gilt auch für den blinden Fleck der eigenen Voreingenommenheit. Wir können unsere Aufmerksamkeit nicht auf ihn richten. Wir brauchen die Hilfe anderer, um den toten Winkel zu erkunden. Sie können uns darauf hinweisen, dass unser eigenes Weltbild verzerrt ist.
Doch weil jedes Weltbild verzerrt ist, tendieren wir dazu,
Dies ist der erste Text von uns beiden, indem wir uns »kritisch mit dem kritischen Denken« auseinandersetzen – und dabei als Neurowissenschaftler den Einfluss unseres Gehirns auf (politische) Debatten und Entscheidungen untersuchen.
Mehr davon? Dieser Text ist Teil unserer Reihe zum Kritischen Denken!
Mit Illustrationen von Robin Schüttert für Perspective Daily