Wie der Krieg Deutschlands Identität verändert
Wir liefern Waffen, haben Angst um Sicherheit und machen Unsummen für Aufrüstung locker. Seit Krieg in der Ukraine herrscht, sehen wir vieles in einem anderen Licht. Verändert das die deutsche Identität?
Staaten sind wie Menschen – sie zeichnen sich durch individuelle Wesenszüge aus und führen Beziehungen miteinander. Wären Staaten eine Gruppe von Freund:innen, so würden die USA die Rolle der Gruppenführerin übernehmen: Diejenige, die entscheidet, in welcher Bar man sich trifft, weil die Runde Bier meist auf sie geht. Russland wäre der Freund, dem in seinen Augen eigentlich die Rolle des Chefs zustünde. Weil er sich nicht ernst genommen fühlt, ist er oft beleidigt und lästert über die USA. Polen könnte in dieser Runde der Kumpel sein, der sich oft querstellt, wenn jemand neue Leute mitbringt. Und schließlich Deutschland: Die Freundin, die es immer allen recht machen will und dadurch aneckt, weil sie nie klar Position bezieht.
Natürlich ist diese Metapher überspitzt formuliert und verallgemeinert. Aber tatsächlich beschäftigt sich eine
Diese Selbstwahrnehmung bestimmt, wie sich das Land auf der internationalen Bühne verhält – zumindest laut außenpolitischen »Identitätstheorien«. Im Umkehrschluss kann eine Regierung gegenüber der eigenen Bevölkerung nur jene Entscheidungen rechtfertigen, die sich im Rahmen dieses Selbstverständnisses bewegen.
Ein atypisches Verhalten würde auf
Würde Deutschland im Alleingang in einem Konflikt mitmischen wollen, gäbe es einen Aufschrei.
Externe Schocks – wie zum Beispiel ein Krieg in der direkten Nachbarschaft – können die Identität eines Staates aber auch verändern.
So einen Schock erlebte Europa mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Das hat eine Reihe an Umbrüchen in den politischen Entscheidungen europäischer Länder angestoßen. Unter anderem zeigen sich diese Veränderungen darin, wie in der Öffentlichkeit – in Talkshows, Zeitungsartikeln oder von Politiker:innen – über Aufrüstung, Waffenlieferungen und nationale Sicherheit gesprochen wird.
Ich habe einen genaueren Blick auf diese neuen Argumente und Debatten geworfen, die der Krieg in Deutschland – und auf ähnliche Weise in mehreren EU-Ländern – angestoßen hat. Ich möchte verstehen: Wie wandelt sich die öffentliche Meinung zum Thema Sicherheit? Und was macht das mit Deutschlands Identität? Entwickelt sich die zurückhaltende Freundin, die stets versuchte, Kompromisse zu finden, in eine andere Person? Und wenn ja – in was für eine?
Wenn der Kampfmuffel plötzlich über Karateunterricht nachdenkt
Viele europäische Länder entwickeln gerade eine neue Position zum Thema Sicherheit und zur Frage, wie sie bewahrt werden kann. Vor Kurzem hätte Europa geantwortet: Sicherheit und Frieden können vor allem durch Wohlstand, Diplomatie und Zusammenarbeit bewahrt werden. Jetzt nehmen Waffen und Militär wieder mehr Raum im Denken europäischer Regierungen ein.
Das zeigt sich etwa am Beispiel von Finnland und Schweden: 2 Länder, die bislang keinem Militärbündnis angehörten, um ihre »Neutralität« auszudrücken, reichten im Mai offiziell Beitrittsgesuche
Zurück zu unserem Freundeskreis. Sowohl die USA als auch Russland waren schon immer eher skeptische Zeitgenoss:innen. Um sich sicher zu fühlen, haben beide von klein auf Karatetraining genommen, um vorbereitet zu sein, sollte sich jemand aus der Clique gegen sie richten.
Andere aus der Gruppe, wie etwa Finnland und Schweden, setzen bei Streit hingegen auf Pazifismus und Neutralität. Sie stellen sich auf keine Seite, versuchen stattdessen, den Konflikt im Gespräch zu überwinden. Ihr Karatetraining vernachlässigten sie, denn sie gingen nicht davon aus, es jemals zu benötigen. Nun wurden die beiden Freund:innen von der Aggressivität Russlands überrascht und bitten die USA eilig, ob sie nicht bei dem Karatekurs mit einsteigen können, den die USA schon lange besucht.
Auch Deutschland stellt seine bisherige Außen- und Sicherheitspolitik infrage. Die Öffentlichkeit diskutiert wieder über Krieg und Frieden. Darüber, ob Deutschland die moralische Pflicht hat, Waffen an ein anderes Land, die Ukraine, zu liefern. Oder wie sinnvoll es ist, mehr Geld für das Militär auszugeben. Bundeskanzler Olaf Scholz bezeichnete das Umdenken als
Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents. [...] Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen.
Wann aber passiert ein Wandel in der Gesellschaft? Wann also wird der Karatemuffel Finnland zum Kampfsportchampion?
Damit Finnland die Entscheidung trifft, den Karateunterricht wieder aufzunehmen, muss in seinem »inneren Monolog« ein neuer Wertekanon dominant werden, der dafür sorgt, dass er äußere Umstände neu interpretiert und andere Schlüsse als früher daraus zieht.
Anders gesagt: Der Diskurs eines Landes muss sich wandeln. Was bedeutet das genau?
Im »inneren Monolog« eines Landes
Diskurse sind politische Debatten, in denen über ein bestimmtes Thema diskutiert wird. Die oben genannten Debatten über Waffenlieferungen etwa drehen sich um das Thema Sicherheit und lassen sich deshalb als »Sicherheitsdiskurs« zusammenfassen.
Ein Diskurs besteht immer aus verschiedenen Positionen, die das Thema anders interpretieren. Konkret ergibt sich eine Position im Diskurs daraus, dass Argumente mit bestimmten Werten, die der Staat vertritt, verstrickt werden.
Dass Diskurse immer aus Werten und deren unterschiedlichen Interpretationen bestehen, zeigen die unterschiedlichen Argumente, die in Deutschland häufig zum Thema Sicherheitspolitik angebracht werden. Zum Beispiel: »Wir (als liberale Demokratie, die Menschenrechte fördert,) haben die moralische Pflicht, das Leid der Ukrainer:innen zu verringern. Wir müssen daher das Land mit Waffen beliefern, damit sie sich schützen können.« – Hier wird der Wert der moralischen Verantwortung mit militärischen Mitteln verknüpft.
Eine zweite Position könnte lauten: »Krieg und Waffen verursachen immer mehr Leid. Wir haben die moralische Pflicht, dieses Leid der Menschen zu verringern, und sollten daher keine Waffen liefern« – in dieser Position wird moralische Verantwortung anders interpretiert und stützt das Argument des Pazifismus.
Diskursforscher:innen nennen solche verschiedenen Positionen
Einer Studie zufolge gibt es 4 Formationen im deutschen Diskurs zur
- Die Diskursformation der »unbedingten Zurückhaltung«: Vertreter:innen dieser Strömung argumentieren, Deutschland hätte eine moralische Verantwortung, militärische Mittel und Interventionen im Ausland auf alle Fälle abzulehnen. Sie empfehlen daher, ausschließlich auf Diplomatie zu setzen.
- Die Diskursformation der »bedingten Zurückhaltung«: Diese Gruppierung argumentiert, die moralische Verantwortung müsse darauf abzielen,
- Die Diskursformation der »Westlichen Normalisierung«: Für diese Formation zählt es, ein guter Partner westlicher Bündnisse zu sein. Vertreter:innen dieser Position plädieren dafür, sich den Entscheidungen der NATO anzupassen.
- Die Diskursformation der »Autonomen Normalisierung«: Diese Position betont Deutschlands Verantwortung als »reife« Demokratie. Ihre Vertreter:innen finden es in Ordnung, wenn Deutschland auch mal eine Führungsrolle einnimmt, und lehnen dementsprechend auch Auslandseinsätze im Alleingang nicht unbedingt ab.
Nimmt nun eine neue Diskursformation die dominante Position im öffentlichen Diskurs ein, spricht man von einem Diskurswandel.
Im Bild des Freundeskreises könnten wir bei Diskursen auch von einer Art »innerem Monolog« eines Landes sprechen. Finnland zum Beispiel fragt sich selbst: Bin ich wirklich zu 100% ein Pazifist? Oder sollte ich doch besser Karateunterricht nehmen, um mich von dem Streitmacher zu distanzieren und mich nicht selbst zur Angriffsfläche zu machen? Kommt Finnland zu einer neuen Überzeugung, also dass Karate besser den Segen in der Gruppe erhalten kann als nur Kommunikation, verändert sich sein innerer Monolog. Als Folge kann sich seine Identität und sein Verhalten wandeln.
Ein solcher Wandel wurde in Deutschland zum Beispiel 2011 nach der
Das ist eine wichtige Folge von Diskurswandel: Verschiebt sich
Wie aus »Nie wieder Krieg« ein »Nie wieder auf der falschen Seite« wurde
Eine solche Neupositionierung der Bevölkerung zeigt sich auch nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine. Dieses Mal zum Thema Aufrüstung, wie Umfragewerte des
Sebastian Glassner erforscht seit einigen Jahren Diskursverschiebungen. Der Dozent und Doktorand am Lehrstuhl für Internationale Politik der Universität Passau sagt zu den derzeitigen Entwicklungen in Deutschland: »Im deutschen sicherheitspolitischen Diskurs gab es schon immer die Seite, die für mehr Aufrüstung plädiert hat. Sie war aber einer sehr dominanten pazifistischen Strömung unterlegen.«
Historisch gesehen war dieses pazifistische Narrativ in Deutschland lange Zeit vorherrschend. So war »Nie wieder Krieg« die Forderung der Friedensbewegung nach dem Ersten Weltkrieg, die sich gegen den Einsatz und die Weiterverbreitung von Waffen stellte. Besonders prominent machte den Spruch die deutsche Künstlerin und Friedensaktivistin Käthe Kollwitz mit einem ihrer bekanntesten Kunstwerke aus dem Jahr 1924.
Wie sich der Wandel im Verantwortungs- und Sicherheitsdiskurs jedoch verändert, zeigt ein Beispiel aus den sozialen Medien.
Die deutsche Außenministerin
Annalena Baerbocks Tweet zeigt: Die Diskursformation der absoluten Zurückhaltung, und somit die damit verbundenen Argumente und Handlungsempfehlungen (»Nie wieder Krieg«), wird zurückgedrängt und vom Argumentationsmuster der bedingten Zurückhaltung (»Nie wieder auf der falschen Seite stehen«) ersetzt. Ein und derselbe Wert, nämlich die moralische Verantwortung Deutschlands, aus alten Fehlern zu lernen, wird auf 2 unterschiedliche Weisen interpretiert.
Politikwissenschaftler Glassner erklärt: »Der Diskursformation der bedingten Zurückhaltung und auch der Westbindung gelingt es gerade besser, die neue Realität des Ukrainekrieges in die Argumentation einzubinden und damit logische Handlungsempfehlungen zu geben.«
Die Resonanz in der Bevölkerung für Waffenlieferungen und Aufrüstung sei deshalb größer. Das erklärt, warum es eine große Zahl von Deutschen legitim findet, dass 100 Milliarden Euro in die
Glassner verweist auf eine ähnliche Verschiebung im Sicherheitsdiskurs im Jahr 1999, als Deutschland sich dafür entschied, Soldat:innen der
Deutschland: Für immer eine neue »Persönlichkeit«?
Wird sich Deutschlands Identität durch die aktuellen Debatten zur Sicherheitspolitik verändern? Darüber ist sich Glassner nicht sicher: »Ich denke, die Aufmerksamkeit, die man der Ukraine gerade schenkt, wird auf lange Sicht abebben. Der Krieg wird somit in den Argumentationen keine übergeordnete Rolle mehr spielen, wodurch die aktuell dominanten Handlungsempfehlungen, wie zum Beispiel Aufrüstung, wieder stärker herausgefordert werden.« Die Konsequenz: mehr Kontroverse im Diskurs.
Glassner findet es gut, dass Menschen gerade viel über Sicherheit und Außenpolitik sprechen – ein Thema, das früher der politischen Elite überlassen wurde. »Das führt in meinen Augen zu einer Demokratisierung der außenpolitischen Entscheidungsfindung«, so der Politologe. Denn wenn sich die Menschen ein eigenes Bild von der globalen Lage machten, so müssten Regierungen auch mehr darauf hören, was die eigene Bevölkerung darüber denke.
Diskursforschung lädt uns ein, darüber nachzudenken, warum wir die Welt sehen, wie wir sie sehen – und dazu, uns zu fragen: Warum sehe ich die Welt auf einmal anders?
Was in einem Moment als unanfechtbar richtige Entscheidung dargestellt wird, ist immer nur eine von mehreren möglichen Interpretationen einer Gegebenheit.
Mit Illustrationen von Doğu Kaya für Perspective Daily