»Ich bin eine stärkere Frau, wenn ich nicht trinke«
Auf Alkohol zu verzichten bedeutet für viele Menschen ein Leben ohne Spaß und Genuss. Eva Biringer sah das ähnlich, bis sie aufhörte zu trinken. Im Interview spricht sie über ihre lebensverändernde Nüchternheit.
4. Juni 2022
– 15 Minuten
Florian Reimann
Seit Jahrzehnten geht der Alkoholkonsum in Deutschland zurück, von 15,1 Litern Reinalkohol pro Kopf im Jahr 1980 auf 10,7 . Bei Jugendlichen sank der Konsum auf einen historisch niedrigen Stand. 38% der 12–17-Jährigen . Bei einer Gruppe aber stieg der Konsum: den gut situierten, gebildeten, beruflich erfolgreichen Frauen ab 30.
Jenen Frauen, die trotz 50-Stunden-Woche noch Zeit für Pilates finden, morgens vor der Arbeit laufen gehen und sich anschließend einen 6-Euro-Ingwershot gönnen. Frauen, die beim Abendessen auf Kohlenhydrate verzichten und niemals den Geburtstag einer Freundin vergessen.Eva Biringer in »Unabhängig«
So formuliert es die Journalistin Eva Biringer, die selbst lange eine dieser Frauen war, in ihrem Buch »Unabhängig – Vom Trinken und Loslassen«. Darin beschreibt sie die Gründe, die immer mehr Frauen viel zu oft zur Flasche greifen lassen, und eine Gesellschaft, die die gravierenden Folgen des Alkoholkonsums ausblendet.
Eva Biringer, aufgewachsen auf dem Dorf, begann im Alter von 11 Jahren, Alkohol zu trinken. Im Studium steigerte sie ihren Konsum, später als Food-Journalistin gehörte der Alkohol selbstverständlich zu jedem Restaurantbesuch dazu. Auch allein trank sie, eine Flasche Wein am Abend war ihre ideale Menge. Dass das zu viel war, wusste sie – und trank weiter. Trotz zahlreicher Abstürze, unzähliger an den Kater verlorene Wochenenden, einer sich verengenden Lebensperspektive und den unvermeidlichen gesundheitlichen Folgen des Alkohols, die sich bei ihr unter anderem in Schlafstörungen und depressiven Verstimmungen äußerten.
Irgendwann ließ Eva Biringer los. Sie hörte auf zu trinken und bezeichnet den Verzicht heute als Ausdruck von Freiheit und Emanzipation. Im Interview spricht sie darüber, wie sich ihr Leben seit der Nüchternheit verändert hat, wieso wir überhaupt trinken – und warum wir es besser lassen sollten.
»Niemand hat das Recht, eine Erklärung zu verlangen«
Stefan Boes:
Wann musstest du zuletzt erklären, warum du keinen Alkohol trinkst?
Eva Biringer:
Gestern Abend. Ich lebe in Wien, hier findet gerade eine große Weinmesse statt. Wir saßen in einem Restaurant und alle am Tisch haben Wein getrunken außer mir und ich habe mal wieder gedacht: Es ist mir voll egal! Ich habe eine Mispellimonade getrunken, das Essen und die Gespräche waren toll. Bei uns am Tisch war niemand betrunken, aber ich habe einige andere Menschen gesehen, die ich aus meinem früheren Trinkerinnenleben kenne. Und manche waren so zerstört! Diese Weinwoche geht mehrere Tage. Ich war dort früher auch immer und ich war die Allererste, die betrunken war. Ich bin jetzt einfach so froh, dass ich nüchtern am Tisch sitze.
Welche Reaktionen ruft es hervor, wenn du in einer Weinbar sitzt und Wein ablehnst?
Eva Biringer:
Ich habe dem Sommelier gesagt: Für mich bitte keinen Wein. Das war schon eine kurze Irritation. Bei der zweiten Runde wollte er mir wieder einschenken. Aber als ich gesagt habe, ich trinke keinen Alkohol, war es in Ordnung. Ein paar Tage vorher habe ich andere Leute getroffen und da wurde ich schon gefragt: Warum nicht mehr?
Was hast du geantwortet?
Eva Biringer:
Hast du zu Beginn deiner Nüchternheit vor knapp 2 Jahren auch schon so geantwortet?
Eva Biringer:
Ja, ich war immer sehr offen. Ich habe immer gesagt, dass ich ein Alkoholproblem habe. Ich habe nie gesagt, dass ich Alkoholikerin bin, diesen Begriff lehne ich für mich ab. Ich habe gesagt, ich habe viel zu viel getrunken oder ich habe es nicht unter Kontrolle.
Musst du dich dafür rechtfertigen, nicht mehr zu trinken?
Eva Biringer:
Das kommt bei mir zum Glück nicht so oft vor. Ich kenne es aus dem dörflichen Kontext, das liegt jetzt aber schon einige Jahre zurück. Dann hieß es: Hey, jetzt trink doch was. Aber so aggressiv habe ich es bisher kaum erlebt. Ich höre das aber oft, dass sich Menschen für ihren Verzicht rechtfertigen müssen, selbst Schwangere. Bei mir passiert es am ehesten im beruflichen Kontext, weil es als Food-Journalistin sehr naheliegend ist, Alkohol zu trinken. Keinen Alkohol zu trinken ist immer noch erklärungsbedürftig und da fängt das Problem ja schon an. Niemand hat das Recht zu fragen, zu kommentieren oder eine Erklärung zu verlangen.
Du sagst, dass du ein Problem damit hast, dich als alkoholabhängig oder alkoholkrank zu bezeichnen. Es ist ja leicht zu behaupten, das Problem haben die anderen und ich selbst bin nicht abhängig. Warum tust du dich damit schwer?
Eva Biringer:
Ich sehe es nicht als Krankheit an. Natürlich muss man differenzieren: Wenn jemand körperlich abhängig ist, würde ich nicht mehr von einer Gewohnheit sprechen, dann ist es eine Krankheit. Aber bis dahin ist es ein langer Weg und es sind nur wenige, die dorthin kommen. Davor ist es für mich eher eine Gewohnheit oder auch Missbrauch, aber keine Krankheit.
Was führt dich zu dieser These?
Eva Biringer:
Ich empfehle dazu das Buch des Neurowissenschaftlers Marc Lewis, »The Biology of Desire: Why Addiction Is Not a Disease«. Lewis sagt, Abhängigkeit sei eine natürliche Reaktion auf die wiederholte Stimulation durch Alkohol. Man werde abhängig, weil das Gehirn immer wieder die gleiche Erfahrung macht: Gefällt mir, ich will mehr davon. Aber dieser Prozess lässt sich umkehren, indem man keinen Alkohol mehr trinkt. Das funktioniert sicher nicht mehr bei einer körperlichen Abhängigkeit. Aber ich habe aufgehört, Alkohol zu trinken, also bin ich auch nicht abhängig. Ich trinke nicht, ich bin nüchtern, aber ich bin keine Alkoholikerin.
Du schreibst in deinem Buch: »Solange ich ein Bewusstsein dafür hatte, so glaubte ich, wäre ich sicher.« Niemand habe dir sagen müssen, dass dein Trinken die Grenzen der Normalität überschritten hätte. Hast du dir einen bewussten Konsum damit eingeredet?
Eva Biringer:
Ich wusste eigentlich immer schon, dass ich zu viel trinke und es . Aber es war eher so: Na ja, ich bin ja nicht körperlich abhängig. Ich kann ja immer einen Monat im Jahr Pause machen und das habe ich auch. Und ja, ich weiß, es ist zu viel, vielleicht werde ich irgendwann aufhören müssen. Aber noch nicht jetzt. Und ich habe es im Blick. Damit habe ich es dann rausgeschoben.
Wann hat das Rausschieben nicht mehr funktioniert?
Eva Biringer:
Das war ein langer Prozess. Es gab viele Momente, die als Anlass zum Aufhören prädestiniert waren. Ich habe trotzdem weitergetrunken. Mit Anfang 20 habe ich den Uni-Psychologen gefragt, ob es ein Problem ist, dass ich 2 Gläser Wein am Tag trinke. Da war das schon für mich ein Thema, es hat trotzdem noch 10 Jahre gedauert. In den letzten Trinkjahren habe ich mich dann gefragt: Was muss eigentlich noch passieren?
War dir sofort klar, dass du gar nichts mehr trinken wirst, oder wolltest du es erst einmal reduzieren?
Eva Biringer:
Das habe ich sowieso schon oft versucht, mit verschiedenen Strategien: Erst ab Mittwoch, oder nur 10 Einheiten die Woche, oder nur Wein, oder nur zum Essen Wein, oder nur Cocktails. Das hat alles eine Zeit lang funktioniert, aber dann wieder nicht. Und weil ich ein Ganz-oder-gar-nicht-Typ bin, war klar: Ich muss ganz aufhören. Auch wenn es für mich unvorstellbar war. Ich habe mich gefragt: Habe ich jemals wieder Spaß im Leben? Kann ich jemals wieder nach Italien fahren, wenn ich da keinen Negroni trinke? Es war unvorstellbar.
»Alkohol ist fast schon ein erwünschtes Mittel, um Ängsten und Depressionen zu begegnen«
Feminismus und Emanzipation sind wichtige Themen deines Buchs. Ich muss zugeben, dass Alkoholprobleme für mich bisher männliche Probleme waren. Männer sind die, die ein Bier nach dem anderen trinken, sich weniger im Griff haben, aggressiv und übergriffig werden, weniger Wert auf Gesundheit und gute Ernährung legen. Ich bin auch auf dem Land aufgewachsen und habe es immer so erlebt: Männer trinken und ihre Frauen bringen sie dann nach Hause. In meinem persönlichen Umfeld verorte ich Alkoholprobleme fast ausschließlich bei Männern. In deinem Buch bezeichnest du das als veraltete Sicht. Warum?
Eva Biringer:
Männer trinken insgesamt mehr, es gibt mehr männliche Alkoholiker als weibliche. Was mir aber aufgefallen ist, ist die Entwicklung: Männer trinken weniger als vor 10, 20, 30 Jahren. Bei einer Gruppe aber steigt der Konsum und das sind die emanzipierten, gut gebildeten, gut situierten Frauen. Darüber bin ich gestolpert. Natürlich ist es so, dass Männer seltener einen gesunden Lifestyle verfolgen, das Problem vielleicht auch weniger sehen und nicht sofort zu einer Therapie gehen. Das Ding ist ja: Viele dieser Frauen würden es überhaupt nicht abstreiten. Sie sehen es, weil sie so reflektiert sind, und sagen: Ich weiß, dass ich zu viel trinke, aber ich kann nicht anders.
Wie unterscheiden sich männliches und weibliches Trinken?
Eva Biringer:
Es unterscheidet sich nicht immer, aber häufig insofern, dass Männer, wie du auch sagst, eher öffentlich trinken – auf dem Dorffest, in der Kneipe oder wo auch immer. Viele, nicht alle, werden dann aggressiv, gehen nach außen. Bei Frauen ist das Trinken viel schambehafteter, weil eine besoffene Frau viel weniger akzeptiert wird als ein besoffener Mann. Deshalb trinken sie eher zu Hause und richten die Aggression eher gegen sich.
Welche Funktion erfüllt Alkohol für Frauen?
Eva Biringer:
Dinge zu ertragen. All das, was so schiefläuft im Patriarchat. Dass sie den Großteil der häuslichen Arbeit verrichten, dass sie für die gleiche Arbeit schlechter bezahlt werden als Männer. Dass Gewalt gegen Frauen wieder zugenommen hat. Ja, es ist besser als vor 50 Jahren, als sich Frauen »Frauengold« zugeführt haben, um die Zustände zu ertragen. Das ist ein in der Apotheke verkauftes Tonikum, das in Wahrheit einfach Schnaps war. Heute ist das alles besser, aber es ist nicht gut. Alkohol ist einfach sehr leicht zu haben und fast schon ein erwünschtes Mittel, um Ängsten, Zweifeln und Depressionen zu begegnen. Corona ist ein sehr gutes Beispiel, weil viele Frauen da noch mehr leisten mussten. Viele, vor allem Mütter, haben wegen der Belastung mehr getrunken. Dann ist man für einen Moment betäubt, es gibt einem das Gefühl: Jetzt kann ich endlich einmal am Tag kurz abschalten.
Du hast eben »Frauengold« angesprochen, in deinem Buch berichtest du von valiumabhängigen Frauen. Viele Frauen mit belastenden Kriegs- und Nachkriegserfahrungen wurden medikamentenabhängig und sind es noch heute, was kaum bekannt ist. Du sagst, Frauen nähmen diese Substanzen, um Dinge zu ertragen. Das Phänomen ist nicht neu. Verlagert sich der problematische Konsum jetzt weg von den Beruhigungsmitteln und hin zum Alkohol?
Eva Biringer:
Ja. In den 50er-Jahren war Valium »mother’s little helper«. Aber Medikamente sind nicht so leicht zu bekommen wie Alkohol. Zu jeder Tages- und Nachtzeit kriege ich in Deutschland Alkohol. Es ist gesellschaftlich akzeptiert oder sogar erwünscht. Und natürlich ist die Hemmung größer, zum Arzt zu gehen. Das ist zwar auch einfach, aber einfacher ist es, eine Flasche Rosé zu kaufen.
Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, dass Trinken fast schon als emanzipatorisch gilt. Es wird vermittelt: Ist doch toll, dass du dich mit deinen Freundinnen zum Lunch triffst und du Rosé und deinen Aperitif trinkst. Das hat nichts Negatives, im Gegenteil. Es hat Glamour, es gehört zu einer emanzipierten Frau dazu.
Du hingegen bezeichnest den Verzicht auf Alkohol als Ausdruck von Emanzipation. Wovon befreien sich Frauen, wenn sie nicht mehr trinken?
Eva Biringer:
Zunächst einmal widersetzen sie sich den Erwartungen, die an sie gestellt werden. Indem ich nicht trinke, bin ich eine stärkere Frau. Ich bin emotional stabiler. Ich kann für meine Rechte eintreten. Ich kann mich auch einfach wehren, wenn jemand mich angreift. Ich bin einfach niemand mehr, der an der Bushaltestelle hängt und komplett besoffen ist.
Ich kann etwas an den Verhältnissen ändern, weil ich die geistige Kapazität dafür habe. Wenn man viel trinkt, dann dreht sich ja alles darum, von morgens bis abends: Wie viel habe ich gestern getrunken, ich trinke zu viel, ich würde schon gern trinken, wie viel trinke ich heute? Das nimmt wahnsinnig viel Platz im Kopf ein. Wenn das alles wegfällt, habe ich auf einmal Zeit und die Möglichkeit, mir konkrete Gedanken zu machen, wie ich etwas an meiner Situation ändern könnte. Und die Situation ist halt oft eine politische. Zum Beispiel: Warum verdiene ich weniger als mein Kollege, der doch die gleiche Arbeit macht wie ich? Ich glaube, dass man viel mehr angehen und für sich einstehen kann, wenn man nicht trinkt.
Das Problem liegt aber doch nicht nur bei trinkenden Frauen. In deinem Beispiel mit der Bushaltestelle sind es Männer, die sich gegenüber Frauen im nüchternen Zustand nicht öffnen können und die Schwäche der betrunkenen Frau ausnutzen, um sich ihr auf primitive oder sogar gewaltsame Weise zu nähern. Es kann doch keine Lösung sein, dass Frauen aus Angst vor Übergriffen keinen Alkohol mehr trinken.
Eva Biringer:
Guter Punkt. Es ist nicht die Schuld der Frau, es ist ein systemisches Problem. Ich muss aber trotzdem sicher sein und Tatsache ist, ich bin es halt nicht. Letztlich ist der Mann das Problem, der eventuell auch betrunken ist. Männliches Trinken ist ein Riesenproblem, weil Alkohol und Gewalt eng miteinander zusammenhängen. Bei jeder vierten Vergewaltigung spielt Alkohol eine Rolle.
»Es ist, als hätte jemand einen Schleier weggezogen«
Diese Folgen sind eigentlich bekannt, ebenso wie die schweren gesundheitlichen Folgen, auch bei einem vermeintlich . Dennoch ist Alkoholkonsum etwas, was kaum infrage gestellt wird. In deinem Buch fragst du: »Was muss passieren, um den Widerspruch zu erkennen in einem auf Gesundheit und Selbstfürsorge ausgerichteten Leben und dem schleichenden Mord des eigenen Körpers?« Welche Antwort hast du darauf?
Eva Biringer:
Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung. Wir müssen den nackten Tatsachen ins Gesicht sehen: Alkohol erhöht das Krebsrisiko enorm, er verschlechtert die Schlafqualität, die mentalen Fähigkeiten nehmen ab. Die Liste der gesundheitlichen Folgen . Wir sollten mal darüber nachdenken: Warum konsumieren eigentlich alle immer Alkohol, problematisieren es nicht und erkennen nicht, wie erfüllend ein nüchternes Leben sein kann?
In meiner Wahrnehmung liegt das unter anderem daran, dass alkoholische Getränke auch ein Statussymbol darstellen. Einen guten Gin oder Whiskey zu trinken zeigt, dass man es sich leisten kann. Und es zeugt von Bildung und Kultiviertheit. Sind solche Getränke für dich ein Ausdruck von Kultur?
Eva Biringer:
Ich sehe das sehr kritisch. Man muss sich ja nur mal das Gedankenspiel erlauben und Alkohol mit etwas anderem austauschen, mit einer illegalen Droge zum Beispiel. Stell dir vor, du kommst zu jemandem nach Hause und der sagt: Also, das ist mein Heroinkeller oder mein Crystal-Meth-Kühlschrank und hier haben wir diesen Jahrgang. Alkohol hat einfach diesen enormen kulturellen Überbau. Klar, es gibt schon sehr lange Alkohol. So kann man schon argumentieren: Das Kulturgut war immer da und wird wahrscheinlich auch immer da sein, aber es wird viel zu wenig problematisiert. Dieses ganze Kennertum kenne ich, ich war Teil davon und stolz darauf, mich gut auszukennen. Aber es ist ein Schönreden und Stilisieren auf Kosten der Gesundheit. Ich glaube, dass viele ihr Kennertum benutzen, um eine Abhängigkeit zu rechtfertigen.
Viele Menschen berichten von den positiven Folgen, wenn sie aufhören, Alkohol zu trinken. Wie hat sich dein Leben verändert, seit du nüchtern bist?
Eva Biringer:
Um 180 Grad. Ganz viele Probleme, von denen ich dachte, dass sie einfach zu mir gehören, sind einfach weg. Das latent Niedergeschlagene, der leicht angeknackste Seelenzustand. Es ist, als hätte jemand einen Schleier weggezogen. Klar geht es mir nicht immer gut. Aber ich weiß, es wäre immer 1.000-mal schlimmer, wenn ich noch trinken würde, egal wie schlecht es mir geht.
Welche körperlichen Veränderungen hast du bemerkt?
Eva Biringer:
Ich habe noch nie so gut geschlafen in meinem Leben. Ich bin viel fitter, mein Kopf ist klarer, ich kann mir Dinge besser merken. Ich konnte mir immer schlecht Namen merken und hatte eine Art Gesichtsblindheit, selbst das ist besser geworden. Es ist einfach ein anderer Grundzustand. Ein positiver Grundzustand, der einfach zum Normalzustand geworden ist. Wenn man keine psychische Krankheit hat und so privilegiert ist wie ich, dann kann man ein gutes Leben führen, dann ist die Welt nicht gegen einen. Ich habe mich immer gefragt: Was ist denn eigentlich mein Problem? Was ist der Grund für diese latente Niedergeschlagenheit? Es war der Alkohol.
Das Thema Alkohol wird gerade präsenter. Beobachtest du einen gesellschaftlichen Wandel?
Eva Biringer:
Ja, auf jeden Fall. Es ist sicher heute viel einfacher als vor 10 Jahren zu sagen, ich trinke nicht. Das liegt zum Beispiel an der stetig wachsenden literarischen Szene. »Quit Lit« ist fast schon ein eigenes Genre. Es gibt inzwischen nicht nur in Berlin, sondern auch in anderen Städten alkoholfreie Bars. Und es gibt ein wirklich großes Angebot an alkoholfreien Spirituosen, aber auch an Getränken, die Alkohol nicht imitieren wollen. Das Thema bekommt gerade viel mehr mediale Präsenz, als es wahrscheinlich jemals bekommen hat. Es sehen mehr und mehr Menschen, dass Alkohol doch nicht nur ein Kulturgut ist. Ich glaube, es ist eine gute Zeit, um darüber zu sprechen.
Kennst du auch das Gefühl, 1.000 Dinge tun zu wollen – oder zu müssen? Wie nutzt du die Zeit, die du hast? Stefan geht aus soziologischer Perspektive der Frage nach, wie eine neue Zeitkultur aussehen kann – und wie wir Zeit gestalten können, ohne immer nur hinterherzurennen. Dazu gehört auch die Frage, wie die Vereinbarkeit von Arbeit, Familie und Privatleben gelingen kann.