»Solange wir Menschen in graue Gebäude wegsperren, gibt es auch keine Gerechtigkeit!«
Gefängnisse durch betreute Wohnhäuser ersetzen: Dafür kämpft Veronique Aicha in den Niederlanden. Ein Gespräch über Gerechtigkeit und Pragmatismus
7. Juni 2022
– 10 Minuten
Veronique Aicha
Stell dir eine Gesellschaft ohne Gefängnisse vor. Niemand sitzt mehr hinter Gittern. Das Urteil lebenslänglich gehört der Vergangenheit an. Wenn jemand eine Straftat begeht, prüft ein:e Richter:in nicht nur, was geschehen ist, sondern auch, in welchem sozialen Kontext die Person aufgewachsen ist. Auf welche Schule ist sie gegangen? In welchem Viertel lebt sie? Je nachdem wie die Antworten ausfallen, wird die straffällige Person in ein Wohnhaus mit einer geeigneten Sicherheits- und Betreuungsstufe geschickt. Hier lernen sie, einen anderen Lebensweg einzuschlagen. Wenn die von Richter:innen verhängten Maßnahmen dies zulassen, darf die Person im Supermarkt um die Ecke einkaufen gehen, Sport im Fitnessstudio treiben und sogar einem Beruf nachgehen.
Viele Menschen empfinden diese Vorstellung als unmöglich.
Wir sind so sehr daran gewöhnt, dass Kriminalitätsprobleme mit Gefängnissen gelöst werden, dass wir uns Alternativen häufig nicht mehr vorstellen können. Doch Justizreformer:innen in aller Welt zeigen, dass eine Gesellschaft ohne Gefängnisse nicht nur erstrebenswert, sondern auch umsetzbar ist. Veronique Aicha ist eine davon. Sie ist die Koordinatorin der niederländischen Fraktion von , einer europäischen Bewegung für »small-scale detention houses«.
Lena Bäunker: stellt das Konzept des Gefängnisses infrage und schlägt vor, sie mit »small-scale detention houses« zu ersetzen. Im Deutschen gibt es für diese Häuser keine eindeutige Übersetzung. Worum genau geht es euch?
Veronique Aicha:
Bei den »small-scale detention houses« handelt es sich im Grunde um betreute Wohnhäuser für inhaftierte Personen. Anders als in Gefängnissen können Bewohner:innen hier je nach Gerichtsurteil frei ein- und ausgehen, und anstatt von Wärter:innen werden sie von der Gemeinschaft und verschiedenen Fachleuten betreut. Die Wohnhäuser bauen auf 3 Pfeilern auf: Erstens, es gibt sie nur im Kleinformat, das heißt in jedem Haus leben rund 6–15 Personen. Zweitens, die Wohnhäuser unterscheiden sich untereinander in ihrer Sicherheitsstufe, ihrem Angebot von Dienstleistungen, Aktivitäten und Programmen. Drittens, die Wohnhäuser sind in ihre Viertel integriert. So liefert die lokale Bäckerei das Brot oder die Bewohner:innen pflegen einen Gemeinschaftsgarten und verkaufen das selbst angebaute Gemüse im Ort.
Was ist der Vorteil gegenüber Gefängnissen?
Veronique Aicha:
Wir wollen erreichen, dass Bewohner:innen eine höhere Lebensqualität haben, dass sie in Kontexten untergebracht werden, die ihren Bedürfnissen optimal angepasst sind, und dass sie ein Gefühl der Zugehörigkeit verspüren. All das erhöht die Chancen auf eine erfolgreiche Teilhabe am
Wer lebt dann in so einem Wohnhaus zusammen?
Veronique Aicha:
Das ist ein wenig wie Puzzeln, denn jedes Haus soll auf die Bedürfnisse von inhaftierten Personen sowie der lokalen Gemeinschaft zugeschnitten sein. Wir müssen also genau überlegen, wer in jedem einzelnen Haus wohnen soll, was für ein Programm ihnen geboten wird und wie wir sie im Viertel vernetzen. Betreute Wohnhäuser sind kein Exportmodell, das skaliert werden kann.
Ob am Abendbrottisch, in den sozialen Medien oder im Europaparlament – Konflikte sind allgegenwärtig. Oft enden sie in Frustration, Beleidigungen oder sogar Gewalt. Lena fragt sich: Geht das nicht auch anders? Um herauszufinden, wie wir konstruktiver miteinander kommunizieren, gesündere Beziehungen aufbauen und so zu einer friedlicheren Gesellschaft beitragen können, hat sie interkulturelle und politische Kommunikation studiert. Derzeit absolviert sie eine Weiterbildung zur Konfliktmediatorin.