5 Ideen für frischen Wind in der EU (oder 1 Orkan)
Zum 60. Jubiläum der Römischen Verträge ist klar: Europa muss sich verändern. Die meisten Europäer identifizieren sich mit Europa – aber nicht mit der EU.
Sperrig, schmucklos, rational – diese Worte drängen sich vielen auf, die die Fassade des Berlaymont-Gebäudes in Brüssel betrachten. Dasselbe dürften viele über die Institution »Europäische Union« denken, deren Kommissare in erwähntem Gebäude sitzen. Gleichzeitig genießen sie die
Zu diesen Schlüssen kommt die Bundeszentrale für politische Bildung mithilfe der Umfrageergebnisse des Eurobarometers 2015: 2 von 3 Befragten gaben an,
Zeit, dass wir uns fragen: Ist eigentlich auch eine andere Ordnung für ein friedliches, wirtschaftlich erfolgreiches Europa denkbar? Wie soll es mit der EU weitergehen? Oder geht es vielleicht sogar ohne sie – gibt es eine Alternative für Europa?
Entdecke in der interaktiven Karte, wie groß Selbstverständnis, Image und Zufriedenheit in den unterschiedlichen EU-Ländern sind.
Am Anfang war der Markt
Der in den 1950er-Jahren geschaffene gemeinsame Markt sollte nicht nur Selbstzweck sein, sondern durch die gemeinsame Kontrolle »kriegswichtiger Güter« und den grenzüberschreitenden Austausch auch den Frieden in Europa garantieren. In dieser Hinsicht ist die EU unbestritten ein Erfolgsprojekt: Kein Mitgliedsland hat in den bislang 60 Jahren der Partnerschaft Krieg gegen ein anderes geführt. Für die Nachkriegsgenerationen wurden Reisen ohne Schlagbäume, der Euro und Erasmus-Partys in Madrid zu einer Selbstverständlichkeit. Grund zum Feiern also? Können die Gründerväter in Frieden ruhen?
2015 verbrannten Demonstranten in Griechenland EU-Flaggen als Protest gegen die
Es gab allerdings auch Momente der Euphorie, vor allem in den 1990er- und 2000er-Jahren: Die Maastrichter Geburt einer politischen Union,
Europa im Jahr 2025: Union oder Republik?
Du glaubst, dass es ohne die EU nicht geht? Dann lies diesen Text in der Version, in der wir verraten, wie die EU-Kommission sich die Zukunft der Union vorstellt: vom Grenzverkehr vernetzter Autos bis zum gemeinsamen Kampf gegen den Terrorismus.
Du glaubst, dass die EU verspielt hat und wir neue Ideen für Europa brauchen – auch wenn sie utopisch klingen? In dieser Version gründen wir mit Ulrike Guérot die Republik Europa.
Weniger, mehr, weiter wie bisher? 5 Szenarien für die EU im Jahr 2025
Wahrscheinlich wälzen nur wenige Menschen gern EU-Dokumente. Zu trocken, zu kompliziert, zu lebensfern. Das »Weißbuch zur Zukunft Europas« ist anders. Es ist der Aufschlag zu einer Diskussion, die in Brüssel, Berlin und den anderen Hauptstädten geführt werden muss – aber auch am Stammtisch im bayerischen Dorf und im Kölner Karnevalsverein. Eine klare Empfehlung für eines der Szenarien möchten Jean-Claude Juncker und seine Kommission nicht abgeben: Wir müssen schon selbst wissen, was für ein Europa wir wollen. Das Weißbuch soll uns dabei helfen, darüber nachzudenken.
Szenario 1: Weiter wie bisher?
Welche Idee steckt dahinter?
Einkaufen in Deutschland, tanken in Tschechien, tägliches Pendeln zur Arbeit nach Belgien – was heute reibungslos und ohne Kontrollen auf der Autobahn funktioniert, wird auch noch 2025 möglich sein. Zumindest, wenn es in der EU so weitergeht wie bisher und die
Wie funktioniert es in der Praxis?
Die Mitgliedstaaten diskutieren regelmäßig darüber, in welchen Bereichen gemeinsames Handeln gerade Priorität hat, und bemühen sich zumindest darum, außenpolitisch mit einer Stimme zu sprechen. Den EU-weiten Binnenmarkt betrachten sie weiterhin als Hauptgarant für Wachstum und Wohlstand; über Handel, Zölle und den Euro wird weiterhin in Brüssel entschieden. Investitionen in digitale Infrastruktur, Verkehr und die Energieversorgung sorgen dafür, dass die Länder der EU attraktive Wirtschaftsstandorte werden oder bleiben.
Welche Herausforderungen und Probleme sind mit der Idee verbunden?
Ob Regierungen sensible Informationen, beispielsweise im Kampf gegen den Terror, untereinander teilen oder ob Griechenland und Italien künftig Hilfe bei der Sicherung ihrer Außengrenzen erhalten, entscheiden weiterhin die Regierungen in Paris, Berlin oder Warschau. Konflikte und Probleme werden Fall für Fall verhandelt, was eine gemeinsame Lösung oft verlängert und erschwert.
Szenario 2: Schwerpunkt Binnenmarkt
Welche Idee steckt dahinter?
Der Binnenmarkt mit möglichst wenig Schranken für Industrie und Handel ist alleinige Existenzgrundlage der EU. Ein Abschied von der politischen Union bedeutet auch, dass die EU in vielen internationalen Foren keine gemeinsamen Positionen mehr vertritt – zum Beispiel, wenn es um die Erderwärmung geht.
Wie funktioniert es in der Praxis?
In diesem Szenario wird den fast schon sprichwörtlichen
Welche Herausforderungen und Probleme sind mit der Idee verbunden?
Dass der EU-Kommission unter Präsident Juncker dieses Szenario nicht ganz geheuer ist, merkt man den Formulierungen im Weißbuch an: »Es entsteht das Risiko eines ›Wettlaufs nach unten‹.«
Szenario 3: Wer mehr will, tut mehr
Welche Idee steckt dahinter?
Schon 1985 einigten sich Deutschland, Frankreich und die Benelux-Staaten darauf, die Kontrollen an ihren Grenzen abzuschaffen, während griechische Beamte noch Autos am Schlagbaum anhalten ließen. Das Abkommen, das im luxemburgischen Grenzörtchen Schengen getroffen wurde, ist nur ein Beispiel für ein Europa mehrerer Geschwindigkeiten, in denen »Koalitionen der Willigen« in bestimmten Politikbereichen enger zusammenarbeiten als andere.
Wie funktioniert es in der Praxis?
6 Länder könnten sich beispielsweise dafür entscheiden, gemeinsam Drohnen zur Land- und Seeüberwachung zu kaufen. Eine andere Gruppe von Mitgliedstaaten entscheidet sich dazu, dass Arbeitnehmer in ihren Ländern die gleichen Rechte genießen. Vernetzte Autos überqueren Grenzen problemlos, da sich zumindest einige Staaten auf gemeinsame Regeln und Standards für neue Technologien geeinigt haben.
Welche Herausforderungen und Probleme sind mit der Idee verbunden?
Mehr Gemeinschaft für die, die mehr wollen – das klingt nach einem unstrittigen Konzept. Kompliziert werden könnte es allerdings bei den Entscheidungsprozessen in einem solchen System. Entstehen zwischen EU und den nationalen Regierungen viele weitere Ebenen, wird es schnell unübersichtlich. Außerdem kann die Idee zu weiterem Frust in den »langsameren« Mitgliedstaaten führen.
Szenario 4: Weniger, aber effizienter
Welche Idee steckt dahinter?
Die EU konzentriert sich auf einige wenige Politikbereiche, aus allen anderen zieht sie sich komplett zurück oder schränkt ihren Einfluss zumindest ein. Wie bewertet die EU-Kommission dieses Szenario? Für die Bürger sei ein solches Europa wohl besser zu verstehen; sie wüssten, was sie von Brüssel erwarten könnten – und wann sie ihre Anliegen besser an Prag oder Rom wenden.
Wie funktioniert es in der Praxis?
Eine neue europäische Agentur zur Terrorismusbekämpfung bündelt Erkenntnisse der Geheimdienste, um Anschläge in der EU zu verhindern. Polizisten von Portugal bis Estland greifen auf eine Datenbank zu, die biometrische Informationen Krimineller enthalten. Eine gemeinsame Asylbehörde bearbeitet alle Anträge, die in den Mitgliedstaaten gestellt werden.
Welche Herausforderungen und Probleme sind mit der Idee verbunden?
Bestimmte Bereiche werden komplett von der gemeinsamen Agenda gestrichen. Um gemeinsame Standards für Umwelt- und Verbraucherschutz bemüht sich in Brüssel in diesem Szenario niemand mehr.
Szenario 5: Viel mehr gemeinsames Handeln
Welche Idee steckt dahinter?
Die Mitgliedstaaten entscheiden sich dafür, mehr Entscheidungen gemeinsam zu treffen und Kompetenzen an die Institutionen in Brüssel abzugeben.
Wie funktioniert es in der Praxis?
Bei der Thailand-Rundreise ist der Pass verloren gegangen? Die EU-Botschaft in Bangkok hilft gern weiter. Thailänder können im selben Gebäude übrigens auch ein Visum für den Schengen-Raum beantragen. Die EU spricht außenpolitisch mit einer Stimme und einigt sich auf mehr und schnellere gemeinsame Entscheidungsprozesse. Es gibt einen EU-weiten Mindestlohn – zahlt der Arbeitgeber nicht, können Bürger ihn beim Europäischen Gerichtshof einklagen. Die Nationalstaaten spielen langfristig nur noch eine untergeordnete Rolle.
Welche Herausforderungen und Probleme sind mit der Idee verbunden?
Dieses Szenario entwirft die Kommission offenbar mit einiger Skepsis: Es bestehe das Risiko, dass bestimmte Ländergruppen die neue Ordnung und den eingeschränkten Handlungsspielraum nationaler Behörden nicht akzeptieren würden.
Eine europaweite Abstimmung über die 5 Szenarien wird es nicht geben. Wie wir uns als Bürger dennoch Gehör verschaffen können? Möglichkeiten gibt es viele: auf der Straße bei
Revolution statt Reform: Europa ohne die EU
Ulrike Guérot wartet auf die Revolution. Sie glaubt nicht mehr daran, dass die EU das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen kann. Ginge es nach ihr, könnten wir auf das
Bis 2013 hat die deutsche Politologin 25 Jahre ihrer Karriere der EU gewidmet. Sie hat viel Zeit, Energie und Herzblut in die Union investiert und unzählige Strategiepapiere geschrieben. Alles aus dem Glauben heraus, dass eine politische Union möglich ist – dass »Einheit in der Vielfalt« mit der EU erreicht werden kann. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin arbeitete sie unter anderem beim ehemaligen Präsidenten der Europäischen Kommission Jacques Delors, sowie später für
Inzwischen findet sie drastische Worte für den Brüsseler Status quo. »Eine reformunfähige, fast apathische EU produziert derzeit nur immer mehr Krise«, schreibt sie in ihrem Buch
Wollen wir ein Europa ohne Regierungen in Berlin, Paris und Den Haag?
Weg mit der Bundeskanzlerin – her mit der Europäischen Präsidentin
Guérots These: Binnenmarkt und Euro ohne gemeinsame Steuer- und Sozialpolitik haben uns in eine ökonomische Diktatur geführt. Ein zentraler Fehler sei es gewesen, Industrie und Banken mit dem Binnenmarkt ein freies Feld zu überlassen, während die Bürger unterschiedlichen Spielregeln unterliegen. »Wo die Industrie Niederlassungsfreiheit zu mindestens gleichen Bedingungen erhielt, konnten sich die europäischen Bürger gegen unterschiedliche Sozial- und Steuerstandards nicht wehren.« Sie plädiert für eine Neuordnung, die den Bürgern Europas Solidarität und Gleichheit vor dem Recht garantiert, andererseits aber auch regionale Identitäten und Zugehörigkeitsgefühle berücksichtigt.
Ein Netzwerk aus Städten und Regionen
Ulrike Guérot geht nicht davon aus, dass sich alle Bürger von heute auf morgen mit einem abgehobenen politischen System identifizieren würden, das die Nationalstaaten auf europäischer Ebene ersetzt. Sie schlägt vielmehr
Obwohl Ulrike Guérot selbst von einer »politischen Utopie« spricht, denkt sie natürlich über die Chancen ihrer Ideen im Hier und Jetzt nach und klingt dabei zunächst hoffnungslos: »Unsere Gesellschaften sind nicht solidarisch, wir sind unfähig, uns zu bündeln. Wir haben keine starke Arbeiterbewegung, es gibt überhaupt keine starke Linke mehr.« Vereinfacht gesagt: Der Revolution fehlt es derzeit an Revolutionären.
Ulrike Guérot ist aber auch davon überzeugt, dass Geschichte auf Zufällen beruht. »Es kommt immer anders, als man denkt. 1914 hat man nicht gedacht, dass die Ermordung eines Kronprinzen in Sarajevo den Ersten Weltkrieg auslöst. Systeme, die dem Untergang geweiht sind, scheitern oft an einem nebensächlichen Ereignis.« Das Konstrukt EU ist für sie an diesem Punkt angelangt.
Guérots Idee entspringt ihrer Kritik an der
Wem gehört der Kontinent?
Die Zeiten der gefühlten Alternativlosigkeit sind vorbei. Die Struktur der EU ist nicht gottgegeben. Darüber wären sich Jean-Claude Juncker und Ulrike Guérot wohl einig, wenn sie miteinander über die Zukunft Europas diskutieren würden.
Dringend mitdiskutieren sollten jetzt aber auch die Bürgerinnen und Bürger. Die Szenarien der EU-Kommission und Ulrike Guérots Idee einer Republik Europa liefern dafür Ideen. Guérot stellt die EU infrage, entwirft aber gleichzeitig ein Bild von Europa, das sich radikal von populistischer Rhetorik unterscheidet. »Marine Le Pen beschwört in ihren Reden täglich die Regionen und die Republik. Das sind aber gute politikwissenschaftliche Konzepte, die ihr nicht gehören. Die gehören in die politische Mitte!«
Während die Republik, wie Le Pen sie beschwört, diejenigen ausgrenzt, die sich nicht zu Patriotismus, traditionellen Familienbildern und einer »französischen Identität« bekennen, versteht Guérot die
Wollen wir, dass in Berlin, Brüssel oder einer noch zu bestimmenden Hauptstadt der Republik Europa über Renten, Handelsabkommen und die Aufnahme von Geflüchteten entschieden wird? Nach dem Brexit-Referendum ist Bewegung im System: Junckers Weißbuch ist auch eine Reaktion darauf. Es ist die Aufforderung, ganz konkret darüber nachzudenken, wie wir in Europa zusammenleben wollen. »Brüssel« will nicht länger Sündenbock der Populisten sein, sondern eine konstruktive Debatte anstoßen, an der wir uns alle beteiligen sollten. Die Zukunft des Kontinents liegt in unseren Händen.
Katharina Wiegmann hat in München und Prag Politikwissenschaften und Philosophie studiert. 2015 bis 2017 war sie Redakteurin bei der deutschsprachigen Prager Zeitung.
Titelbild: European Commission - copyright