Erst Folter, jetzt Auslieferung. Der Fall Assange ist ein bitterer Denkzettel für die Demokratie!
Freie Gesellschaften sind darauf angewiesen, dass Geheimnisse ans Licht kommen, die alle etwas angehen. Deshalb müssen Menschen wie Julian Assange die Öffentlichkeit informieren können, ohne um Leben und Freiheit zu fürchten.
Der Fall von Wikileaks-Gründer Julian Assange und Whistleblowerin Chelsea Manning ist vor allem eines: ein großes rotes Warnschild für alle Journalist:innen und Whistleblower:innen, sich nicht mit den Falschen anzulegen. Die Falschen sind in diesem Fall die USA, aber die Warnung gilt weltweit. Es geht um die Frage, was mit Menschen passiert, die sogenannte Staatsgeheimnisse verraten, um Unrecht aufzudecken. Als Staatsgeheimnisse gelten sensible Informationen, deren Veröffentlichung einem Land massiv schaden könnten, weshalb es strafbar ist,
Julian Assange soll jetzt genau dafür an die USA ausgeliefert werden: Mit der von ihm gegründeten Plattform Wikileaks hat er im Jahr 2010 geheime Dokumente der USA veröffentlicht. Die Frage, ob er nun im eigentlichen Sinne Journalist ist, darf dabei keine Rolle spielen. Er hat wie ein Journalist gehandelt, Recherche und Veröffentlichung von Journalist:innen begleiten lassen, darunter Teams des Guardians und des Spiegels. Hunderttausende Dateien über die Einsätze des
Anders als die Veröffentlichung. Die Daten hatte die Whistleblowerin Chelsea Manning Assange zugespielt, damals
Was war geschehen? Im Jahr 2010 eröffnete die schwedische Staatsanwaltschaft ein Verfahren gegen Assange wegen
Als sie von einer anderen Frau kontaktiert wurde, die ähnliches erlebt hatte, gingen beide zur Polizei und wollten Assange zu einem HIV-Test zwingen. Die Behörden leiteten »von Amts wegen«, also selbstständig Ermittlungen ein. Heute bezeichnet Ardin Assanges Verhalten als Grenzübertritt ihr gegenüber, anzeigen
Nils Melzer, der UN-Berichterstatter über Folter, hat den Fall Assange untersucht. Er hat die schwedischen Akten eingesehen und wirft der Polizei vor, die Vergewaltigungsvorwürfe nachträglich konstruiert zu haben. Assange habe mehrfach versucht, im Verfahren persönlich Stellung zu beziehen, aber keine Möglichkeit dazu erhalten. Zu einer Anklage kam es nicht. Melzers Eindruck: Das Verfahren sei absichtlich über Jahre in der Schwebe
Assanges Bild bröckelt
Im Dezember 2010 wird Assange aufgrund eines schwedischen Haftbefehls von der britischen Polizei in London verhaftet und nach einer Woche wieder auf Kaution freigelassen. Assange hat schon damals Angst davor, erst nach Schweden und dann von dort an die USA ausgeliefert zu werden. Auf viele wirkte das wie die Verschwörungsfantasie eines Mannes, der sich rücksichtslos nimmt, was er will, und dann auch noch von seinen Verfehlungen ablenken will. Denn eine Anklage oder ein Auslieferungsgesuch aus den USA gibt es damals noch gar nicht.
Assanges Flucht in die Botschaft von Ecuador in London erscheint kurios, genauso wie das Leben, das er dort jahrelang führt. Inzwischen ist Assange in der öffentlichen Wahrnehmung zu einer Art seltsamen Kauz geworden, der die Botschaftsmitarbeitenden mit seinen Allüren nervt und sich zuvor möglicherweise sexueller Übergriffe schuldig gemacht hat. Diese Wahrnehmung ist nachvollziehbar. Doch die Frage, ob Assange menschlich problematisch ist, und die Vorwürfe sexualisierter Gewalt in einem anderen Verfahren dürfen in der rechtlichen Betrachtung der Wikileaks-Enthüllungen keine Rolle spielen.
Man muss kein guter Mensch sein, um ein Recht auf menschliche Behandlung zu haben
Nach seiner Verhaftung in der Botschaft durch die britische Polizei im Jahr 2019 verschwand Assange im Gefängnis, verurteilt zu 50 Wochen Haft wegen der Verstöße gegen Bewährungsauflagen aus dem Jahr 2010. Nach Schweden wurde er nicht ausgeliefert. Die mutmaßlichen Delikte dort verjährten nach und nach, die Ermittlungen wurden schließlich wegen zu dünner Beweislage eingestellt. Jetzt sitzt Assange nur noch wegen des Auslieferungsverfahrens an die USA in Haft. Die USA haben ihn inzwischen tatsächlich angeklagt – einer der Hauptpunkte ist die Veröffentlichung der geheimen Dokumente, aber auch die »Verschwörung« mit Chelsea Manning,
Nach Ansicht von Nils Melzer rechtfertigt all das keine Inhaftierung, geschweige denn Einzelhaft. Assange ist nach seinem Bericht schon seit Jahren im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh isoliert und zeigt gesundheitliche Spuren
Ein Urteil gegen Assange in den USA würde eine Art Präzedenzfall für den Journalismus schaffen. Doch es ist bereits ein großer Schaden für den Journalismus und damit auch für die Demokratie entstanden: eine mögliche Selbstzensur aus Angst vor den Folgen. Es gibt geheime Eisen, die vielleicht zu heiß sind, um sie anzufassen, wenn man nicht gerade bereit ist, sein Leben dafür in die Waagschale zu legen – auch in demokratischen Staaten.
Wie wichtig mutiger Journalismus ist, der auf Enthüllungen von eigentlich unzugänglichen Informationen durch Whistleblower:innen basiert, haben viele Veröffentlichungen in den vergangenen Jahren gezeigt. Jüngst zum Beispiel die »Xinjiang Police Files« über Arbeitslager in China, wohin Angehörige der Volksgruppe der Uiguren systematisch zur sogenannten »Umerziehung« geschickt und dort zur Arbeit
Landesverrat durch Veröffentlichung investigativer Recherchen?
Und auch in Deutschland muss es möglich sein, Missstände aufzudecken, die in Aktenschränken vor der Öffentlichkeit geheim gehalten werden. Selbstverständlich unter der Beachtung journalistischer Sorgfaltspflicht und Abwägung der Relevanz der jeweiligen Vergehen. Bisher fallen solche journalistischen Enthüllungen in Deutschland unter den Straftatbestand des Landesverrats nach Paragraf 94 des Strafgesetzbuchs, gelten als Verbrechen gegen den Staat. Dabei geht es entweder darum, dass geheime Informationen an »fremde Mächte« weitergegeben oder generell veröffentlicht werden, um Deutschland zu schaden. Der zweite Fall ist für den
Deswegen fordern Journalist:innen immer wieder die Streichung des sogenannten Landesverratsparagrafen, der zur Einschüchterung von Journalist:innen missbraucht werden kann – auch wenn solche Nachrichten meist eher aus autoritären Regimen und Schurkenstaaten
Man sollte Regierungen die Keule des journalistischen Landesverrats aus der Hand nehmen. Denn Keulen, die offen herumliegen, können eben auch benutzt werden. In der deutschen Vergangenheit ist das mehrfach geschehen. Und der Fall Assange zeigt: Um eine nicht genehme Enthüllung zu bestrafen, braucht es nicht mal eine Verurteilung im konkreten Fall.
Und es gibt noch eine Lehre, die wir ziehen können: Menschen, die für den Staat arbeiten, sollten die Möglichkeit haben, straffrei und anonym Informationen zu »leaken«, wenn es im öffentlichen Interesse ist. Die EU hat eine Whistleblower-Richtlinie für Unternehmen und Behörden vorgeschrieben, die bis Ende 2021 in nationales Recht umgesetzt werden sollte. In Deutschland existiert dazu bisher
Es ist an der Zeit, ein sicheres Hinweisgebersystem auch auf staatlicher Ebene zu etablieren. In dieser Hinsicht können Regierungen noch etwas von Journalist:innen lernen, die im Normalfall alles tun, um ihre Quellen zu schützen – weil sie wissen, dass diese für sie unverzichtbar sind.
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily