Wir müssen über Cancel Culture und sexistische Schlager reden …
Ein umstrittener Ballermann-Hit, ein problematischer Vortrag über Zweigeschlechtlichkeit. Warum wir aushalten müssen, was wir nicht hören wollen. Ein Plädoyer.
Weißt du, wer
Die Chance, dass du den Namen bereits gehört hast, ist in den vergangenen Wochen enorm gestiegen. Denn der deutsche Musiker hat zusammen mit dem Schlagersänger Michael Müller (bekannt als Schürze) einen Ballermann-Song namens »Layla« geschrieben, der es nicht nur auf Platz 1 der deutschen Single-Charts geschafft hat, sondern auch an die Spitze der Political-Correctness-Diskussionen.
In solchen Diskussionen wird immer wieder darum gerangelt, was man denn noch sagen, singen oder in umstrittenen Vorträgen dozieren »dürfe«. Neuerdings mischen neben Talkrunden und Tageszeitungen auch Stadträte, Anwälte und unser Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) mit. Dazu kommt ein Chor aufgeregter Stimmen in sozialen Medien.
»Ballermann-Song spaltet Deutschland« – Titel eines Focus-Artikels zu »Layla«
Dabei ist der Streit um den Song kaum mehr als eine Masche im Ringen um die gesellschaftliche Mitte und im Kampf um deine
»Layla« oder »Wie ein Verbot, das keines ist, einen Song berühmt machte«
Recht hat er. Denn viele Radiosender schlachteten in den vergangenen Wochen den aufgebauschten Skandal um das Lied »Layla« aus und widmeten ihm viel Sendezeit. Anstoß dafür ist der Text des Liedes, der passgenau für sturzbetrunkene Mallorca-Abende geschrieben wurde und in folgendem Refrain gipfelt:
Er hat ’nen Puff und seine Puffmama heißt Layla / Sie ist schöner, jünger, geiler / La-la-la-la-la-la-la-Layla / La-la-la-la
Das sollte in nüchternem Zustand maximal genervtes Augenrollen hervorrufen. Denn der Song reiht sich nahtlos ein in eine ganze Liste von anderen Schlager-Hits mit ähnlichem Tenor und sexistischem Inhalt: »Dicke Titten, Kartoffelsalat«, »Zehn nackte Friseusen« und viele andere. Diese Lieder gehören genauso zur Lebenswirklichkeit in Deutschland wie die Tatsache, dass das
Landesweite Aufmerksamkeit bekam »Layla« aber nicht durch die Fans, sondern gerade durch die Reaktionen derer, die aufgeregt darüber diskutierten oder den Song ablehnen: etwa die Reaktion der Stadt Würzburg. Diese entschied als Veranstalter, dass das Lied nicht auf dem
Es wurde mal wieder über die Grenzen der Kunstfreiheit diskutiert
Buschmann bezog sich konkret auf die Entscheidung der Stadt Würzburg. Dumm nur: Dabei handelt es sich weder um ein behördliches
Warum die ganze Aufregung? Gähnt trotz Klimakrise, Pandemie und Russlands Krieg in der Ukraine gerade das Sommerloch?
Die ernüchternde Antwort darauf ist: Hier sind Mechaniken der Aufmerksamkeitsökonomie am Werk. Bei den Diskussionen, ob »Layla« nicht auf der Düsseldorfer Rheinkirmes gespielt werden sollte, bekam vor allem die Kirmes Aufmerksamkeit.
Da muss ich dem jungen DJ Robin schon recht geben, wenn er ironisch formuliert:
Streisand-Effekt
Benannt wurde das Phänomen nach der Sängerin Barbara Streisand, die 2003 einen Fotografen wegen eines Fotos verklagte, das angeblich ihr Haus zeigte. Als Effekt wurde das Foto im Internet lawinenartig verbreitet und die Position ihres Wohnortes schlagartig öffentlich. Streisand erreichte genau das Gegenteil dessen, was sie beabsichtigt hatte.
»Ein Glück für ihn«, würde ich noch hinzufügen. »Layla« landete auf Platz 1 der Deutschen Single-Charts und wird dieses
Eigentlich wäre mit diesem Tweet der Schleswig-Holsteinischen Bildungsministerin der CDU alles gesagt:
Doch genau das Schreckgespenst des »Verbietens« ist ein empfindlicher Punkt, an dem sich solche Debatten immer entzünden. Dabei denkt niemand aus der Politik ernsthaft darüber nach, sexistische Schlager zu zensieren. Das heißt, ein Großteil der Debatte ist vor allem ein Kampf gegen Strohpuppen, den auch Politiker:innen wie Karin Prien und Marco Buschmann mitspielen, um sich im Kontext der aufgebauschten Empörung ins Gespräch zu bringen.

Aber es geht manchen, die sich in diese Debatten einschalten, um noch mehr als nur Aufmerksamkeit, Charterfolge und Profit. Das Spiel mit der reflexartigen Empörung ist längst zu einer diskursiven Strategie geworden, bei der gutmeinende Personen und Institutionen unfreiwillig reaktionären Kräften helfen.
Sehr gut zeigt das auch ein zweites Beispiel.
Der umstrittene Gender-Vortrag und wer ihn ausnutzt
Weißt du, wer Marie-Luise Vollbrecht ist?
Die Chance, dass du auch diesen Namen bereits gehört hast, ist in den vergangenen Wochen enorm gestiegen. Die bis dahin unbekannte Biologie-Doktorandin wollte ursprünglich an der Humboldt-Universität zu Berlin einen
Geschlecht ist nicht (Ge)schlecht: Sex, Gender und warum es in der Biologie 2 Geschlechter gibt
Die Universität sagte wegen angeblicher Sicherheitsbedenken den Vortrag kurzerhand ab, um ihn zu verlegen. Die erwartbare Reaktion aus sozialen Medien:
»Verbot! Zensur! Cancel Culture!«-Rufe!
Tatsächlich könnten wir an dieser Stelle darüber diskutieren, warum die Universitätsleitung diesem Vortrag überhaupt eine Bühne geben wollte, obwohl die Doktorandin eine ganz andere Spezialisierung hat und nicht zu Geschlechtern, sondern zu Neurobiologie und dem Verhalten von Fischen forscht. Auch war Vollbrecht Co-Autorin des umstrittenen
Wahrscheinlich hat sich die Universität im Vorfeld nur mangelhaft über den Kontext informiert und mit der Absage einen Grund gesucht, aus der Sache (und aus der Kritik) schnell wieder herauszukommen. Dieses Zurückrudern mit Verweis auf die Proteste ist inkonsequent, nahezu heuchlerisch.
Cancel Culture wird nicht dadurch vom Kampfwort zur Realität, weil Jana aus Kassel oder Momo aus Berlin […] im Internet oder auf der Straße gegen was auch immer demonstriert, sondern durch die Unfähigkeit von Institutionen aller Art, Kritik und Empörung auszuhalten.
Wenn Institutionen eins aus dieser Sache lernen sollten, dann dies: Inkonsequenz ist eine Steilvorlage für reaktionäre Kräfte, die das als Beweis für eine angeblich unterdrückende »Meinungsdiktatur« sehen. Und die Doktorandin selbst arbeitet fleißig daran, sich als Opfer einer solchen darzustellen.
Marie-Luise Vollbrecht veröffentlichte den Vortrag kurzerhand auf dem radikalfeministischen und genderkritischen Youtube-Kanal einer Freundin. Der vielsagende Titel des Videos:
Auch in einer eigenen Crowdfunding-Kampagne inszeniert sich die Doktorandin als Opfer einer angeblichen
Wissenschaftlicher Diskurs übrigens auch. Denn der lebt von Austausch, Kritik und Diskussion. Marie-Luise Vollbrecht entzog sich der von der Universität organisierten Gesprächsrunde nach dem Vortrag. Auch Nachfragen ließ sie nicht zu. Ihre Begründung klingt engstirnig und wenig wissenschaftlich:
Der Inhalt allerdings hat nun eine viel größere Reichweite bekommen als nur den Hörsaal: Das Youtube-Video wurde über 120.000-mal angeklickt. Deutsche Tageszeitungen druckten Auszüge des Vortrags ab. Man könnte sagen: Der Streisand-Effekt wurde auch hier gut ausgenutzt.
Und das Ergebnis der ganzen Aufregung? Eine Handvoll Protestierender, eine inkonsequente Universitätsleitung und aufgeregte Onlinestimmen haben einer Doktorandin mit offensichtlicher Agenda dabei geholfen,
Gibt es denn keine bessere Reaktion?
Die bessere Reaktion: kritisieren, aber aushalten
Der Geschlechter-Vortrag und das Schlagerlied sind nur 2 Ausschnitte aus einer immer wiederkehrenden Reihe von Skandälchen, die nach demselben Schema ablaufen – einer diskursiven Masche.
Wann immer eine Reaktion auf einen Inhalt dessen ungehinderte Verbreitung einschränkt, ertönen die »Verbot! Zensur! Cancel Culture!«-Rufe. Sie kommen meist aus einer gesellschaftlich reaktionären Ecke, die den öffentlichen Meinungskorridor zurückerobern will, also das, was
Anderen Zensur vorzuwerfen ist leider als Manöver sehr effektiv. Es rechnet fest mit reflexhaften Absagen, Ausladungen, Anfeindungen und emotional aufgeladenen Grabenkämpfen in sozialen Medien. Denn solche Reaktionen können leicht als Bestätigung dafür gelesen werden, was manche dringend verbreiten wollen: das Gefühl, in einer hypermoralischen Cancel-Kultur zu leben, die Bürger:innen bevormundet wie Kleinkinder.
Entgehen können wir dieser Masche nur, indem wir Äußerungen aller Art – auch schmerzhafte – im Diskurs aushalten. Damit erhalten Provokationen gar nicht erst Aufmerksamkeit und Reichweite. Das heißt aber nicht, dass wir es vollends unkommentiert an uns vorbeiziehen lassen sollen. Menschenfeindlichkeit in jedem Aspekt (sei es Sexismus oder Transfeindlichkeit) sollte als das kommentiert, entlarvt und kritisiert werden – vor allem wenn man selbst betroffen ist. Solchen Debatten insgesamt aber nicht mehr Raum zu geben, als sie verdienen, bleibt eine Gratwanderung.
Niemand hat gesagt, dass Meinungsfreiheit einfach ist.
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily