Keinen Bock auf Politik? Diese 2 Bürgermeister tun alles, um dich zu begeistern!
Auch abseits der Metropolen wird experimentiert: Mit zufällig ausgelosten Bürger:innen und Hausbesuchen wollen eine Gemeinde in Ost- und eine in Westdeutschland ihre politischen Weichen für die Zukunft stellen.
Gibt es einen Facharzt, der mir bei meinem Problem helfen kann? Ist die Internetverbindung stabil genug für das Homeoffice? Und macht es der Busfahrplan möglich, dass ich mein Auto auch mal stehen lassen kann? , sagt Marian Schreier, Bürgermeister der Stadt Tengen in Baden-Württemberg.
Und doch interessieren sich weniger Menschen für die Politik vor der Haustür als für die Landes- oder Bundesebene, wie die Bertelsmann Stiftung bei einer repräsentativen Umfrage im Jahr 2019 herausfand. Gleichzeitig gab etwas mehr als die Hälfte der Befragten an, sich nicht ausreichend an .
Diesem Gefühl wollten Marian Schreier und sein Kollege Arno Jesse aus der sächsischen Stadt Brandis etwas entgegensetzen. Gemeinsam mit dem Think & Do Tank haben sie im Frühling dieses Jahres zufällig ausgeloste Bürger:innen ihrer Gemeinden .
Die Idee dahinter: Der Zufall sorgt für Perspektiven, die sonst nicht mitgedacht werden. Der Arbeitsauftrag: die Überarbeitung der kommunalen in denen die langfristige politische Ausrichtung der Orte festgelegt ist.
Das Leitbild formuliert eine Strategie der Stadtentwicklung: Wohin wollen wir in 10 oder 15 Jahren?Marian Schreier (SPD), Bürgermeister der Stadt Tengen
Warum die beiden Bürgermeister dafür persönlich an Türen klopften, welche Überraschung es beim Vergleich zwischen Ost- und Westdeutschland gab und ob Bürgerräte überhaupt etwas bringen, wenn die Ergebnisse am Ende nicht bindend sind – darüber sprechen sie im Doppelinterview.
Katharina Wiegmann:
Welche Rolle spielt das Leitbild in der Kommunalpolitik?
Arno Jesse:
Das Leitbild ist meine Handlungsgrundlage und natürlich auch die des Stadtrates. Wenn der Stadtrat über einen Haushalt berät, über Ideen und Maßnahmen, dann ist das Leitbild mein Referenzrahmen und ich frage mich: Passt diese oder jene Maßnahme dazu?
Auf meinem Schreibtisch liegt das Leitbild als Broschüre schon in einem sehr abgegriffenen Zustand. Es gibt mir als Bürgermeister Rückendeckung, politische Ziele umzusetzen, weil diese dort im Großen und Ganzen festgelegt sind.
Warum wollen Sie das Leitbild verändern?
Arno Jesse:
Es ist wichtig, immer mal wieder nachzujustieren. Wir müssen hinterfragen: Sind die Punkte, die wir vor einigen Jahren im Leitbild festgelegt haben, heute noch relevant oder gibt es jetzt andere Herausforderungen?
Genau das haben wir versucht, mittels der Bürgerräte anzugehen.
In Bürgerräten kommen Menschen zusammen, die zufällig per Los ausgewählt wurden, um Empfehlungen für die Politik zu erarbeiten. Welches Potenzial sehen Sie in diesem Format?
Marian Schreier:
Wir haben uns gefragt: Wie können wir Menschen erreichen, die üblicherweise nicht an kommunalpolitischen Veranstaltungen und Angeboten teilnehmen? Wir haben dann ein Modell mit 3 Beteiligungsangeboten entwickelt: eine Onlinebeteiligung, eine offene Veranstaltung für alle Bürgerinnen und Bürger und den Bürgerrat als Herzstück.
Wir haben zuvor schon mit zufallsbasierten Verfahren in der Stadt gearbeitet, das aufsuchende Verfahren war aber neu. Wir wollten die Stadtgesellschaft in ihrer Breite abbilden. Bei den klassischen Beteiligungsveranstaltungen sind oft diejenigen dabei, die viel Zeit haben, kommunalpolitisch vorgebildet und vielleicht auch schon politisch engagiert sind. Der Bürgerrat ist ein Format, mit dem wir Menschen erreichen, die nicht immer mit dabei sind und die sonst häufig vergessen werden.
Wie können wir bessere Entscheidungen treffen? Katharina Liesenberg und Linus Strothmann bedienen sich einer jahrtausendealten Methode – und berichten in diesem Artikel von ihren Erfahrungen:
Herr Jesse, haben für Sie noch andere Überlegungen eine Rolle gespielt?
Arno Jesse:
In Mittel- oder Ostdeutschland gibt es eine größere Distanz der Bürgerschaft gegenüber tradierten Institutionen, Gremien, vielleicht sogar dem politischen System. Wir haben schon sehr viele Formate ausprobiert und merken trotzdem, dass sich an dieser Distanz nicht so viel geändert hat.
Unsere Motivation war, diejenigen zu erreichen, die man als stille Mehrheit bezeichnet. Wir haben hier im Osten eine laute Minderheit, die sich artikuliert, durchaus auch im Wahlverhalten. Im kommunalen Bereich wird noch eher differenziert nach Personen, aber auch dort ist diese laute Minderheit präsent, wie wir in der Coronazeit bei den Montags- und Freitagsdemonstrationen erlebt haben. Das ist nicht die Mehrheit, davon bin ich überzeugt. Aber die Mehrheit ist leider sehr zurückhaltend und reagiert nicht mehr auf die Angebote, die wir institutionell machen: Parteien, Bürgerinitiativen, Onlinebefragungen.
Und Sie glauben, Bürgerräte können das ändern?
Arno Jesse:
Mit dem aufsuchenden Losverfahren wollte ich einen neuen Versuch wagen. Dabei werden per Zufall Menschen ausgewählt – und wenn sie nicht teilnehmen wollen, hakt man noch einmal nach. Man schreibt nicht so viele an, bis man endlich die gewünschte Menge beisammenhat, sondern belässt es bei der Auswahl und fragt: Warum kommen die nicht? Müssen die Menschen arbeiten oder Kinder betreuen? Gibt es eine Unsicherheit, das Gefühl, nicht gebraucht zu werden? Oder wurde einfach nicht verstanden, worum es eigentlich geht?
Für mich war es ein spannendes Experimentierfeld: Erreichen wir mit dem Verfahren genau diese Zurückhaltenden – und was ist denen tatsächlich wichtig?
»Ich habe gelernt, dass man Menschen nicht zu schnell aufgeben darf«
Sie beide sind losgezogen und haben an Türen geklopft, um Menschen zur Teilnahme zu bewegen, die ausgelost wurden, sich aber nicht zurückgemeldet hatten. Was haben Sie bei diesen Haustürgesprächen erlebt?
Arno Jesse:
Wir alle haben unsere Schubladen im Kopf. Ein Erlebnis ist besonders bei mir hängengeblieben: Ein ausgeloster Bürger wohnt in einem Viertel, von dem man eher sagen würde, es ist sozial prekär. Ich gehe also in diesen dunklen Hausflur rein und sage schon zu meiner Begleiterin: Das macht doch überhaupt keinen Sinn.
Tatsächlich ist die Stimmung eher reserviert, als der Mann, der schon ein wenig älter ist und noch bei seiner Mutter lebt, an die Tür kommt. Aber ich konnte ihn motivieren. Es war ein nettes Gespräch, auch wenn man die Zurückhaltung gespürt hat. Ich hätte nie damit gerechnet, dass er zum Bürgerrat auftaucht. Das ist er aber, und er ist dort eine ganz wichtige Person geworden, mit tollen Beiträgen. Mir hat das gezeigt, dass man aufpassen muss mit seinen eigenen Vorurteilen – und Menschen nicht zu schnell aufgeben darf. Allein dafür hat sich das schon gelohnt.
Ein ähnliches Experiment wie in Brandis und Tengen haben 2 Wahlkreise in Berlin bereits im vergangenen Jahr durchgeführt. Ich war dabei. Lies hier, was ich beim Klinkenputzen im Namen der Demokratie erlebt habe:
Arno Jesse:
An einem Gartenzaun habe ich ziemliche Ablehnung erlebt, da hatte ich fast das Gefühl, da war einer mal froh, dass er mir seinen Frust direkt aufschütten konnte.
Aber auch das ist sicherlich kein Schaden gewesen – mal in eine direkte . Insgesamt haben wir tatsächlich doch einige Menschen bewegen können zu kommen, und ich glaube, das hat den Diskussionsprozess im Bürgerrat sehr befruchtet.
Herr Schreier, was haben Sie erlebt?
Marian Schreier:
Die allermeisten haben sich gefreut und waren erst mal sehr überrascht, dass der Bürgermeister vor der Tür steht und sie noch mal zur Veranstaltung einlädt oder abfragt, was notwendig ist, um teilnehmen zu können.
Dadurch konnten wir einige Personen motivieren, unter anderem einen Neubürger, der erst vor wenigen Wochen zugezogen war. Das ist auch eine Gruppe, die nicht regelmäßig zu kommunalen Veranstaltungen kommt. Üblicherweise braucht es Jahre, bis jemand, der zugezogen ist, so richtig ins Ortsleben integriert ist. Dieser Mensch wurde durch den persönlichen Besuch motiviert und hat dann auch an der Veranstaltung teilgenommen.
Bürgerräte werden inzwischen auch oft kritisiert: als eine Art Beschäftigungstherapie für Bürger:innen, die nicht wirklich politische Konsequenzen hat, weil die Ergebnisse und Empfehlungen für politische Entscheidungsträger meist nicht bindend sind. Was sagen Sie dazu?
Marian Schreier:
Man muss die Erwartungshaltung und die Rolle am Anfang sehr genau klären. Bürgerräte ersetzen nicht die gewählten Gremien. Sie ersetzen zum Beispiel nicht den Gemeinderat, nicht den Bürgermeister – oder Parlamente auf anderen politischen Ebenen. Das dürfen sie auch nicht. Aus meiner Sicht sind Bürgerräte eine Ergänzung zu den parlamentarischen Verfahren, die wir haben.
Es ist ein ergänzendes, beratendes Votum, das sich die politischen Entscheidungsträger einholen. So wie wir auch von anderen Seiten beraten werden, zum Beispiel bei technischen Themen durch Fachingenieure, so holen wir hier das Votum der Bürgerschaft ein, um eine möglichst breite Perspektive abzubilden.
Warum ist diese Abgrenzung zu gewählten politischen Gremien wichtig?
Marian Schreier:
Ein wesentliches demokratisches Prinzip ist das der Rechenschaft: dass ich zur Verantwortung gezogen werden kann für meine Entscheidungen. Und zwar ganz konkret durch die Abwahl. Bürgerräte können nicht abgewählt werden, deswegen muss die letzte Entscheidung immer bei den gewählten Vertreterinnen und Vertretern liegen. Sonst bekommt man ein Demokratieproblem, weil die Zuordnung von Verantwortlichkeit nicht mehr möglich ist.
Sehen Sie nicht die Gefahr, dass Menschen frustriert sind, wenn sie sich einbringen und die Ergebnisse ihrer Arbeit am Ende dann nicht umgesetzt werden?
Marian Schreier:
Für ein Mindestmaß an Verbindlichkeit muss man schon sorgen. Aus meiner Sicht ist das Mindestmaß, dass die Ergebnisse in gewählten Gremien behandelt werden und diese dazu öffentlich Stellung beziehen müssen. Es muss nicht alles übernommen werden, aber es muss begründet werden, warum ein Vorschlag übernommen wird und warum das bei einem anderen nicht der Fall ist. Genauso werden wir das im Fall des Leitbilds auch tun. Wir haben die Ergebnisse im Gemeinderat vorgestellt, es gibt eine Tabelle mit allen Maßnahmen und wir schreiben bei jeder einzelnen dazu, ob wir die Aktualisierung übernehmen oder nicht. Das wird den Teilnehmenden des Rates zugänglich gemacht, aber auch der gesamten Öffentlichkeit auf einer Homepage.
Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, hat gut auf den Punkt gebracht, was das Prinzip von Beteiligung ist: Es geht darum, angehört, aber nicht erhört zu werden.
Keine wesentlichen Unterschiede zwischen Ost und West
In den vergangenen Jahren wurde des Öfteren eine Politikverdrossenheit bei vielen Menschen beklagt, insbesondere im Osten Deutschlands. Sie haben Ihre Bürgerräte parallel durchgeführt und sich viel dazu ausgetauscht. Haben Sie einen Ost-West-Unterschied wahrgenommen? Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten haben Sie grundsätzlich festgestellt?
Arno Jesse:
Ich fand, es gab keine großen Unterschiede, zumindest keine, die sich aus der Ost-West-Thematik herleiten lassen. Vielleicht mit der Ausnahme, .
Die inhaltlichen Unterschiede begründen sich aus den Gegebenheiten. Wenn wir hier einen großen Schulcampus haben und Tengen nicht, dann ist logisch, dass mehr Themen sich darum bündeln als um das Thema Verkehr, das in Tengen relevanter ist. Ich sehe insgesamt viel mehr Gemeinsamkeiten. In beiden Städten war das Thema soziale Verbundenheit und Gemeinschaft beispielsweise sehr wichtig.
Marian Schreier:
Ich kann mich da nur anschließen und finde, dass dies ein sehr spannender Befund ist. Am Anfang hatten wir ja durchaus die Vermutung, dass es Unterschiede geben könnte.
, dass es im Wesentlichen nicht so war. Was die Diskussionskultur bei den Bürgerräten angeht, haben wir exakt dieselbe Erfahrung gemacht: dass es viel konstruktiver war, als wir das sonst von anderen politischen Veranstaltungen kennen. Es war sehr an der Sache orientiert und alle Beteiligten haben überlegt, was der gemeinsame Weg sein kann.
Ich konnte in den vergangenen Jahren auch schon ein wenig Erfahrung mit Bürgerräten sammeln, habe mehrere Experimente und Modellprojekte journalistisch begleitet.
Was den Teilnehmenden immer besonders positiv auffällt, ist der wertschätzende Umgang miteinander. Da frage ich mich: Warum gelingt uns das in unserer Gesellschaft offenbar sonst nicht so gut? Und wie können wir das ändern?
Marian Schreier:
Das ist eine schwierige Frage. Ich kann eine These aufstellen, warum das beim Bürgerrat gut gelingt: Weil in ihn sehr vielfältige Perspektiven einfließen, auch solche, die sonst nicht auftauchen. Zum Zweiten sorgt das Losverfahren dafür, dass weniger Menschen mit einem konkreten Anliegen in den Prozess gehen. Wenn ich in der Kommunalpolitik sonst eine Beteiligung mache, zum Beispiel bei einem neuen Verkehrskonzept, dann kommen die Anlieger der Bundesstraße, die mit dem Verkehrslärm ein Problem haben. Das ist wichtig und legitim, aber durch ihre Betroffenheit bringen sie eine bestimmte Haltung ein. Eine Veranstaltung kann dadurch schnell in einen anderen Modus rutschen.
Dass der Ton in Bürgerräten konstruktiver ist, ist aber auch eine Frage der Moderation und vor allen Dingen auch der Arbeit in Kleingruppen. In einer Veranstaltung mit 150–200 Personen melden sich gewöhnlich nur diejenigen zu Wort, die im öffentlichen Sprechen geübt sind und keine Scheu haben.
Spielt auch das Thema eine Rolle, das im Bürgerrat verhandelt wird?
Marian Schreier:
Ich glaube auch, dass es zum Gelingen von Bürgerräten beiträgt, wenn man sich über grundsätzliche Dinge und langfristige Perspektiven unterhält, so wie wir das mit den Leitbildern getan haben. Wie wollen wir zusammenleben? Wo will die Gemeinde in 5 oder 10 Jahren stehen? Natürlich immer auch verbunden mit konkreten Projekten. Das haben wir auf anderen politischen Ebenen nicht in dieser Form. Wir führen in Deutschland keine wirklich grundlegende Diskussion darüber, was eigentlich unser Wohlstands- und Gesellschaftsmodell in 5 oder 10 Jahren ist, obwohl inzwischen an allen Ecken und Enden zu erkennen ist, dass das Haus doch gehörige Risse hat, von der Energieversorgung über soziale Fragen bis hin zur Digitalisierung. Diese Form des Gesprächs fehlt. Ich glaube, dass die langfristige Perspektive auch eher dazu anhält, konstruktiver zu diskutieren.
Mit Illustrationen von
Frauke Berger
für Perspective Daily
Als Politikwissenschaftlerin interessiert sich Katharina dafür, was Gesellschaften bewegt. Sie fragt sich: Wer bestimmt die Regeln? Welche Ideen stehen im Wettstreit miteinander? Wie werden aus Konflikten Kompromisse? Einer Sache ist sie sich allerdings sicher: Nichts muss bleiben, wie es ist.