Dieses kleine Land bietet Russland die Stirn. Ein Besuch
Sogar Privatleute wollen im Ernstfall für die Unabhängigkeit Litauens kämpfen. Um das zu verstehen, ist unser Autor dorthin gereist und hat einen Blick auf Gesellschaft und Geschichte Litauens geworfen.
Der ganze Acker vibriert, als die Panzerhaubitze 2000 der litauischen Armee mit infernalem Motordröhnen vorbeidonnert. Die Ketten des Höllenfahrzeugs hinterlassen im Gras und der lehmigen Erdschicht darunter tiefe Abdrücke. Schwerter zu Pflugscharen, dieser biblische Slogan würde im katholischen Litauen gerade gar nicht verfangen, im Gegenteil: Das baltische Land hat sein Verteidigungsbudget seit der
Unter dem Eindruck des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine investiert Litauen in diesem Jahr
Dort, wo die Panzerhaubitze 2000 gerade ihre Ketten in den Acker gepresst hat, standen bis vor wenigen Augenblicken noch rund ein Dutzend andere Panzer aufgereiht; die jeweiligen Besatzungen davor. Der litauische Präsident Gitanas Nauseda war zu Besuch auf dem Truppenübungsplatz Rukla im Zentrum des Landes, ließ sich die verschiedenen Waffen erklären, hielt eine entschlossene Rede
Was mir als ausländischem Journalisten dabei sofort ins Auge sprang: Nauseda trug nicht wie sonst Anzug und Krawatte, sondern eine Armeeuniform in Tarnfarben, auf dem Ärmel sogar den Aufnäher der diesjährigen NATO-Zertifizierungsübung
Panzer, Helden und eine eindeutige Erinnerungskultur
Das mit den sowjetischen Panzern ist keine Redensart, sondern war am 13. Januar 1991 dramatische Realität in den Straßen der Hauptstadt Vilnius, die ich mir heute in der hippen, hübschen und vor allem friedlichen Stadt kaum vorstellen kann: Nach einem halben Jahrhundert
Aus Sicht des Kreml war das ein Präzedenzfall: Ermutigt durch den Fall der Berliner Mauer gab es zwar in weiten Teilen der Sowjetunion Unabhängigkeitstendenzen, aber diesen Schritt hatte noch kein Gebiet gewagt. Es folgten eine monatelange Energieblockade und Verhandlungen, in denen der damalige Übergangspräsident Vytautas Landsbergis nicht klein beigeben wollte. Bei unserem Treffen
Als sie einsahen, dass sie die wachsende Unterstützung einer vollständigen Unabhängigkeit Litauens nicht stoppen können, setzten sie militärische Gewalt ein. Im Januar 1991 kam es zum Blutvergießen in Vilnius. Aus unserer Sicht war das eine Aggression gegen ein unabhängiges Land.
Mit Waffengewalt wollte Moskau damals pro-sowjetischen Stellvertretern zurück an die Macht verhelfen und belagerte Parlament und Fernsehturm. Am Ende der Nacht waren 14 Litauer:innen tot, viele verletzt, aber der Putsch war gescheitert.
Die Toten wurden auf dem Heldenfriedhof im Vilniuser Stadtteil Antakalnis beigesetzt. Von meinem Besuch im Mai bleibt mir die zugewandte Stille zwischen den alten Gräbern unter sanft wogenden Kiefern in Erinnerung. Es gibt ein Grabfeld mit symmetrisch angeordneten, identisch aussehenden Steinkreuzen für polnische Soldaten, an denen weiß-rote Fähnchen hängen, ein anderes für die Gefallenen eines französischen Feldzugs unter Napoleon. Ein besonderer Platz ist für die Opfer der Januarereignisse vorgesehen, frische Blumen zieren ihre Gräber.
Anders beim sowjetischen Ehrenmal schräg dahinter: Bis auf vereinzelte, vertrocknete Rosen waren die Gefallenen des
Die Statuen vom Antakalnis-Friedhof sind bei Weitem nicht die ersten, die entfernt werden sollen: Im südlitauischen Örtchen Druskininkai hat ein Sammler zahlreiche Statuen von Lenin, Stalin, Marx und anderen von den Sowjets verehrten Persönlichkeiten aufgekauft, die die Litauer:innen nach der Wiedererlangung ihrer Unabhängigkeit nicht mehr in ihren Städten sehen wollten. Im
Zum Beispiel am früheren KGB-Haus am Gedeminas-Prospekt, der zentralen Prachtstraße im Zentrum von Vilnius: Das Erdgeschoss des heutigen Gerichtsgebäudes ist von einem Granitsockel gesäumt; in einzelne Steinplatten sind Namen von Litauer:innen eingraviert, die von KGB und Roter Armee ermordet wurden. In Wandvertiefungen sind Informationstafeln über den litauischen Unabhängigkeitskampf eingelassen.
Ich bleibe eine Weile stehen, dann wende ich mich ab. Mein Blick schweift über den gegenüberliegenden Platz, hinweg über die Jugendstilhäuser auf ein gläsernes Hochhaus, das am anderen Ufer der Neris in den Himmel ragt:
Nur nicht nachgeben: Transitstreit zwischen Vilnius und Moskau
Auch in der jüngsten Eskalation mit Moskau konnte man Litauen gewiss nicht nachsagen, die Konfrontation zu scheuen: Seit Mitte Juni untersagte Litauen den
Eine etwas fragwürdige Rolle in dem Streit nahm die EU-Kommission ein. Bevor Litauen den Gütertransit erstmals einschränkte, holte sich die Regierung zwar Rückendeckung aus Brüssel. Allerdings erreichte dieser Vorgang offenbar gar nicht die Spitze der Kommission, sodass der Eindruck entstand: Brüsseler Hardliner auf niedrigerer politischer Ebene wollten
Die Kommissionsspitze ist nämlich besorgt über die Sicherheit in der Region und versuchte, einen Kompromiss mit Vilnius auszuhandeln: Der Transit könnte ausgenommen werden, während Litauen intensive Kontrollen durchführt. Doch die litauische Regierung wollte keinesfalls klein beigeben und den Transit wieder durchwinken.
Eine erste Verhandlungsrunde scheiterte – erst im zweiten Anlauf ließ sich Vilnius darauf ein, das Transportregime zu lockern: Seit dem 22. Juli ist der Bahntransit von den Sanktionsbeschränkungen ausgenommen, allerdings dürfen nicht mehr Güter als durchschnittlich
Abgelegen und zentral zugleich: Der Suwalki-Korridor
Allerdings mag niemand so richtig ausschließen, dass Russland nicht doch irgendwann in einen militärischen Konflikt mit der NATO treten könnte, und auch bei diesen Überlegungen spielt Kaliningrad eine wichtige Rolle: Als erster hochrangiger Funktionär hat vor 3 Wochen der inzwischen abberufene
Ein Angriff auf litauisches Gebiet würde nach Ansicht der NATO und der deutschen Leitung ihrer Einsatztruppe wohl ganz im Süden erfolgen: In der Suwalki-Region grenzen Litauen und Polen aneinander. Aus Sicht der EU- und NATO-Mitglieder ist es ein Korridor, durch den wichtige Straßen- und
»Es wäre definitiv einer der Orte, die angegriffen würden«, sagt der auf das litauische Militär und Verteidigung spezialisierte Politikwissenschaftler Deividas Šlekys von der Universität Vilnius und erzählt im Video-Interview von NATO-Übungen wie jener der deutschen Fallschirmjäger, die im Mai in Litauen den Absprung über vom Feind gehaltenem Gebiet geübt hatten. »Es gibt Alternativen, aber der Landweg ist der leichteste und schnellste Weg, Litauen zu erreichen. Wenn es militärische Aggressionen gegen Litauen gäbe, wäre es seltsam, wenn der Suwalki-Korridor kein Ziel davon wäre.«
In der Suwalki-Region sieht es, als ich im Mai umherfahre, überhaupt nicht nach geopolitisch angespannter Lage aus: sattgrüne Felder und Wiesen, wenige Menschen, viele Störche. Am Grenzübergang zu Polen wartet ein einsamer polnischer Panzer auf einem Tieflader darauf, dass er an sein Ziel gezogen wird – ansonsten ist hier kein Militär zu sehen. Selbst im Grenzdorf Vištytis, das eingekeilt zwischen einem See und dem Grenzzaun zu Kaliningrad liegt, ist alles ruhig: Der Wachturm auf der russischen Seite scheint nicht besetzt, und der friedliche See lässt mich eher an Kanufahren denken, nicht an Konfrontation.
Die Distanz zwischen dem russischen Kaliningrad und Belarus ist kurz. Es wäre also für Russland ein Leichtes, Truppen in Belarus und Kaliningrad zusammenzuziehen und aus beiden Richtungen anzugreifen und so Litauen vom Rest der EU abzuschneiden. Es ist schwierig, den so kleinen Streifen zwischen Belarus und Russland zu schützen oder zu verteidigen.
G36-Gewehr statt Löschschlauch: Freiwillig in der Schützenunion
Einer, der seine Heimatregion mit anderen Augen sieht, ist Egidijus Papečkys: Er unterrichtet gelegentlich an der Militärakademie, im Hauptberuf ist er jedoch Bezirkskommandant der »Lietuvos šaulių sąjunga« in der Stadt Marijampole. Die LŠS lässt sich auf Deutsch mit Schützenunion übersetzen und ist in Litauen ein ganz normaler Verein wie bei uns die Freiwillige Feuerwehr oder das DRK. Die Mitglieder übernehmen ehrenamtlich im Katastrophenschutz auch
Er empfängt im örtlichen Hauptquartier: Der Saal im 2. Stock, über einem Laden für Second-Hand-Kleidung, hat mit den aufgereihten schwarzen Klappstühlen den Charme eines Schulungsraums. Auf dem Bücherregal liegt eine Übungspuppe für Erste-Hilfe-Kurse, an der Wand hängt eine große Landkarte, auf der Papečkys die Landstraße zeigt, die sich aus seiner Sicht besonders für einen russischen Einmarsch eignen würde. Aber zuerst demonstriert er die Waffen, die auf dem Tisch vorne drapiert sind: 4 G36 und ein MR-308, alles Gewehre des deutschen Herstellers Heckler & Koch.
Vor Kriegsbeginn zählte die Schützenunion etwa 10.000 Mitglieder. Seit dem 24. Februar sind bereits mehr als 4.000 neue Aufnahmeanträge eingegangen, darunter prominente Politiker:innen wie Parlamentspräsidentin Viktorija Čmilytė-Nielsen und Premierministerin Ingrida Šimonytė.
Die Menschen sehen, was in der Ukraine passiert. Sie wollen mehr darüber wissen, was sie im Krieg oder in einer Krise tun könnten. Und natürlich wollen sie Verantwortung übernehmen für ihre Stadt oder ihr Land. Das sind Menschen aus allen Bereichen der Gesellschaft, vom Arbeitslosen bis zum hochrangigen Staatsanwalt oder Polizisten.
Litauen erwartet mehr NATO-Soldat:innen
Aber egal, wie engagiert sich Litauen auch einem möglichen Angriff entgegenstellen würde: Ohne die NATO wäre die Verteidigung wohl kaum möglich. Als Russland 2014 die ukrainische Halbinsel Krim annektierte und Putin dabei ethnische und historische Gründe anführte, löste das im Baltikum große Angst aus: Mit der gleichen Logik könnte Russland auch in Estland, Lettland oder Litauen einmarschieren. Die NATO reagierte mit der Gründung der Enhanced Forward Presence, multinationalen Verbänden von je 1.000–1.5000 Soldat:innen, die ab 2017 in den 3 baltischen Staaten sowie in Polen abgestellt wurden.
Bisher folgte der Einsatz einer sogenannten Stolperdraht-Strategie: Der Vormarsch des Feindes sollte so lange verzögert werden, bis Verstärkung eintreffen würde. Dabei wurde offenbar sogar ein Durchmarsch in Kauf genommen; binnen 180 Tagen wollte die NATO in diesem Szenario das Baltikum zurückerobern. Zur Erinnerung: Der Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar ist gerade erst 155 Tage her; und seitdem hat die Zivilbevölkerung bereits unermessliches Leid erfahren.
Wohl auch deshalb hat die NATO eine Ausweitung des Einsatzes beschlossen; die Battlegroups sollen auf Brigadengröße anwachsen. In der NATO-Sprache bedeutet das in der Regel 3.000–5.000 Soldat:innen – für die ist in litauischen Kasernen bislang aber gar nicht genug Platz.
Zurück bei der NATO-Übung in Rukla: In den Stunden vor der Präsidentenrede konnte ich einen kleinen, ausschnitthaften Eindruck davon gewinnen, wie Zusammenarbeit auf NATO-Ebene aussehen kann.
3 norwegische Leopard-2-Kampfpanzer fahren mit dröhnenden Motoren über eine Lichtung. Als sie auf meiner Höhe angekommen sind, vibriert der sandige Boden wie bei einem kleinen Erdbeben. Plötzlich taucht hinter den Kiefernwipfeln ein Flugzeug im Tiefflug auf; es öffnet eine Klappe und lässt ein rötliches Pulver auf die Panzer regnen. Im Übungsszenario wäre das ein unbekannter Kampfstoff, möglicherweise atomar, biologisch oder chemisch. Also kommt ein ABC-Spürpanzer Fuchs der Bundeswehr. Ein Soldat im Fahrzeug streckt seine Hand, geschützt durch einen dicken schwarzen Gummihandschuh, nach draußen aus und entnimmt Bodenproben. Deutsche und litauische Soldat:innen bauen Spezialfahrzeuge und Zelte zur Dekontamination auf, damit die norwegischen Panzer von Rückständen gereinigt werden können und die Besatzungen wieder an die frische Luft dürfen.
Später wird Präsident Gitanas Nauseda auch diese sogenannte »Dekontaminationsstraße« besichtigen. Die NATO-Verantwortlichen scheinen ihn nicht nur mit dem Aufgebot an Panzern und anderen Waffen, sondern auch mit der eingespielten Zusammenarbeit beeindrucken zu wollen. Nauseda betonte in den vergangenen Monaten häufig,
Die NATO-Truppen sind angesichts der russischen Aggressionen dieser Tage so etwas wie eine Lebensversicherung für Litauen. Schon vor dem 24. Februar war Umfragen zufolge die Unterstützung in der Bevölkerung für die NATO-Truppen im eigenen Land
Kurz vor dem Präsidentenbesuch in Rukla frage ich einen litauischen Soldaten, weshalb er vor 14 Jahren der Armee beigetreten sei. Seine Antwort spiegelt viel von der Entschlossenheit wider, die ich in Litauen in so vielen Situationen bemerkt habe: »Meine Motivation ist Folgende: Wenn du willst, dass eine Aufgabe ordentlich ausgeführt wird, dann solltest du es am besten selbst machen.«
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily