So meistert diese Psychologin die Angst vor der Klimakrise
Früher hat Renée Lertzman selbst darunter gelitten, heute berät sie Unternehmer:innen weltweit. Mit diesen 4 Schritten gelingt das auch dir.
Es ist das Jahr 1987. Es dauert noch gut 30 Jahre, bis Kinder und Jugendliche weltweit wegen der Klimakrise den Schulbesuch verweigern. Bis der Weltklimarat erstmals in einem IPCC-Bericht die
Doch schon da bricht die damals 18-jährige US-Amerikanerin Renée Lertzman fast ihr Studium ab, weil sie die Prognosen in ihrem Klima- und Umweltseminar so erschüttern. Sie ist gerade für ihren Psychologie-Bachelor von San Francisco nach Santa Cruz gezogen, hat sich in den abgeschiedenen grünen Campus direkt am Pazifik verliebt und läuft ohne große Vorgedanken in den Einführungskurs »Environmental Studies« hinein. Als sie wieder herauskommt, ist sie wie traumatisiert.
In einen dunklen Tunnel gefallen
In dem Seminar sieht die junge Renée steigende CO2-Kurven und die Namen der vielen bedrohten Tier- und Pflanzenarten, hört von dem langfristig
Sie kann sich nicht mehr auf ihre anderen Vorlesungen und Seminare konzentrieren und ist kurz davor, ihr Studium abzubrechen. Doch dann lenkt sie ein Flyer, den sie 1988 zufällig an irgendeiner Wand im Unigebäude entdeckt, in eine andere Richtung. Auf dem Papier steht: »Ökologische Philosophie und Religion«. Es handelt sich um ein 2-monatiges Outdoorseminar in Kalifornien.
Eine Entscheidung, die dazu führt, dass sie über 30 Jahre später, im Oktober 2021, als 53-jährige Klimapsychologin mit Michiel Bakker, Vice President bei Google, bei einer Klimakonferenz in Kalifornien über Leadership in der Klimakrise spricht. Bakker ist mit dafür verantwortlich, dass Google seine Klimaziele einhält und bis 2030 ausschließlich
»Also Michiel – wie fühlst du dich?«, fragt Renée, eine Frau mit Kurzhaarfrisur und hellwachem Blick, ihr Gegenüber bei der Konferenz in Kalifornien. Bakker deutet ein Lächeln an und überlegt ein, zwei Sekunden. Er hat diese gefühlige Frage schon oft von ihr gehört und beantwortet, Renée und er arbeiten inzwischen seit einigen Jahren zusammen. »Ich bin gespannt auf dieses Gespräch, Renée, und fühle ambivalent über die Situation, in der wir uns befinden«, erwidert Michiel Bakker ruhig. Renée hört ihm aufmerksam zu. »Ich glaube, einerseits gibt es so viele wirklich interessante und komplexe ökologische Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind. […] Und ich würde sagen, dass ich auch ein wenig Angst habe, weil ich einfach nicht weiß, ob wir schnell genug sein und ob wir die richtigen Lösungen finden werden – also ambivalent mit ein bisschen Angst.« »Okay«, sagt Renée nickend,
»Wir müssen uns verstanden und akzeptiert fühlen«
Renées Geschichte ist die einer jungen Frau, die niemand fragt, wie es ihr wegen der Klimakrise geht. Und die sich dennoch – oder gerade deshalb – zu einer erfahrenen Psychologin entwickelt, die Führungskräften auf der ganzen Welt mit Hunderten, manchmal Tausenden Mitarbeiter:innen vermittelt, wie wichtig es ist, sich mit dieser Frage zu beschäftigen. Sie ist davon überzeugt, dass sich alle, auch Chef:innen, erst mit ihren eigenen Klimagefühlen auseinandersetzen sollten und dann mit denen der Menschen um sich herum bzw. in ihren Teams.
Renée spricht dabei von »Attunement«, auf Deutsch etwa Einfühlung: »Wir müssen uns verstanden und akzeptiert fühlen«, erklärt sie mir im Videointerview mit ruhiger und gleichzeitig eindringlicher Stimme. »Für genau die Gefühle, die wir gerade haben.« Sie schaut mir fest in die Augen, als wolle sie prüfen, ob ich verstehe, wie elementar dieses Konzept ist.
»Warum ist es dir so wichtig, diesen Ansatz gerade Führungskräften zu vermitteln?«, frage ich. »Ich denke, dass Menschen in Führungspositionen und in Teams das Potenzial haben, tatsächlich eine massive Veränderung herbeizuführen«, antwortet sie; ihre Hände zeichnen dabei eine Linie, als wolle sie den Satz unterstreichen. »Die Lernkurve, für die ich mich am meisten interessiere, ist die in der inneren Arbeit, wo es um emotionale Intelligenz geht und die Fähigkeit von Führungskräften und Teams, diesen komplexen Bereich zu verstehen und da hindurchzulenken.«
Deshalb arbeitet sie inzwischen seit etwa 10 Jahren mit internationalen Chef:innen aus Politik, Nichtregierungsorganisationen und Wirtschaft zusammen. Das bedeutet: Sie arbeitet unter anderem Strategien aus, baut neue Workflows mit auf, designt Klimapilotprojekte und -kampagnen. Und schafft ein Bewusstsein dafür, wie eng Klima und Psyche zusammenhängen.
»Die Klimakrise ist niemandem egal«
Was mir an Renée sofort auffällt, sind ihr analytischer Blick und ihre starke Präsenz. Schon in den ersten Sekunden unseres Calls habe ich das Gefühl, dass sie Menschen liest wie Bücher; ich kann mir gut vorstellen, dass sie jede Woche auf einer anderen Bühne steht und das Publikum dort mit ihren Worten verbindet. Als Nächstes fällt mein Blick in ihrem Kameraausschnitt auf ein Whiteboard hinter ihr, auf dem jeder Winkel in Sherlock-Holmes-Manier mit Begriffen vollgekritzelt ist, die wiederum mit etlichen Linien miteinander verbunden sind. Vermutlich handelt es sich weniger um Tatverdächtige und mehr um psychologische Begriffe, doch auch wenn ich es während des Gesprächs immer mal wieder versuche, kann ich die Worte nicht entziffern.
Aber es gibt wichtigere Fragen, denn Renée hat nur eine knappe Stunde Zeit. Um 9 Uhr morgens, als das Gespräch für sie in San Francisco beginnt, hat sie das erste Onlinemeeting schon hinter sich, und zu Beginn unseres Gespräches isst sie ihr Frühstücksmüsli. Dass die Klimapsychologin und Leadership-Expertin derzeit so gefragt ist, mag für sie einiges an Stress bedeuten, für die Welt mag es gleichzeitig ein gutes Vorzeichen sein.
Entdeckt habe ich Renée durch ihren TED-Talk über
Wenn uns negative Informationen überforderten und an den Rand dieses Fensters brächten, erklärt Renée im Talk, »dann können wir auf eine Art kollabieren, das wird als chaotische Reaktion bezeichnet; es sieht nach einer Depression aus, nach Verzweiflung, Dichtmachen. Und an der anderen Seite des Fensters reagieren wir härter: mit Leugnung, Wut, Unnachgiebigkeit.«
Die Frau, die schon früh wegen der Klima- und Artenkrise mit den Rändern ihres eigenen Toleranzfensters konfrontiert wurde, schließt kurz die Augen und hebt die Hände auf Herzhöhe. »Lasst uns Mitgefühl für uns selbst und einander in dieser Zeit haben, sodass wir diese schmerzhaften Wahrheiten zusammen verarbeiten können«, sagt sie dann zum Abschluss ihrer Rede.
Nachdem ich mir den Talk mehrmals angeschaut hatte, habe ich Renée kontaktiert. Denn ich habe den Eindruck: Ihr Fokus auf Empathie für komplexe Emotionen in einer Krise kommt im schnell aufgeheizten öffentlichen Dialog oft zu kurz – die Klimakrise ist schließlich auch eine massive psychische Gesundheitskrise. Mich interessiert deshalb sehr, was Renée auf den Weg geführt hat, den sie inzwischen seit Jahrzehnten verfolgt, und wie wir alle – vom CEO über den Aktivisten bis zur Grundschülerin – besser mit unterschiedlichen Klimagefühlen umgehen können.
Outdoorseminar in Kalifornien: Renée hat Platz für schwierige Gefühle, ohne dabei allein zu sein
Solche Gefühle kennt Renée schon lange, bevor sie im Ökologieseminar an der Uni wegen der Klimaprognosen an ihre psychischen Grenzen kommt. Bereits als Kind spürt sie in der Natur oft eine Form von Traurigkeit. Sie wird 1968 geboren und wächst in einem Gebiet südlich von San Francisco auf. In den 70er-Jahren wachsen dort noch Obstgärten und ausgedehnte Felder. Heute ist die Region als Wiege der technologischen Innovation weltweit bekannt – als Silicon Valley. Die 7-, 8-jährige Renée sieht, wie die Obstgärten mit den vielen Aprikosenbäumen langsam verschwinden und Wohnsiedlungen mit großen Häusern weichen.
»Ich habe ein Gefühl von Verlust empfunden«, sagt sie zu mir. »Und niemand hat über so etwas gesprochen.« Die allgemeine Sprachlosigkeit dazu, wie der Mensch die Natur radikal verändert, trifft sie immer wieder ähnlich stark wie die radikalen Veränderungen selbst. Und dieses kollektive Schweigen kann sie für sich erst brechen, als sie auf dem Campus in Santa Cruz den entscheidenden Flyer entdeckt und beschließt, an dem Outdoorseminar teilzunehmen.
Die aus der Bahn geworfene Renée verlässt ihre gewohnte Umgebung an der Uni und geht mit einer Gruppe Studierender und einem Dozenten für 2 Monate in die Wildnis. Das Seminar orientiert sich an den Erkenntnissen des Ökopsychologen Robert Greenway. Er sagt, dass Menschen in eine andere Form des Daseins wechselten,
Genau das ist es, was Renée und ihre Kommiliton:innen tun. Sie ziehen mit Rucksäcken durch 4 unterschiedliche Regionen Kaliforniens und leben 2 Wochen in jedem Gebiet, unter anderem im Death Valley in der Wüste und in den Bergen, dabei haben sie kaum Kontakt zur Zivilisation.
Zum Konzept des Seminars gehören künstlerische und philosophische Auseinandersetzungen mit der jeweiligen Region, in der sie sich gerade befinden. Die jungen Menschen lesen Romane und Gedichte über die Natur und werden selbst kreativ, beschäftigen sich mit indigenen Traditionen, singen und musizieren. Und hier findet Renée die Werkzeuge, um aus ihrem »Tunnel« herauszukommen. Sie beginnt, ihren Gefühlen Raum zu geben. Sie erzählt den anderen in Kreisen am Lagerfeuer davon und hört, was sie wiederum empfinden. Sie schreibt Tagebuch und sie lässt ihren Schmerz zu.
Im kalifornischen Sierra-Nevada-Gebirge sitzt sie allein auf einer Bank an einem spiegelglatten Bergsee und schaut nachdenklich über das Wasser. Eine Bewegung fängt ihren Blick. Es ist ein kleiner Frosch, der neben ihr einen Felsen hoch krabbelt, es sieht sehr mühevoll aus. Hastig steht Renée auf, setzt den Frosch behutsam auf ihre Handfläche und trägt ihn die paar Meter zum See, lässt ihn dort ins Wasser rutschen. Für etwa eine Minute friert der Frosch ein, bewegt sich überhaupt nicht. Renée schaut verunsichert zu ihm hinunter. Dann beginnt er wild zu paddeln, zurück zum Ufer. Langsam kämpft er sich aus dem Wasser heraus, die Böschung hinauf und krabbelt zurück zu dem Felsen, von dem Renée ihn eben weggetragen hat.
Eine Welle von Scham und Trauer überkommt sie. »Woher will ich bitte wissen, was dieser Frosch braucht?«, geht es ihr durch den Kopf. Sie denkt, dass Menschen so oft meinen zu wissen, was Tiere brauchen, und damit gedankenlos so viel zerstören. Renée fängt an zu weinen. Für Stunden sitzt sie auf der Bank am See und weint wegen einfach allem, was sie bislang weder zulassen noch teilen konnte.
Später kommt sie mit geröteten Augen zurück zur Gruppe, erzählt am Lagerfeuer von der Erfahrung. »I really lost it«, sagt sie auf Englisch zu ihrem Seminarleiter, »Ich habe total die Kontrolle verloren«. Er mustert sie eingehend. »It sounds like it’s not that you lost it, you found something«, entgegnet er. »Es klingt weniger als hättest du etwas verloren, sondern etwas gefunden.«
»Das war einer der Momente in meinem Leben, die mich am meisten verändert haben«, sagt Renée zu mir, die mir die Situation ausführlich geschildert hat. In ihrer Stimme ist dabei noch immer etwas Schmerz. »Ich musste mir erlauben, diese Gefühle zu fühlen. Und ich wusste, dass da Menschen waren, zu denen ich zurückkommen konnte, um darüber zu sprechen. Und das ist so wichtig.« Wegen dieser und ähnlicher Erfahrungen in dem Seminar entscheidet sie sich dafür, Klimaemotionen und den Umgang damit im Rahmen einer akademischen Laufbahn zu erforschen.
»Danke, dass du das geteilt hast«, sage ich, bin berührt. »Ich kann mir gut vorstellen, wie sehr es geholfen hat, einfach mal wirklich weinen zu können.« Ich bin beeindruckt davon, wie klar sie über ihre Verzweiflung damals und ihre Art, damit umzugehen, spricht. Denn diese Gefühle, die sie schon vor über 30 Jahren überwältigt haben, kommen in der Breite der Gesellschaft erst jetzt so richtig an die Oberfläche, habe ich den Eindruck. Und sie stellen uns vor vergleichbare persönliche Herausforderungen. Viele von uns haben wohl ähnliche Momente gehabt, in denen uns die Klimakrise schlicht ausweglos erschien (was sie nicht ist!). Und es hat mich schon häufiger irritiert, dass kaum jemand wegen dieser Krise weint – oder zumindest wird auch über diese ja eigentlich
Ich würde mir sagen: ›Was du fühlst und wahrnimmst, ist goldrichtig. Es ist nichts falsch an dir, es bedeutet nicht, dass du zu sensibel oder zu zerbrechlich bist oder die Stimmung runterziehst. Du bist vielmehr an etwas dran, was wirklich wichtig ist, du solltest auf deine Gefühle achten und weitermachen. Das, was du zu sagen hast, und das, was du tust, ist wirklich wert- und bedeutungsvoll. Es wird Zeiten geben, wo Menschen nicht bereit oder fähig sein werden, dir zuzuhören; sie werden versuchen, dich zum Verstummen zu bringen, und das ist einfach normal, das musst du einfach erwarten. Und ich ermutige dich, die Menschen zu finden, egal wie alt sie sind, wo sie leben, finde die Menschen, bei denen du wirklich eine Verbindung spürst, und ehre, beschütze und pflege diese Beziehungen.‹
Ihre Worte zum persönlichen Umgang mit der Klimakrise und die Weisheit und Hingabe darin gehen mir nahe. Als 27-Jährige, die sich seit einigen Jahren verstärkt mit dieser Krise auseinandersetzt, hat es schon eine gewisse Wucht, so etwas von einer Frau zu hören, die das seit Jahrzehnten tut.
Umgang mit Klimagefühlen in 4 Schritten
Um noch einen Punkt von Renée hervorzuheben, der besonders wichtig ist: Klimaangst und ähnliche Gefühle sind erst einmal eine sehr gesunde Reaktion auf die globale Krise, in der wir uns befinden. Das heben auch andere Klimapsycholog:innen hervor,
Aber wie geht man damit um, wenn diese Gefühle einen lähmen und überwältigen? Renée empfiehlt, nachdem sie diese Emotionen selbst erlebt und sie dann erforscht hat, es in 4 Schritten anzugehen:
- Im ersten Schritt beschäftigt man sich mit seinen Gefühlen, »schätzt und respektiert« sie als eine Form von persönlichem »Feedback«, als wichtige Informationen an einen selbst.
- Im zweiten Schritt schaut man nach Beziehungen und Gruppen, in denen man über diese Gefühle sprechen kann; das könne etwa im Rahmen von guten Freundschaften stattfinden oder in zivilgesellschaftlichen Organisationen. Wichtig sei, dass die Gefühle dort Raum hätten, erklärt Renée. Dass sie genauso akzeptiert würden, wie sie gerade seien, dass man sich austauschen könne und Unterstützung bekomme.
- Im dritten Schritt könnten die Menschen schauen, wie sie mit Blick auf die Klimakrise aktiv werden können. »Um Erfahrungen, Energie, Sorgen und Ängste in eine Richtung zu lenken, die sich gut anfühlt, die auf den eigenen Stärken aufbaut und für einen persönlich Sinn macht«, sagt sie. Der Weg könne in Richtung Aktivismus gehen oder in Richtung Innovation, aber genauso in die Kunst oder in die Bildung. Es gebe ganz unterschiedliche Rollen, die man ausprobieren und wählen könne; wichtig sei, dass man sich mit seiner wohlfühle.
- Der vierte Schritt sollte bei allem Idealismus nicht vergessen werden: zu wissen, wann man einen Schritt zurückgehen und sich erholen muss. »Niemand kann 24 Stunden, 7 Tage die Woche mit der Klimakrise leben!«, betont Renée. Menschen bräuchten Ruhe, Auszeiten und Freude im Alltag, auch das natürlich auf eine persönliche Art. »Es ist wichtig, dass der eine Fuß in der Gegenwart steht, in dem, was jetzt gerade passiert, und dafür sorgt, dass wir uns lebendig und menschlich fühlen«, fasst Renée zusammen. »Und der andere Fuß steht in der Arbeit, die wir gemeinsam schaffen müssen, um uns in eine neue Richtung zu bewegen.«
Ihre Hände begleiten ihre Worte mit einer ausladenden Geste, sie lächelt warmherzig. Ich nicke, dieses Bild werde ich mir merken.
Diese 3 Klimaempfindungen verbinden uns alle
Es sind noch 10 Minuten, bis Renée in den nächsten Call wechselt. Die will ich nutzen, um mit ihr darüber zu sprechen, dass es nicht nur die Klimaangst ist, die viele Menschen in dieser Krise verbindet. Denn Renée sagt,
Auf die 3 As stößt Renée im Laufe ihrer langjährigen akademischen Laufbahn, für die sie sich nach dem Outdoorseminar in Kalifornien entscheidet. Das Konzept begegnet ihr nicht in der Forschung, sondern als Dozentin in der Lehre. Im Rahmen eines Seminars an der Portland State University in Oregon liest sie die persönliche Reflexion einer 20-jährigen Studentin zu deren Gefühlen zur Klimakrise. Die junge Frau schreibt zum einen über ihre Angst; aber auch darüber, dass ein Teil von ihr zu Naturschauplätzen auf der ganzen Welt fliegen will, bevor diese wegen Klimakrise und Umweltzerstörung verschwinden. Ein anderer Teil von ihr will genau das wiederum nicht, um nicht zum globalen Problem beizutragen; sie will helfen, die Krisen zu lösen.
Die beiden anderen »As«, die ganz unterschiedliche Menschen sehr ähnlich empfinden und die auch am Beispiel der Studentin deutlich werden, sind »Ambivalenz« und »Streben« (englisch: »Aspiration«), erklärt Renée. Es geht darum, dass wir unterschiedliche Bedürfnisse haben, auch Träume, die manchmal nicht zur Klimarealität passen – das ist mit »Ambivalenz« gemeint. Gleichzeitig wünschen wir uns, einen persönlichen Einfluss gegen die Klimakrise zu haben, nicht Teil des Problems, sondern der Lösung zu sein. Das bezeichnet Renée als »Streben«.
Es heißt also, dass es völlig normal ist, dass manche Menschen gerne Fleisch essen, andere es lieben, ausgiebig zu shoppen, und wieder andere von einer Weltreise träumen – und dass sie alle gleichzeitig wissen oder zumindest ahnen, dass so etwas strukturell ein Problem für das Klima ist. Weniger moralisieren, mehr zuhören und Raum geben, das will Renée vermitteln. Dann würden Menschen sich viel mehr darauf einlassen, an Veränderungen mitzuwirken und sich dafür auch selbst zu verändern.
Mittlerweile muss ich ihr Whiteboard nicht mehr entschlüsseln, ich könnte es selbst befüllen: »Angst«, »Ambivalenz« und »Streben«, »Gleichgültigkeit als Maske«, »Toleranzfenster« und »Raum geben«. Das sind die Begriffe, die immer wieder auftauchen und worüber Renée auch mit Führungskräften wie Michiel Bakker von Google spricht.
Renée ist etwas über 40, als ihre Stelle an der Uni überraschend nicht mehr verlängert wird. Da nutzt sie ihre Kontakte und wechselt in den Leadership-Bereich. Die Kontakte werden zum Netzwerk und während sie als junge Wissenschaftlerin mit ihren Themen oft nur wenig Gehör fand, wird die Liste der Anfragen bei der Leadership-Expertin heute immer länger. Nachdem wir eine Stunde gesprochen haben, denke ich, dass ihr Ansatz letztendlich auch ein großer Aufruf ist, sich in Zeiten multipler Krisen nicht für Resignation oder Zynismus zu entscheiden, sondern für Verbindung, für das »Wie geht’s dir?«. Während ich darüber nachdenke, läuft schon Renées nächstes Meeting. Sie spricht mit Michiel Bakker über die sogenannten »Inner Development Goals«, die helfen sollen, die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen zu erreichen. Ihr eigenes »Streben«, das hat sich Renée Lertzman wohl erfüllt.
Mit Illustrationen von Claudia Wieczorek für Perspective Daily