Warum denken alle, Sparen sei gut?
In kaum einem anderen Land legen Privatleute so viel Geld beiseite wie in Deutschland. Nur: Woher kommt diese bedingungslose Liebe zum Sparbuch?
Das kleine Mädchen wippt auf der Stelle, die Hände um ihre Knie verschränkt, während sie ihrem Vater von den Schulkamerad:innen erzählt. Ein Mädchen wohne in einem Haus, wo jeder sein eigenes Zimmer habe. Von Bernds Wohnung könne man die ganze Stadt sehen. Der Vater kommentiert belustigt: »Das sind Spießer!« Dabei schaut er über die Wohnwagensiedlung, in der die beiden sitzen. Sein Blick streift Punks mit bunten Haaren, eine junge Frau mit Dreadlocks hängt ihre Unterwäsche auf. Das Mädchen grübelt kurz und sagt dann:
Dieser Satz ist mir bis heute in Erinnerung geblieben. Der Werbespot der LBS, der Landesbausparkasse der Sparkassen-Finanzgruppe, bewarb damit im Jahr 2004 das Eigenheim als ultimatives Ziel der Deutschen. Genug sparen und Wohneigentum – damit gehört man zur Mittelschicht und hat genug Sicherheit für ein angenehmes Leben. So war mein Eindruck. Denn wer will schon in einer Wohnwagensiedlung groß werden? Das Mädchen aus dem Werbespot offensichtlich nicht.
Warum sind wir Deutschen keine wilden Abenteurer?
Doch wie kommt es auf die Idee, mal ein spießiges Leben führen zu wollen? Warum möchte es nicht frei und unabhängig durch die Welt reisen, ohne an Lebensversicherungen, Bausparverträge oder Spareinlagen zu denken? Das Kind aus der Werbung soll uns an dieser Stelle einen Spiegel vorhalten: Wir Deutschen sind im Durchschnitt keine wilden Abenteurer:innen, wir sind bodenständige Sparer:innen.
Das Sparen haben wir verinnerlicht. Die
Woher kommt es also, dass wir Deutschen so beflissen sparen? Wir werfen den Scheinwerfer zurück auf eine Zeit, als ein Teil der Gesellschaft in Armut versank und es nur ein Ticket in die Mittelschicht geben sollte: das Sparen.
Mit dem Sparbuch gegen die Revolution
Den Ursprung der deutschen Sparleidenschaft finden wir im 18. Jahrhundert. Diese Zeit war besonders wichtig für die Entwicklung des deutschen Bürgertums. Nicht mehr die Herkunft und Abstammung sollten den Lebensweg bestimmen, sondern
Zu dieser Zeit entwickelten sich auch die Vorstellungen von
Wirtschaftshistoriker Jan-Otmar Hesse beschäftigt sich in seiner Forschung mit der Geschichte unseres Wirtschafts- und Sozialsystems. Er schildert die damalige Lage so: »Wenn der Arbeiter seinen Lohn in bar gekriegt hat, was meist der Fall war, dann konnte es vorkommen, dass er in die nächste kleine Kneipe gegangen ist und das versoffen hat. Das kann man sich wirklich so vorstellen.« Das war natürlich nicht die Regel. Und es lag auch nicht daran, dass diese Arbeiter dumm oder unverantwortlich waren. Die Einkommen waren niedrig und wurden vollständig für Lebenshaltungskosten verbraucht. Die Bildung von Ersparnissen war unter diesen Umständen schwierig. Zudem wurden kleine Ersparnisse zu Hause in der Blechdose oder im Sparstrumpf gesammelt – ein leichtes Ziel für Diebe.
Armut ist plötzlich änderbar – auch mit Sparbüchern?
Dank der Aufklärung wurde diese Armut aber nicht mehr als gottgegebenes Schicksal abgetan, sondern als änderbar angesehen – und zwar durch »bürgerliche« Tugenden. Fleiß und Sparsamkeit sollten der Weg aus den Almosen sein. Auf private Initiative bürgerlicher
Neu war die Zielgruppe Unterschicht. Die Sparkassen ermutigten Arbeiter:innen, kleinere Beträge für Ereignisse wie Heirat oder Haushaltsgründung oder für die Absicherung von Lebensrisiken wie Arbeitslosigkeit oder Krankheit zu sparen. So sollte ein kleines Vermögen angehäuft und Vorsorge sowie Aufstiegschancen verbessert werden. Für die Einlagen gab es
Durch die Verwahrung bei der Sparkasse blieb die Blechdose auf dem Küchentisch fortan leer und die Menschen neigten weniger dazu, ihr Einkommen spontan wieder auszugeben.
Die Sparkasse als Pädagogin für das gemeine Volk
So richtig verbreitete sich das Konzept Sparkasse allerdings erst nach den
Die Gründung der Sparkasse war also erst mal eine erzieherische Maßnahme für die Arbeiterklasse – und auch ein Werkzeug des Bürgertums gegen sozialdemokratisches bis kommunistisches Gedankengut. Letzteres hatte sich mit Industrialisierung und der gravierenden sozialen Ungleichheit in der Arbeiterschaft verbreitet. Das Bürgertum fürchtete politische Unruhen, sollte die
Wie das Sparbuch dazu beitragen konnte? Ganz einfach: Wer den sozialen Aufstieg vor der Nase hat, wird eher daran als an der Revolution arbeiten. Der deutsche Geistliche Joseph Auffenberg fasste es prägnant zusammen:
Dabei konnte die Unterschicht noch immer keine nennenswerten Ersparnisse anhäufen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzten Arbeiterparteien und Gewerkschaften dann selbst auf Finanzbildung. »Es gab Trainings, in denen Haushaltsbücher erklärt wurden«, sagt Wirtschaftshistoriker Hesse. Ausgaben überblicken, Budgets setzen, Einkäufe planen. Das haben damals vor allem die Frauen gemacht, denn die gingen für die Familie einkaufen – obwohl sie selbst überwiegend berufstätig waren. Eine Spalte für Ersparnisbildung hatten die Haushaltsbücher normalerweise nicht.
Sparen für den Krieg
Doch dann kamen die beiden großen Kriege des 20. Jahrhunderts. Und Kriege kosten Geld. Was bedeutete das für die Bevölkerung und ihre Sparbücher? Die Antwort ist einfach: Sie finanzierten das Ganze. Den Ersten Weltkrieg über
Die Finanzierung des Krieges erfolgte über alle Finanzinstitute durch eine Zwangsanlage in Staatspapiere – ohne Wissen der Bevölkerung. Eben durch die Hintertür. Zur Ideologie des Nationalsozialismus passten Sparsamkeit und vor allem die lokalen Sparkassen sehr gut: Sparen als Pflichterfüllung für die Volksgemeinschaft, so formulierte es Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht anlässlich des Nationalen Spartags im Jahr 1935. Denn im Unterschied zu den anderen Banken waren die Sparkassen an die Kommunen gebunden und damit lokal verankert. Man könnte auch sagen, sie gehörten zur »Heimat« – auch als Abgrenzung zu jüdischen Akteur:innen des Finanzmarkts,
Kinder wurden schon früh an die »Tugend« des Sparens herangeführt. Im Jahresbericht des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands heißt es 1937 dazu: »Der heranwachsende Mensch soll durch alle Abschnitte eines Lebensweges, durch Schule, Wehrdienst und Beruf, von seiner Sparkasse begleitet und betreut werden.« Den Anspruch haben Sparkassen und viele Banken bis heute. Warum sonst sollten sie
Der Krieg als Gleichmacher – endlich können alle sparen
Nach den beiden Kriegen war das Geld der Deutschen weniger wert.
Von der Geldentwertung waren
Das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit wird gerne als einmaliger Erfolg gefeiert. Die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann ist sich sicher: Das Wunder hat es so nie gegeben. Chris Vielhaus hat mir ihr gesprochen.
Die Einkommen stiegen in den meisten Haushalten stark, sodass sich in den 50er- und 60er-Jahren die Sparquoten um das 10-Fache erhöhten. Staatliche Förderungen begünstigten diesen Trend zusätzlich: Neben Angeboten wie dem Bausparen gab es für einkommensschwache Haushalte sogar Sparförderungen.
Dass Menschen wieder gespart haben, findet Wirtschaftshistoriker Hesse nicht ungewöhnlich. Dass sie am Sparbuch festhielten, obwohl es ihnen im Zuge der
Die Bürger:innen hätten ja auch in Sachwerte wie Gold oder Immobilien investieren können. Die Wissenschaft habe bisher keine Erklärung für das stoische Festhalten der Deutschen am Sparbuch, so Hesse.
Das Sparbuch entkam nicht nur einem Bedeutungsverlust, es sollte in Zukunft sogar noch wichtiger werden. Ab 1957 bekamen Arbeiter:innen ihr Gehalt nicht mehr in der Lohntüte ausbezahlt, sondern direkt auf ihr Konto überwiesen – Jackpot für die Sparkassen und Genossenschaftsbanken. Denn neue Kundschaft bedeutete auch mehr Absatz für Spar- und Versicherungsprodukte. Dazu gehörten
Doch worauf sparten die Menschen in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit eigentlich? In der Regel auf konkrete Wünsche: das Eigenheim, ein Auto, Möbel, Urlaub oder auch Ausbildung oder Studium der Kinder. So wie sich das Mädchen aus der Bausparkassenwerbung nach einem Leben im Mittelstand sehnte, erfüllten sich die Deutschen der Nachkriegszeit zügig ihre Konsumwünsche, worauf sie so lange warten mussten. Denn vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren Konsumgüter eher Mangelware. Jetzt kaufte man dagegen auch mal auf Pump. Während sich in den USA die Devise »Buy first, pay later« durchsetzte, also kaufe erst, zahle später, galt in Deutschland trotzdem noch immer Mäßigung als Tugend. Die deutsche Kreditwirtschaft musste also den Spagat zwischen dem Sparen als Leitbild einerseits und dem erwünschten Konsum andererseits meistern.
Wie sich die DDR bemühte, die Sparlust der Deutschen zu stoppen
Wie sah es im Osten Deutschlands aus, in dem sich ein anderes Wirtschaftssystem etabliert hatte? In der DDR galt ein anderes Leitbild der Sparsamkeit: Hier sollte das Sparen dem Gemeinwohl dienen. In den Werbebroschüren der Sparkassen hieß es: »Die Bedeutung des Sparens in unserer Deutschen Demokratischen Republik ist eine andere als in einem kapitalistischen Staate. Dort ziehen lediglich die Monopolisten und Finanzgrößen ihre Profite aus den Spargeldern der Werktätigen.«
Stattdessen sollte das Sparen konkret beim Wiederaufbau nach dem Krieg helfen. Die sogenannten
»Es trägt dazu bei, mehr Wohnungen zu bauen, es ›arbeitet‹ in unserer Volkswirtschaft, es hilft, unseren friedlichen Aufbau zu finanzieren.« Aus einer Sparkassen-Werbebroschüre
1954 führten die Sparkassen die »Sparwochen« ein. In dieser Zeit rührten sie die Werbetrommel, um die Menschen zum Sparen zu animieren. Da die Konsumgüter im Sozialismus allerdings begrenzt waren, sparten die Bürger:innen der DDR relativ schnell
Es verwundert nicht, dass die Sparquote der DDR so hoch war. Denn mit
Die Liebe zum Sparen ist geblieben
Von der ehemals rein bürgerlichen Tugend über die Kriegsfinanzierung bis hin zum Aufbau der DDR oder dem Ankurbeln der Volkswirtschaft in der Bundesrepublik: Zu welchem Zweck gespart wurde, hat sich über die Jahre verändert. Aber die Liebe zum Sparen ist geblieben.
Das kleine Mädchen aus der Bausparkassenwerbung hat bereits früh gelernt: Ist das Sicherheitsnetz des Staates nur ungenügend, so ist das individuelle Sparen umso wichtiger – spießig hin oder her.
Warum ist es problematisch, dass wir heute nicht gut sparen können? Wie sich das Horten von Geld wieder lohnen könnte, liest du in einem Folgeartikel, der am 22.09.22 erscheint.
Mit Illustrationen von Claudia Wieczorek für Perspective Daily