Freie Fahrt für freie Räder? Mein Radrennen durch Deutschlands Autohauptstadt
Stuttgart ist Autometropole und die Heimat unseres fahrradliebenden Autors. Der perfekte Ort für sein erstes Radrennen, bei dem er mehr den großen Fragen hinterherjagt als einer guten Platzierung.
Mein Vorhaben steht von Anfang an unter einem schlechten Stern. Als ich mit dem ICE in den Stuttgarter Talkessel rolle, blinzelt der meterhohe, sich drehende Mercedes-Stern von der Spitze des alten Bahnhofsturms durch die Nacht ins Zugfenster. Willkommen in Benztown!
Der Zug kommt etwas früher zum Stehen, als ich es aus meiner Kindheit kenne. Die Bagger haben den Bahnhof schon vor Jahren ein paar Hundert Meter nach vorn geschoben, um Platz zu schaffen für die »größte Baustelle Europas«. Stuttgart 21. Einzig der gigantische Mercedes-Stern, das Symbol des Autos, wird auch in Zukunft als Relikt des alten Bahnhofs schon aus der Ferne zu sehen sein. Egal ob
Allerdings: Stuttgart ist auch meine Heimat, bis zum Abitur habe ich hier gelebt. Und je älter ich werde, desto schwieriger wird mein Verhältnis zum Auto. Weil ich mich zugleich aber frisch in das Fahrrad verliebt habe, bin ich an diesem Wochenende im August mal wieder in der Stadt. Der Anlass: das erste Radrennen meines Lebens. 116 Kilometer Straße in und um Stuttgart, auf denen normalerweise Lastwagen und SUVs den Radfahrer:innen das Fürchten lehren, sind an diesem Tag abgesperrt – nur für uns Radler:innen. Auf diesem Rundkurs will ich heute nicht nur meine ersten Rennerfahrungen sammeln, sondern vielleicht auch Antworten finden.
Die Fragen
Antworten auf Fragen, die mich gerade beim Radfahren umtreiben:
Können Auto und Fahrrad im Autoland Deutschland friedlich koexistieren? Ist das Rad das geniale Werkzeug der Emanzipation, für das ich es halte? Oder hat sich der Kapitalismus auch diese vollkommene Maschine längst einverleibt und zu einem renditestarken Wirtschaftszweig verdaut? Und warum macht mir Radfahren nach so vielen Jahren, die ich es schon tue, plötzlich so viel Spaß?
Dass ich an diesem Tag tatsächlich endgültige Antworten finde, halte ich für so wahrscheinlich, wie dass ich als Erster durchs Ziel rolle. Mit über 3.000 anderen Radwahnsinnigen über die Wege zu brettern, auf denen ich schon als Knirps mit dem Dreirad erste Fahrversuche unternommen habe, begreife ich eher als ein philosophisches Abenteuer, bei dem, na klar, der Weg das Ziel ist. Und um diese Fragen vor sich her zu treiben, ist die Runde, die heute ansteht, nun wirklich prädestiniert.
Denn sie führt nicht nur vorbei an vielen heiligen Produktionshallen der Autoindustrie, sondern in großem Bogen auch einmal um einen alten Gartenschuppen im Kurpark des Stuttgarter Stadtteils Bad Cannstatt herum. Hier baute der Ingenieur Gottlieb Daimler Ende der 1880er-Jahre den ersten kleinen Benzinmotor, setzte ihn auf 4 Räder und erschuf so das erste Automobil.
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily