3 neue Arten von Schule, die wirklich fit für die Zukunft machen
Frustriert vom Bildungssystem sucht ein junger Lehrer nach Alternativen. In diesem Text erklärt er, wie und was unsere Kinder wirklich lernen sollten.
Es ist Montag, die erste Stunde im neuen Schuljahr. Vor mir sitzt eine neue Oberstufenklasse, welche sinnbildlich für einen Großteil deutscher Abiturklassen stehen könnte. Ich habe schon viele von ihnen gesehen.
Wie immer hoffe ich auf junge Menschen voller Optimismus, Neugier und Gestaltungsdrang. Soziale Kompetenzen und Kreativität wären ein Plus. Im Optimalfall wollen sie von sich aus lernen und sehen Zensuren nicht nur als Relikte eines veralteten Bildungssystems.
Doch bis auf sehr wenige Ausnahmen werde ich enttäuscht.
Vor mir sitzen an diesem Montag – wie zu oft – zum Großteil stille Konsument:innen, die darauf warten, mit Informationen gefüttert zu werden, die sie in gute Noten umwandeln können. Wie Maschinen wurden sie von unserem Schulsystem darauf konditioniert,
Ich versuche, nicht allzu enttäuscht zu wirken. Wie sollen diese Jugendlichen denn auch – mit ihren auf Wissensreproduktion trainierten Denkweisen – ihre und unsere Welt von morgen erschaffen? Wann ist das Feuer ihrer Kindheit und Jugend abhandengekommen?
Ab der Grundschule wurden sie an 2er-Tische gezwängt und ihre Lust am Lernen wurde zwischen Noten und Curricula zerquetscht – damit sie miteinander »vergleichbar« sind. Alles strikt nach vorgegebenem Lehrplan aus den Bildungsministerien. Dabei weiß ich als Lehrer genau, was die Heranwachsenden von heute eigentlich bräuchten, um ihre Potenziale entfalten und ihre persönliche, aber auch die gesellschaftliche Welt von morgen gestalten zu können.
Vieles davon können Lehrer:innen auch heute schon umsetzen.
Was Heranwachsende brauchen und was sie bekommen
»Wer sagt eigentlich, auf was Jugendliche sich heute wirklich vorbereiten müssen?« könnte man kritisch fragen. Eine Antwort darauf haben die Vereinten Nationen (UNO) im Jahr 2015 gegeben: Wie schaffen wir es, die Klimakrise zu lösen? Wie kann der Wohlstand besser verteilt werden? Wie können wir Menschen friedlicher zusammenleben und Konflikte gewaltfrei lösen? Diese und viele weitere Fragen beschäftigen uns alle, denn die zukünftigen Generationen werden sie lösen und gestalten müssen. Die Vereinten Nationen haben diese Fragen in ihrer Agenda 2030 in 17 greifbare Ziele gegossen, die sogenannten
Wenn ich als Lehrer diese ambitionierten Ziele der Agenda 2030 mit der Gegenwart der deutschen Bildungslandschaft vergleiche, dann möchte ich nur den Kopf schütteln. Und ich bin damit nicht allein. Der Theaterpädagoge Ken Robinson schlägt in seinem millionenfach aufgerufenen Youtubevideo
Das kann sie auch eigentlich nicht, denn sie wurde für eine andere Zeit konzipiert, nämlich die der Aufklärung und Industrialisierung. Nach Alterskohorten vorsortiert wurden junge Menschen für eintönige Fließbandarbeit fit gemacht. Und auch etliche Reformen und Bildungskrisen später hat sich an der Grundstruktur nichts geändert. Noch heute sitzen Kinder und Jugendliche auf frontal ausgerichteten Stühlen in Altersklassen unterteilt. Dabei weiß die Psychologie längst viel mehr über das Lernen –
Unsere Welt ist längst viel zu komplex für eine Unterteilung in starre Schulfächer. Am besten hat man das am Beispiel der Coronakrise gesehen. Das Wissen aus der Medizin reicht nicht aus, um die Krise zu bewältigen. Wir brauchen außerdem Wissen aus Psychologie, Soziologie, Biologie, Mathematik (Statistik), Geschichte und Politik. Die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft brauchen ganzheitliche, interdisziplinäre Lösungsansätze – und ich bin felsenfest davon überzeugt, dass die Grundlagen dafür schon in der Schule gelegt werden müssen.
Wer die Agenda 2030 ernst nimmt, kann daraus auch ableiten, welche Lernziele in unserer heutigen VUCA-Welt eigentlich nötig wären.
- lernen, besser mit Unsicherheit umzugehen
- eine konstruktiv-liebevolle Haltung zur Welt aufbauen
- sich selbst besser verstehen
- trainieren, mit anderen Beziehungen aufzubauen, zu kollaborieren und gewaltfrei zu kommunizieren
- kritisches vernetztes Denken einüben
- erfahren, dass Probleme vor allem mit Kreativität und Innovation zu lösen sind
Kurzum, sie brauchen Zukunftskompetenzen und einen resilienten inneren Kompass. Natürlich kann man sich an dieser Stelle ein ganz anderes Schulsystem wünschen.
Wie gut, dass engagierte Pädagog:innen längst daran arbeiten, diese Kompetenzen umzusetzen – auch ohne, dass sich die Bildungsministerien bewegen. Ich stelle 3 neue Unterrichtskonzepte vor, an denen alle engagierten Lehrer:innen heute schon partizipieren können.
3 neue Arten von Schule, die wirklich fit für die Zukunft machen
Die Devise für einen Wandel im Schulsystem könnte man in einem Satz zusammenfassen:
Ein Schlüssel zu erfolgreicher Bildung ist aus meiner Erfahrung die intrinsische Motivation, also die »Freude am Lernen und Sich-Entwickeln«. Das haben auch die folgenden 3 Projekte gemeinsam, welche uns als Best-Practice-Modelle zeigen, wie engagierte Kräfte schon heute bessere Schule machen. Ich habe sie nach einer Phase der Bildungsdepression gefunden, also einer Zeit, in welcher ich fast aufgegeben habe, nachdem mir bewusst wurde, wie veraltet das Schulsystem wirklich ist. Nun geben sie mir neue Hoffnung auf modernen Unterricht.
Wir brauchen mehr unverschulten freien Raum, in dem Kinder und Jugendliche Selbstwirksamkeit erfahren und Fehler machen dürfen.
Der »Tu-es-day«: Raum zum Sein und Werden
Die Textorschule in Frankfurt am Main verwandelt den Dienstag in einen besonderen Schultag. Klausuren, Frontalunterricht oder Diktate gibt es an diesem Wochentag nicht. Stattdessen räumt die Schule den Tag frei für Projekte aller Art mit direktem Bezug zu den 17 Nachhaltigkeitszielen der UN.
Casimir, ein Schüler der zweiten Klasse, berichtet von seinen
Tuesday bedeutet eigentlich Dienstag auf Englisch. Aber an unserem ›Tu-es-day‹ tun wir in der Schule was Gutes für die Welt und unsere Zukunft. Zum Beispiel haben wir viel über die Frankfurter Tafel gelernt und viele haltbare Lebensmittel sowie Nudeln, Reis, Dosen und Müsliriegel für die armen Menschen gesammelt. An einem anderen ›Tu-es-day‹ haben wir im Schulgarten einen Komposthaufen angelegt. […] Meine ganze Klasse liebt den ›Tu-es-day‹ und zusammen mit unserer Lehrerin haben wir immer einen Riesenspaß.
Am »Tu-es-day« realisiert die Schule eine andere Form von Unterricht, ohne Lehrbücher und vor allem ohne Prüfungen im Anschluss. Selbstbestimmtheit und Handlungsorientierung stehen im Mittelpunkt. Lehrer:innen treten an dieser Stelle zurück und helfen dabei, außerschulische Expert:innen zur Beantwortung der Fragen zu gewinnen. Vor allem werden viele Ausflüge unternommen und es wird Wert auf Aktivität gelegt.
Der »FREI DAY«: Ein Netzwerk für den Wandel
Die Textorschule in Frankfurt am Main hat sich den »Tu-es-day« nicht ganz selbst ausgedacht. Inspiriert wurde er vom
Die Idee des »Tu-es-day« oder »FREI DAY« sind dieselben. Ein Tag in der Woche soll jahrgangsübergreifend und in heterogenen Gruppen geblockt werden, um Gemeinschaftsprojekte umzusetzen. Und diese können durchaus Ergebnisse über die Schule hinaus haben. So organisierte eine teilnehmende Schule beispielsweise einen Termin bei der Stadtverwaltung, bei dem die Projektgruppe diese überzeugt, ihre Schule auf Ökostrom umzustellen.
Doch als Lehrer weiß ich genau: Für diese regelmäßigen Projekttage müssen auch Stunden freigemacht werden. Wie genau das funktionieren kann, berichtet Johanna Seigerschmidt, die didaktische Leitung der Gesamtschule Pulheim,
Es gibt bei uns immer Doppelstunden. Einige Fächer sind aber von der Stundentafel her ein- oder dreistündig angelegt. Dadurch sind einige Stunden nicht so einfach unterzubringen. Letztendlich geben jetzt alle Fächer über die ganze Schulzeit gesehen Stunden an den ›FREI DAY‹ ab, sodass es
Die einzelnen Fächer lagern also bestimmte
- Herstellung eigener nachhaltiger Kosmetika
- Podcast zum Thema vegane Ernährung und nachhaltiger Konsum
- Beratungsstellen und Anlaufstellen zum Thema Rassismus
- Urban Gardening und Möbel-Upcycling für den Schulhof
- Achtsamkeitsseminare für alle Schüler:innen
»Schulfach Zukunft«: Gestalten lernen
Ein weiteres Beispiel, das freien Raum für die Entwicklung bereitstellt, ist das Schulfach Zukunft. Im Gegensatz zum »FREI DAY« gibt es für das Schulfach Zukunft noch kein breites Netzwerk. Trotzdem setzen es einige Schulen nach eigenen Vorstellungen bereits um. Auch ich gehöre dazu. Über 2 Jahre hinweg unterrichte ich das Fach Zukunft, wobei sich die Schüler:innen mit einer wünschenswerten Zukunft, Zukunftstrends, der Zukunft der Arbeit, mit Visionen, Wahrnehmungsverzerrungen oder Konstruktivem Journalismus auseinandersetzen.
Als wichtiger Initiator der Idee gilt Olaf-Axel Burow. Der Professor für Pädagogik an der Universität Kassel und Autor zahlreicher Fachbücher zu Organisationsentwicklung, Kreativitätsforschung und Pädagogik hat seine
- Sei visionär! Wie und durch welche Konzepte können wir dazu beitragen, dass wir das Potenzial jugendlicher Begeisterung für die Entwicklung persönlich und kollektiv bedeutsamer Visionen freisetzen können? Wie fördern wir Gestaltungslust?
- Sei leidenschaftlich! Wie und durch welche Konzepte können wir Heranwachsende darin unterstützen, ihr persönliches Talent, ihre verborgenen Potenziale bzw. ihre Neigungen zu erkennen, freizusetzen und in geeignete Förder- und Entwicklungsprojekte zu überführen?
- Mach’s einfach! Mach es einfach, dadurch, dass es verstehbar, bedeutsam und handhabbar ist. Und: Überlege nicht zu lange, sondern experimentiere mit dem ersten, vielleicht noch unfertigen Schritt, der möglicherweise scheitern wird!
Eine Möglichkeit, diese Kompetenzen zu entwickeln, ist laut Burow das Prinzip Garage. Die Garage steht sinnbildlich für einen offenen Raum, der viele Werkzeuge, Anregungen, Ideen und ungeordnetes Material enthält, in dem man ohne Druck von außen (zum Beispiel durch Noten) experimentieren und tüfteln kann. Wie diese Schul-Garagen aussehen können, zeigt sich zum Beispiel im
Burows Vision ist ein ganzer Tag, an dem sich die Schüler:innen mit der Gestaltung ihrer Zukunft beschäftigen. Die oben bereits erwähnte Bildungsinnovatorin Margret Rasfeld hat an ihrer ehemaligen Schule, der Evangelischen Schule Berlin Zentrum, einen von Schüler:innen selbst
Das zeigt, dass sich die Initiativen gegenseitig beeinflussen. Auch ich habe mich für meine Schule bei all den hier vorgestellten Prinzipien bedient und bin zuversichtlich, dass dies Schule machen wird. Denn die Projekte zeigen auch: Mit guten Ideen, Mut und einem kleinen bisschen Freiraum kann jede Schule schon heute mit der Veränderung beginnen.
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily