So bekommen Menschen in Krisen genau das, was sie brauchen
Internationale Hilfsorganisationen entscheiden zu häufig von oben herab. Über eine neue Plattform verschaffen sich nun Menschen Gehör, die weltweit auf deren Dienste angewiesen sind – und sagen, was sie wirklich brauchen.
Am 5. Dezember 2021 verdunkelte sich plötzlich der Himmel über Lumajang, einer Region auf der indonesischen Insel Java. Rauchwolken und heiße Asche schossen aus dem Vulkan Semeru. Aus dem Krater trat flüssige Lava. Die Asche vermischte sich mit Regen und ein Meer aus Schlamm begrub Straßen, Häuser und Reisfelder unter sich. Tausende Menschen ergriffen die Flucht – und waren plötzlich auf humanitäre Hilfe angewiesen
Yuyun ist eine der Bewohner:innen Lumajangs und weiß heute nicht mehr,
Daris Rafi Fauzan kennt die Probleme von Menschen wie Yuyun. »Die Menschen sind dankbar für die Hilfe der Regierung. Doch viele von ihnen sind Landwirt:innen, die Ländereien in den Gebieten besitzen, die evakuiert werden mussten. Nun haben sie zwar neue Unterkünfte, jedoch keine Möglichkeit, dort ihren Lebensunterhalt zu verdienen«, erklärt Fauzan.
Damit gezielte Hilfe geleistet werden kann, bewirbt und koordiniert er die Nutzung eines neuen Feedbacksystems in der Region: Loop heißt die Plattform, die denjenigen, die Hilfe empfangen, ermöglicht, ihren Bedürfnissen Ausdruck zu verleihen.
Gemeinsam mit Freiwilligen aus der Region läuft Daris Rafi Fauzan von Tür zu Tür und bittet die Anwohner:innen darum, Loop zu nutzen, um humanitären Organisationen ihre Situation zu schildern und Hilfsleistungen zu beantragen. Per Whatsapp, Facebook Messenger, E-Mail, SMS oder Webbrowser können Einzelpersonen in der App Text- oder Sprachnachrichten versenden. Zudem können sie auswählen, wer die Nachrichten empfangen soll: Regierungsbehörden, zivilgesellschaftliche Organisationen oder internationale Nichtregierungsorganisationen.
So wendet sich
Nach dem Versand würden alle Nachrichten maschinell übersetzt und von Moderator:innen aus Indonesien in Echtzeit überprüft, erklärt Daris Rafi Fauzan. Anschließend werde das Feedback für eine Datenanalyse gekennzeichnet und an das Sozialamt weitergeleitet. Daraufhin würden die Nachrichten auf der Loop-Plattform veröffentlicht, wo
Daris Rafi Fauzan hofft, dass die Betroffenen des Vulkanausbruchs die Leistungen erhielten, die sie bräuchten, wenn sie Loop mehr nutzten.
Die Kluft zwischen dem, was Menschen brauchen, und dem, was bei ihnen ankommt, ist oft groß
31,3 Milliarden US-Dollar wurden im Jahr 2021 für humanitäre Hilfe weltweit ausgegeben. Rund 106 von 255 Millionen Menschen, die 2021 weltweit in Krisengebieten lebten, wurden damit
Doch kann der Erfolg dieser Maßnahmen an solchen Zahlen gemessen werden? Kommt es nicht viel mehr darauf an, ob Menschen die Unterstützung bekommen,
Die Kluft zwischen dem, was die Menschen brauchen, und dem, was bei ihnen ankommt, ist oft groß – nicht nur in Lumajang. Nach einem Erdbeben in Zentralsulawesi im Jahr 2018 gab fast die Hälfte der vertriebenen Familien an, dass sie am dringendsten eine neue Unterkunft benötigten.
In Bangladesch verkaufen Menschen Hilfsgüter auf dem Markt – weil sie andere Dinge dringender benötigen.
In
Diese Beispiele sind keine Einzelfälle. So geben in einer kürzlich veröffentlichten
Weitere Umfragen erzielen ähnliche Ergebnisse: Mehr als die Hälfte der knapp 11.000 Menschen, die das Recherchenetzwerk
Daran will Alex Ross etwas ändern. Sie ist die Gründerin der Plattform Loop, die Daris Rafi Fauzan unter den vom Vulkanausbruch betroffenen Menschen bewirbt.
»Hilfsorganisationen entscheiden oft von oben herab«
Eine Ursache dafür, dass Menschen nicht immer die Hilfe erhielten, die sie bräuchten, sei
Sie kritisiert, dass Organisationen oft von oben herab entschieden, welche Dienstleistungen von Krisen betroffene Menschen erhielten – statt ihnen erst mal zuzuhören.
Wohltätigkeitsorganisationen behandeln Menschen, die ihre humanitären Dienste in Anspruch nehmen, oft als Nutznießer:innen und nicht als Akteur:innen des Wandels.
Ist vor Alex Ross niemand auf die Idee gekommen, Hilfsmaßnahmen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen? Das stimmt so natürlich nicht: Viele Organisationen führen regelmäßig Umfragen und Bedarfsanalysen durch. Doch diese sind oft so gestaltet, dass sie Menschen nicht wirksam einbeziehen. Ein Beispiel: Oft werden für die Umfragen Technologien verwendet, die bei denjenigen, die sie nutzen sollen, nicht sehr beliebt sind.
So berichten Menschen, die 2013 vom Tayfun Haiyan auf den Philippinen betroffen waren, dass sie humanitären Helfer:innen ihre Anliegen gern persönlich mitgeteilt hätten, Feedback aber nur per SMS entgegengenommen worden sei.
Dazu kommt, dass sich viele Betroffene nicht trauen, Feedback zu geben –
Darüber hinaus überwachen Hilfsorganisationen ihr erhaltenes Feedback selbst: Sie allein vermitteln und kontrollieren die gesammelten Nachrichten. Daher gibt es nur wenige Belege dafür, ob und wie sie diese Informationen tatsächlich nutzen, um ihr Angebot zu verbessern.
Umfragen bestätigen, dass etwas im Argen liegt: Nachdem sie 2021 von einem Erdbeben überrascht und zur erhaltenen Hilfe interviewt wurden, berichteten 98% von rund 1.200 Haitianer:innen, dass sie Hilfsorganisationen nicht in Entscheidungsprozesse einbezogen hätten. Darüber hinaus erhielten sie keine Informationen darüber, wie Entscheidungen getroffen und Hilfsmittel verteilt würden. Viele empfanden es als ermüdend,
Eine Konsequenz: Abhängigkeiten werden verschärft
Das leere Versprechen des »Grand Bargain«?
Langsam setzt sich auch auf höchster Ebene die Erkenntnis durch, dass die blinden Flecke der internationalen humanitären Hilfe problematisch sind.
Das humanitäre System ist darauf ausgerichtet, Menschen in Not das zu geben, was internationale Organisationen und Geber:innen für das Beste halten und was wir anbieten können, anstatt den Menschen das zu geben, was sie selbst am dringendsten brauchen.
Bemühungen, um die Rechenschaftspflichten gegenüber betroffenen Menschen zu erhöhen, sind auf dem Weg. So vereinbarten die größten Geberländer und Hilfsorganisationen im Jahr 2016 den
»Es gab weltweit eine Vielzahl von Zusagen, der betroffenen Bevölkerung gegenüber Rechenschaft abzulegen. Wir machen positive Fortschritte, doch tun noch nicht genug, um das Ruder herumzureißen.« – Alex Ross, Loop-Gründerin
Um dieses Versprechen zu verwirklichen, investieren humanitäre Organisationen in ein breites Spektrum von Initiativen. Fortschritte blieben jedoch fragmentiert und
Die »Grand Bargain«-Initiativen mögen zwar die Kommunikation mit Menschen in Krisengebieten professionalisieren – aber verleihen sie den Betroffenen auch mehr Entscheidungsgewalt?
Expert:innen, insbesondere aus Ländern, die regelmäßig humanitäre Hilfe erhalten,
Doch inzwischen verlangen viele eine grundlegende Umstrukturierung des Sektors: So wird zum Beispiel gefordert, humanitäre Arbeit und Gelder nicht länger als »Hilfe«, sondern als überfällige Kompensationen
So erfindet Loop die Rechenschaftspflicht neu
Mit einem digitalen Feedbacksystem soll Loop nun dazu beitragen, dass von Krisen Betroffene und lokale Organisationen mehr Entscheidungsmacht erhalten. Zurzeit agiert die Onlineplattform in
Loop ist so designt, dass sich Nutzer:innen möglichst selbstbestimmt beteiligen können: Der Zugang zur Plattform ist kostenlos, ein Internet- oder Telefonanschluss wird jedoch benötigt. Jede Person kann selbst entscheiden, über welchen Kanal sie sich mitteilen möchte. Auch die Sprache, in der sie kommunizieren wollen, können Nutzer:innen selbst auswählen: Dank maschineller Übersetzung unterstützt Loop derzeit 15 Sprachen. Nachrichten können
Angestellt sind die Moderator:innen bei lokalen, zivilgesellschaftlichen Organisationen, die als
Der große Vorteil: Loop-Nutzer:innen müssen nun nicht länger auf eine Einladung zum Feedbackgeben warten. Sie können erreichen, wen sie möchten, und sich über das äußern, was ihnen auf dem Herzen liegt. So ist Loop nicht nur dafür vorbehalten, humanitäre Hilfe zu beantragen. Menschen nutzen es auch dafür, Danke zu sagen, sich über Entwicklungsprogramme zu informieren – oder, wie in Sambia, die Polizei zu rufen.
Polizeiruf Loop!
In Sambia verzeichne Loop bereits erste Erfolge, verkündet Proscardness Mwiinga. Sie ist Gemeinderatsmitglied der Stadt Kapiri Mposhi in der Region Lukanga und nutzt die digitale Plattform dafür, Menschen aus ländlichen Gebieten mehr Sicherheitsschutz zu gewährleisten.
Wenn ein Verbrechen geschieht, müssen Menschen vom Land in der Regel 65 oder 70 Kilometer fahren, um die Polizei zu erreichen. Doch seit wir mit Loop arbeiten, können sie in Echtzeit eine Nachricht versenden und die Polizei ist schneller am Ort des Geschehens.
In der Zukunft möchte Proscardness Mwiinga die Plattform auch für Bildungszwecke nutzen. Insbesondere junge Menschen aus ländlichen Gebieten könnten von Loop profitieren, wenn sie darüber Informationen und Wissen anforderten.
Auch außerhalb Sambias nimmt die Nutzung von Loop langsam Fahrt auf. Als Taifun Rai Ende 2021 die Philippinen erreichte, nutzten Menschen die Plattform, um Evakuierungen zu planen. Sie kommunizierten per Loop Standorte, wo Menschen auf Dächern oder Hügeln feststeckten. Die lokalen Moderator:innen schickten diese Nachrichten dann an Regierungsbehörden, die mit Hubschraubern und Booten reagierten.
In einem anderen Fall kommunizierten Menschen per Loop, dass die ihnen zugewiesenen Notunterkünfte nicht an das Stromnetz angeschlossen waren und sie daher im Dunkeln lebten. Eine philippinische Nichtregierungsorganisation nutzte dieses Feedback, um erfolgreich finanzielle Mittel für Solarleuchten zu beantragen. Aufgrund von Erfolgen wie diesen hat die philippinische Regierung Loop nun sogar in ihre gesetzlichen Bestimmungen für COVID-Notfallmaßnahmen aufgenommen.
Das Ende des Wohltätigkeitsmodells?
»Diese Beispiele sind relativ klein im Vergleich zu dem Potenzial, das Loop noch hat«, sagt Alex Ross. Gemeinsam mit ihrem Team – bestehend aus 2 Sachbearbeiter:innen, mehreren Kontraktor:innen, einem Verwaltungsrat sowie einem Beirat – arbeitet die Gründerin daran, noch mehr Menschen und Organisationen zu erreichen. Eine Herausforderung ist die Finanzierung: Bisher wird Loop durch philanthropische Einrichtungen, unter anderem
Darüber hinaus gilt es, Vertrauen und Wissen unter potenziellen Nutzer:innen aufzubauen. »Einige Organisationen haben Angst davor, Feedback gemeinschaftlich und öffentlich zu verwalten. Denn sie sind dann nicht mehr in der Lage, selbst über Daten zu verfügen und zu entscheiden, wer was sieht«, erklärt Alex Ross.
Bis Loop weitflächig für mehr Rechenschaft sorgen kann, wird es also noch ein bisschen dauern. Angesichts der Größe des Problems sei Loop zudem »kein goldenes Ticket, sondern eine von vielen Lösungen, die notwendig sind, um die Macht dorthin zu verschieben, wo sie hingehört«, so Alex Ross.
»Um den Wandel zu schaffen, von dem alle reden, muss jede:r Verantwortung übernehmen.« – Alex Ross, Loop-Gründerin
Und was hat sich in Lumajang getan, seit Yuyun, Ngatiman und Ponidi mit Loop-Nachrichten ihren Bedarf angemeldet haben? Rund 4 Wochen später berichtet Daris Rafi Fauzan, dass einige Menschen in der Region weitere Hilfeleistungen erhalten hätten.
So kann es die Regierung Landwirt:innen zwar nicht ermöglichen, auf deren ehemalige Höfe zurückzukehren. »Die Chance, dass sie dort erneut von einem Vulkanausbruch getroffen werden, ist zu groß«, so Fauzan. Stattdessen stellt die Administration aber neuen Viehbestand zur Verfügung und bietet Fortbildungen für diejenigen an, die die Landwirtschaft aufgeben und ihr eigenes Handelsunternehmen gründen wollen.
Redaktionelle Bearbeitung: Katharina Wiegmann
Mit Illustrationen von Claudia Wieczorek für Perspective Daily