Richtig versichert?
Die Deutschen sind überversichert. Dabei reichen 2 1/2 Fragen oft schon aus, um zigtausend Euro zu sparen. (Artikel aus dem Jahr 2017)
Wer früher arm und schwer krank war, starb. Heute sind hierzulande auch die Ärmsten
Die Kehrseite der Medaille: Versicherungen – ob gegen Krankheit, Glasbruch oder den
Den meisten ist klar: Wer eine Versicherung abschließt, zahlt statistisch gesehen im Durchschnitt
Dieser Text ist nichts für jene, für die der Abschluss einer Versicherung eine emotionale Entscheidung ist und bleiben soll. Das ist in Ordnung. It’s a free world. Für alle, die einen ökonomisch motivierten Entscheidungsfindungsprozess bevorzugen, ist die Sache eigentlich gar nicht so schwer.
In 2 1/2 Fragen zur wirklich passenden Versicherung
1/2. Bin ich gesetzlich dazu verpflichtet, die Versicherung abzuschließen?
Zum Aufwärmen:
1 1/2. Sichert mich die Versicherung gegen existenzielle wirtschaftliche Risiken ab?
Mit anderen Worten: Droht ein wirtschaftlicher Schaden, von dem eine Erholung kaum oder nur sehr schwer möglich ist, zum Beispiel Konkurs?
»Sagen Sie Ihren Sorgen zweifach tschüss« – Gothaer
Falls die Antwort ja ist: abschließen. Das gilt auf jeden Fall für die
Je nach individuellem Lebenszuschnitt gibt es einige andere Versicherungen, die regelmäßig ratsam sind, um existenzielle (finanzielle) Risiken abzusichern. Die Klassiker:
- Wer mit seinem Gehalt eine Familie ernährt,
- Hauseigentümer werden sich meistens für eine Brandschutzversicherung entscheiden, erst recht beim privaten Eigenheim. Diese Versicherung schützt neben der Bausubstanz alles, was fest mit dem Gebäude verbunden ist, zum Beispiel die Badewanne oder den Teppichboden.
- Wer außerdem die Inneneinrichtung seiner Wohnung gegen Feuer, Wasser oder Diebstahl versichern möchte, entscheidet sich für eine Hausratversicherung. Für jene, die sehr viel zu verlieren haben, empfehlenswert. Für den studentischen Haushalt meist
Berufsunfähigkeit, Feuer oder Diebstahl sind klassische Risiken des Alltags. Steht im Schadensfall »(fast) alles« auf dem Spiel, hilft eine Versicherung.
Für fortgeschrittene Statistiker und Lesefaule war es das schon fast. Mehr Versicherungen braucht man eigentlich nicht. Glasbruch, Reiserücktritt, Vollkasko, Handy, Zahnzusatz, Rechtsschutz – unter dem Strich aus ökonomischer Sicht alles Mist. Es sei denn, die Antwort auf die folgende Frage lautet »Ja«:
2 1/2. Ist mein Leben besonders »riskant«?
»Da bin ich mir sicher« – HUK Coburg
Du verklagst alles, was nicht bei 3 auf den Bäumen ist? Dann freut sich dein Anwalt über eine Rechtschutzversicherung. Du findest Zähneputzen so was von 20. Jahrhundert? Eine Zahnzusatzversicherung kann nicht schaden.
Wer von sich weiß, dass er (mit Hinblick auf ein bestimmtes Risiko) besonders riskant lebt, für den kann eine Versicherung statistisch auch dann sinnvoll sein, wenn sie gegen nicht existenzielle Risiken absichert. Aber was bedeutet »statistisch sinnvoll«? Das genaue Verständnis mag individuell variieren. Sinnvoll ist eine Versicherung aber jedenfalls dann, wenn du davon ausgehen kannst, wahrscheinlich mehr Geld von der Versicherung zu bekommen, als du einzahlst. Wer weiß, dass er in den nächsten Jahren (wahrscheinlich) Tausende Euro an seinen Kieferorthopäden wird zahlen müssen, für den empfiehlt sich also eine Zahnzusatzversicherung.
Ein solches Vorgehen passt allerdings nicht so recht zum Geschäftsmodell der Versicherungen: Grundidee ist ja, dass viele Menschen möglichst gleichberechtigt Risiken absichern. Wem es also gelingt, ein hohes Risiko zu einem durchschnittlichen Tarif zu versichern, der tut dies zulasten aller anderen Versicherten, für die die Prämien steigen. Das wiederum führt zu einem Wettbewerbsnachteil für den Versicherer.
Dieses Problem ist natürlich auch Allianz und Co. bestens bekannt. Und so haben sie verschiedene Werkzeuge, um (aus ihrer Sicht) wirtschaftlich unattraktive Kundenbeziehungen zu vermeiden:
- Risiko einstufen (zum Beispiel Staffelung der Tarife nach Risikostufen): In deinem Stadtteil wird besonders häufig eingebrochen? Dein Haus steht auf der falschen Seite des Deichs? Versicherer sind Statistiker und rechnen in
- Risiko untersuchen (Beispiel: ärztliche Voruntersuchung): Ein 52-jähriger Familienvater, Raucher und Sportverächter, möchte seine Familie für den Fall absichern, dass er in den nächsten 13 Jahren stirbt. Vor 10 Jahren wurde bei ihm Speiseröhrenkrebs im Frühstadium diagnostiziert und erfolgreich behandelt. In diesen und ähnlichen Fällen wird die Versicherung ein Gutachten einholen, um das tatsächliche Risiko möglichst genau einschätzen zu können. Für den Familienvater dürfte der Tarif teuer werden.
- Risiken abfragen (meist per Formular): Ist eine Untersuchung zu teuer oder nicht möglich, fragen Versicherungen bestimmte Risiken ab: »Sind Sie Raucher?«, »Wurden Sie schon mal wegen Drogenproblemen behandelt?« Wer auf solche Fragen wahrheitswidrig antwortet, droht, doppelt zu verlieren: Er zahlt die Versicherungsprämien, erhält aber wegen der Täuschung womöglich im Schadensfall
- Risiko ausschließen (also die Zahlung unter Bedingungen stellen): Wer in Dresden beim Autovermieter seines Vertrauens einen
Wem es trotz dieser Maßnahmen der Versicherer gelingt, ein hohes Risiko zum Normaltarif zu versichern, der hat sich zumindest aus wirtschaftlicher Sicht richtig entschieden. Solche Fälle dürften allerdings eher die Ausnahme sein.
Alle anderen Versicherungen sind wirtschaftlich fast nie sinnvoll. Trotzdem werfen gerade die Deutschen Zeit und Geld aus dem Fenster, indem sie ihr Reisegepäck oder ihre Fensterscheiben versichern. Warum?
Vielleicht helfen 2 fiktive Personen, das Risikobewusstsein zu schärfen: der ängstliche Angus und die Risikooptimiererin Tina.
Mit Sicherheit draufzahlen
»Für uns ist Ihr Leben keine Statistik. Es ist einzigartig« – AXA
Angus und Tina sind identisch – bis auf ihr Geschlecht und ihre Einstellung zu Risiken. Angus geht stets »auf Nummer sicher« – meint er zumindest. Sein Auto ist vollkaskoversichert, auf seiner jährlichen Reise versichert er sein Gepäck, sich selbst versichert er für den Fall eines Reiserücktritts. Laptop, Handy, die neuen Kopfhörer: Damit er sich nicht ärgert, wenn etwas kaputt geht oder gestohlen wird, hat er pünktlich zu seinem 18. Geburtstag jeweils eine eigene Versicherung abgeschlossen. Zahnzusatz-, Unfall- und Rechtsschutzversicherung gehören für ihn seitdem ebenfalls zum guten Ton. Jedes Jahr zahlt Angus etwa 1.600 Euro für diese
Tinas Leben ist völlig identisch – mit der Ausnahme, dass sie all diese Versicherung nicht abgeschlossen hat. Stattdessen überweist sie jeden Monat 133 Euro auf ein separates Konto, seit sie 18 ist. Macht jährlich ebenfalls 1.600 Euro. Durchschnittlich 2% Zinsen erhält sie dort ein Leben
Was Tina und Angus nicht wissen: Beide werden tragischerweise zeitgleich an ihrem 85. Geburtstag sterben. Interessant ist die Ökonomie ihres fast identischen Lebens. Und zwar in 3 (vereinfachten) Varianten:
- Variante »Glückspilz«: Beiden passiert nichts. Kein Autounfall, die Zähne stets gesund, kein Rechtsstreit. Die Bilanz: Angus hat etwa 107.000 Euro für Versicherungsprämien ausgegeben. Tina hat die gleiche Summe auf ihr Sparkonto »investiert« und dank 2% (Zinses-)Zinsen nach 67 Jahren Laufzeit insgesamt 223.000 Euro angespart.
Ergebnis: Tina hat 223.000 Euro mehr als Angus zu vererben. - Variante »Normalo«: Angus und Tina führen durchschnittlich viele rechtliche Auseinandersetzungen, verursachen eine durchschnittliche Anzahl an Autounfällen, ihr Reisegepäck geht durchschnittlich oft verloren und so weiter. Da der durchschnittliche Versicherungsnehmer draufzahlt, gilt dies auch für Angus.
Wie viel er verliert, hängt von der sogenannten »Schadenquote« ab. Liegt die zum Beispiel bei 90%, bedeutet dies, dass 90% der Versicherungsprämien als Leistungen zurück an die Versicherten
Legen wir im Fall von Angus und Tina eine vereinfachte Schadenquote von 75%
Tina hat ebenfalls Schäden in Höhe von insgesamt 80.000 Euro, die sie von ihrem Sparkonto aus eigener Tasche beglichen hat. Zu den 27.000 Euro, die an ihrem Lebensende noch auf ihrem Konto sind, kommen Gewinne durch Zinsen. Die Höhe der Zinsgewinne hängt vom Zeitpunkt der Schäden ab. Gehen wir vereinfacht davon aus, dass sich auch ihr Zinsgewinn um 75% reduziert hat, kommen etwa 30.000 Euro hinzu.
Ergebnis: Tina steht (vor Steuern) mit knapp 60.000 Euro mehr da als Angus. - Variante »Pech gehabt«: Angus und Tina sind lebenslang vom Pech verfolgt. Egal ob es um Leistungen vom Kieferorthopäden, krankheitsbedingten Reiserücktritt oder Autounfälle geht: Die beiden erwischt es in jeder Hinsicht 2-mal so oft wie den Durchschnittsbürger.
Für Angus bedeutet das, dass sich seine vielen Versicherungen gelohnt haben: Statt der ca. 80.000 im Szenario »Normalo« erhält er von seinen Versicherungen rund 160.000 Euro.
Und Tina? Hat ihre angesparten 107.000 Euro komplett ausgeben müssen und – falls sie keine Zinsgewinne hat – sogar noch 53.000 Euro draufgezahlt, also fast 800 Euro pro Jahr.
Ergebnis:
Unter Risikogesichtspunkten hat sich Tina richtig entschieden. Denn als Angus und sie 18 waren, konnten sie noch nicht wissen, wie ihr Leben verlaufen würde. Deswegen hat Tina der Statistik vertraut – während sich Angus von seiner Angst hat leiten lassen.
Gelungenes Risikomanagement bedeutet nicht, möglichst viele Risiken zu vermeiden. Es geht vielmehr darum, sachgerecht auszuwählen, welche Risiken jeder Einzelne eingehen sollte. Da unsere Intuition da ein denkbar schlechter Indikator ist, hilft Wahrscheinlichkeitsrechnung.
Warum Tinas Vertrauen auf Statistik richtig ist, belegt ein Gedankenspiel: Stellen wir uns vor, dass es nur diese 3 Varianten gibt, wie ein Leben verläuft. Die Wahrscheinlichkeit, dass man ein »Normalo«-Leben führt, beträgt dabei 50%, die Varianten »Glückspilz« und »Pech gehabt« sind mit jeweils 25% halb so wahrscheinlich.
Im Durchschnitt führt dann die Strategie von Angus dazu, dass er im Leben rund 27.000 Euro draufzahlt. Tina hingegen verdient mit ihrer Strategie im Schnitt stattliche
Wer es ganz genau wissen will (zum Beispiel als Versicherungsmathematiker), wird sich mit dieser Rechnung nicht zufriedengeben. Um einschätzen zu können, ob sich eine Versicherung wirklich nicht rentiert, müssen wir die jeweilige Schadenquote berücksichtigen. Auf ihre Zinsgewinne muss Tina außerdem – bei einem jährlichen Freibetrag von etwa 800 Euro – 25% Kapitalertragsteuer zahlen. Außerdem sind die Varianten »Glückspilz« und »Pech gehabt«
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Dennoch illustriert das Gedankenspiel unsere Schwäche bei der Risikoabwägung: Wir sind zu unverhältnismäßig hohen Investitionen bereit, um unser Hab und Gut zu
Wer sich prinzipiell dazu entscheidet, nur wirtschaftlich existenzielle Risiken abzusichern und die übrigen Beträge stattdessen auf ein separates Konto zu überweisen, der …
- … wird sehr wahrscheinlich besser wirtschaften – auf das gesamte Leben betrachtet. Das gilt umso mehr, wenn er sich gegen Versicherungen mit niedriger Schadenquote entscheidet (die jeder beim Abschluss einer Versicherung unbedingt erfragen sollte).
- … wird sich manchmal furchtbar ärgern. Kaffee über den Laptop gekippt? Ärgerlich – den Schaden zahlt keine Versicherung. Im besten Fall lehren solche Erfahrungen einen vorsichtigeren Umgang mit dem eigenen Hab und Gut.
- … spart Zeit und Nerven. Und zwar auf das Leben betrachtet nicht zu knapp. Weniger Post und Buchhaltung, weniger Stress durch die Frage »Habe ich wirklich den besten Versicherer?«. Vor allem aber spart »Modell Tina« viel Zeit und Ärger, wenn es tatsächlich zum Schaden kommt und die anstrengende Korrespondenz mit der Versicherung beginnt. Der Aufwand reicht von »langes, unverständliches Formular ausfüllen« über Gutachterverfahren bis hin zum Gerichtsprozess durch mehrere
Aus der Sicht von Tina gibt es damit an ihrem Modell eigentlich nur 2 Nachteile:
- Ein potenzielles Liquiditätsproblem: Vielleicht treten große Schäden auf, bevor Tina genug angespart hat. Dafür gibt es zum einen gleich 2 Lösungen. Entweder Tina und ein paar gute Freunde eröffnen ein gemeinsames Konto und gründen eine private Versicherungsgemeinschaft. So streuen sie ihr Risiko untereinander, ohne für Verwaltungskosten und Gewinnmarge einer Versicherung draufzahlen zu
- Das Pechvogel-Szenario: Mit etwas Pech zahlt Tina drauf. Davor fürchten sich viele und schließen lieber lauter Versicherungen ab. Doch in Wirklichkeit ist dies gar kein Nachteil gegenüber dem Modell Angus: Denn Angus zahlt – im Vergleich zu Tina – mit hoher Wahrscheinlichkeit drauf. Und für die wirklich großen Risiken hat sich Tina ja abgesichert.
In unserem eigenen finanziellen Interesse sollten wir also alle ein bisschen mehr Tina werden. Ein guter Anlass, endlich meine überflüssige Zahnzusatzversicherung zu kündigen.
Nicht alle werden die Argumentation in diesem Artikel überzeugend finden. Zu groß der Schmerz für manch einen, wenn etwas plötzlich ersatzlos einfach weg ist. »Ich erinnere mich noch genau daran, wie 1997 mein Gepäck gestohlen wurde – zum Glück war ich damals versichert!«
»Das Leben passiert. Wir versichern es« – Provinzial
Für 2 Gruppen ist es gut, wenn möglichst viele eine Versicherung abschließen, obwohl sie sie nicht brauchen: Die Versicherer, denn die Kehrseite eines wirtschaftlich sinnlosen Versicherungsvertrages ist aus der Sicht des Vertragspartners ein Schnäppchen mit hoher Marge. Und alle anderen Versicherten profitieren: Je mehr Leute sich zu unattraktiven Konditionen versichern, desto mehr Spielraum haben die Versicherer, um im harten Ringen um Marktanteile günstigere Konditionen anzubieten.
Wer also mit dem Ratschlag aus diesem Artikel nichts anfangen kann, darf immerhin das gute Gefühl für sich reklamieren, etwas für die Gemeinschaft getan zu haben.
Mit Illustrationen von Claudia Wieczorek für Perspective Daily