Abgelenkt: Wie uns die Konzentration abhandenkam und wie wir sie zurückgewinnen
Die Menschheit liest heute im Schnitt deutlich weniger als noch vor einigen Jahrzehnten. Ein Symptom für unsere verkümmerte Aufmerksamkeit?
Im West End von Provincetown gibt es eine wunderbare Buchhandlung namens Tim’s Used Books. Wenn man den Laden betritt, atmet man sofort den würzigen Geruch ein, der entsteht, wenn sich überall alte Bücher stapeln. In diesem Sommer ging ich fast jeden zweiten Tag dorthin, um mir ein neues Buch zum Lesen zu kaufen. An der Kasse arbeitete eine junge Frau, die sehr intelligent war und mit der ich mich gerne unterhielt. Mir fiel auf, dass sie jedes Mal, wenn ich reinkam, ein anderes Buch las – an einem Tag Vladimir Nabokov, an einem anderen Joseph Conrad, an einem anderen Shirley Jackson. »Wow«, sagte ich, »Sie lesen schnell.« »Oh«, erwiderte sie, »das tue ich nicht. Ich kann nur das erste oder zweite Kapitel eines Buchs lesen.« Ich fragte: »Wirklich? Und warum?« Sie antwortete: »Ich glaube, ich kann mich nicht konzentrieren.« Hier stand eine intelligente junge Frau mit viel Zeit, umgeben von vielen der besten Bücher, die je geschrieben wurden, und mit dem Wunsch, sie zu lesen, aber sie schaffte nur das erste oder zweite Kapitel, und dann erlahmte ihre Aufmerksamkeit, wie bei einem versagenden Motor.
Ich habe aufgehört zu zählen, wie viele Menschen, die ich kenne, mir das gesagt haben. Bei unserer ersten Begegnung erzählte mir David Ulin, der mehr als 30 Jahre lang Buchkritiker und Redakteur bei der Los Angeles Times war, dass er nicht mehr in der Lage war, über längere Zeiträume hinweg gründlich zu lesen, denn immer, wenn er versuchte, sich zu entspannen, wurde er von der Hektik der Online-Konversation zurückgerissen. David ist ein unglaublich intelligenter Mann, dessen ganzes Leben aus Büchern bestand. Das war beunruhigend.
Der Anteil der Amerikaner, die zum Vergnügen Bücher lesen, ist auf dem niedrigsten Stand, der je verzeichnet wurde. Die American Time Use Survey, die eine repräsentative Stichprobe von 26.000 Amerikanern untersucht, fand heraus, dass der Anteil der Männer, die zum Vergnügen lesen, zwischen 2004 und 2017 um 40 Prozent gesunken ist, während er bei den Frauen um 29 Prozent zurückging. Das Meinungsforschungsinstitut Gallup stellte fest, dass sich der Anteil der Amerikaner, die in einem Jahr gar kein Buch gelesen haben, zwischen 1978 und 2014 verdreifacht hat. Heute lesen 57 Prozent der Amerikaner in einem normalen Jahr kein einziges Buch. Die Situation hat sich so zugespitzt, dass der Durchschnittsamerikaner 2017 täglich 17 Minuten mit dem Lesen von Büchern und 5,4 Stunden mit Telefonieren verbrachte. Darunter leidet vor allem die eher komplexe Belletristik. Zum ersten Mal in der modernen Geschichte lesen weniger als die Hälfte der Amerikaner Literatur zum Vergnügen. Es ist weniger gut untersucht, aber in Großbritannien und anderen Ländern scheint es ähnliche Trends zu geben: Zwischen 2008 und 2016 ist der Markt für Romane um 40 Prozent zurückgegangen. In einem einzigen Jahr, nämlich 2011, brach der Verkauf von Taschenbüchern um 26 Prozent ein.
Mihaly Csikszentmihalyi hatte in seinen Forschungen herausgefunden, dass eine der einfachsten und häufigsten Formen des Flows, die Menschen in ihrem Leben erleben, das Lesen eines Buchs ist – und dass sie, wie andere Formen des Flows, in unserer Kultur der ständigen Ablenkung untergeht. Ich habe viel darüber nachgedacht. Für viele von uns ist das Lesen eines Buchs die tiefste Form der Konzentration, die wir erleben – man widmet viele Stunden seines Lebens in aller Ruhe einem Thema und lässt es in seinem Geist reifen. Dies ist das Medium, über das die meisten der größten Fortschritte im menschlichen Denken der letzten 400 Jahre herausgefunden und erklärt wurden. Und diese Erfahrung befindet sich jetzt im freien Fall.
In Provincetown stellte ich fest, dass ich nicht nur mehr las – ich las anders. Ich tauchte viel tiefer in die Bücher ein, die ich ausgewählt hatte. Ich verlor mich über lange Strecken in ihnen, manchmal ganze Tage, und ich hatte das Gefühl, dass ich mehr von dem, was ich las, verstand und mich daran erinnerte. Es kam mir so vor, als hätte ich in diesem Liegestuhl am Meer ein Buch nach dem anderen gelesen und wäre weiter gereist als in den fünf Jahren zuvor, in denen ich hektisch durch die Welt gependelt war: Ich kämpfte auf den Schlachtfeldern der napoleonischen Kriege, war eine versklavte Person im tiefen Süden und eine israelische Mutter, die versucht zu verhindern, dass sie die Nachricht vom Tod ihres Sohnes erhält. Als ich darüber nachdachte, musste ich wieder an ein Buch denken, das ich zehn Jahre zuvor gelesen hatte: Wer bin ich, wenn ich online bin … und was macht mein Gehirn solange? von Nicholas Carr – ein bahnbrechendes Werk, das die Menschen auf einen entscheidenden Aspekt der wachsenden Aufmerksamkeitskrise aufmerksam machte. Er warnte davor, dass sich die Art und Weise, wie wir lesen, zu ändern scheint, da wir ins Internet abwandern – also wandte ich mich an eine der wichtigsten Expertinnen, auf die er sich stützte, um zu sehen, welche Erkenntnisse sie seitdem hinzugewonnen hatte.
Anne Mangen ist Professorin für Lesekompetenz an der Universität Stavanger in Norwegen, und sie erklärte mir, dass sie in zwei Jahrzehnten der Forschung zu diesem Thema etwas Entscheidendes herausgefunden hat. Durch das Lesen von Büchern werden wir darauf trainiert, auf eine bestimmte Art und Weise zu lesen – linear und über einen längeren Zeitraum hinweg auf eine Sache konzentriert. Beim Lesen an Bildschirmen, so hat sie herausgefunden, werden wir darauf trainiert, auf eine andere Art und Weise zu lesen – in einem manischen Springen von einer Sache zur nächsten. Ihre Studien haben ergeben, dass wir beim Lesen am Bildschirm »eher dazu neigen, zu scannen und zu überfliegen« – wir lassen unsere Augen schnell über die Informationen gleiten, um das herauszufiltern, was wir brauchen. Aber nach einer Weile, wenn wir dies lange genug tun, erklärte sie, »nimmt dieses Scannen und Überfliegen überhand. Es fängt auch an, die Art und Weise, wie wir auf Papier lesen, zu verändern oder zu beeinflussen … Dieses Verhalten wird mehr oder weniger zu unserem Standardverhalten.« Genau das war mir aufgefallen, als ich versuchte, mich in Dickens einzuarbeiten, als ich in Provincetown ankam und mich dabei ertappte, wie ich ihm gedanklich vorauseilte, als ob es sich um einen Zeitungsartikel handelte und ich versuchte, auf die wichtigsten Fakten zu drängen.
Dadurch entsteht ein anderes Verhältnis zum Lesen. Es ist nicht mehr eine Form des genussvollen Eintauchens in eine andere Welt, sondern eher so, als würde man durch einen belebten Supermarkt hetzen, um das Nötigste zu holen und dann wieder zu verschwinden. Wenn dieser Umschwung eintritt, wenn unser Lesen am Bildschirm unser Lesen von Büchern beeinträchtigt, verlieren wir einen Teil des Vergnügens am Lesen von Büchern selbst, und sie werden weniger attraktiv.
Das hat weitere Auswirkungen. Anne hat Studien durchgeführt, bei denen Menschen in zwei Gruppen aufgeteilt wurden, von denen die eine Informationen in einem gedruckten Buch und die andere die gleichen Informationen auf einem Bildschirm erhielt. Anschließend wurde jeder Gruppe eine Frage zum Gelesenen gestellt. Dabei stellte sich heraus, dass die Menschen weniger von dem verstehen und behalten, was sie am Bildschirm aufgenommen haben. Dafür gibt es inzwischen breite wissenschaftliche Belege, die aus 54 Studien stammen, und sie erklärte, dass dies als »Bildschirmunterlegenheit« bezeichnet wird. Diese Kluft im Verständnis zwischen Büchern und Bildschirmen ist so groß, dass sie bei Grundschulkindern dem Zuwachs an Leseverständnis entspricht, den diese in etwa zwei Dritteln des Schuljahrs erreichen können.
Während sie das sagte, wurde mir klar, dass der Rückgang des Lesens von Büchern in gewisser Weise ein Symptom für unsere verkümmerte Aufmerksamkeit ist und irgendwie auch eine Ursache dafür. Es ist eine Spirale: Als wir begannen, von Büchern auf Bildschirme umzusteigen, verloren wir einen Teil der Fähigkeit zum tieferen Lesen von Büchern, und das wiederum machte es weniger wahrscheinlich, dass wir Bücher lesen. Das ist so, wie wenn man zunimmt und es immer schwieriger wird, Sport zu treiben. Anne sagte mir, sie sei besorgt, dass wir jetzt »unsere Fähigkeit verlieren, lange Texte zu lesen«, und dass wir auch unsere »kognitive Geduld … [und] die Ausdauer und die Fähigkeit verlieren, mit kognitiv anspruchsvollen Texten umzugehen«. Als ich in Harvard Interviews führte, erzählte mir ein Professor, dass es ihm schwerfalle, seine Studenten dazu zu bringen, selbst kurze Bücher zu lesen, und dass er ihnen stattdessen zunehmend Podcasts und YouTube-Clips anbiete, die sie sich ansehen könnten. Und das ist Harvard. Ich fragte mich, was mit einer Welt geschieht, in der diese Form der tiefen Konzentration so weitreichend und so schnell schrumpft. Was passiert, wenn diese tiefste Ebene des Denkens für immer weniger Menschen zugänglich wird, bis sie zum Interesse einer kleinen Minderheit wird, wie die Oper oder Volleyball?
Während ich durch die Straßen von Provincetown schlenderte und über einige dieser Fragen nachdachte, erinnerte ich mich an eine berühmte Idee, die ich, wie ich jetzt feststellte, noch nie wirklich verstanden hatte – eine Idee, die auch Nicholas Carr in seinem Buch auf andere Weise aufgreift. In den 1960er Jahren sprach der kanadische Professor Marshall McLuhan viel darüber, wie das Aufkommen des Fernsehens die Art und Weise veränderte, wie wir die Welt sehen. Er sagte, diese Veränderungen seien so tiefgreifend, dass es schwer sei, sie wirklich zu erkennen. Als er versuchte, dies in einen Satz zu fassen, erklärte er, dass »das Medium die Botschaft ist«. Ich glaube, er meinte damit, dass man sich das Aufkommen einer neuen Technologie wie ein Rohr vorstellt – an einem Ende werden Informationen hineingeschüttet, und am anderen Ende erhält man sie ungefiltert. Aber so ist es nicht. Jedes Mal, wenn ein neues Medium auftaucht – sei es die Erfindung des gedruckten Buchs, des Fernsehens oder von Twitter – und man beginnt, sie zu nutzen, ist es so, als würde man eine neue Art von Brille aufsetzen, jede mit ihren eigenen speziellen Farben und Gläsern. Mit jeder Brille, die man aufsetzt, sieht man die Dinge anders.
Wenn man zum Beispiel fernsieht und noch bevor man die Botschaft einer bestimmten Fernsehsendung aufnimmt – sei es das Glücksrad oder The Wire –, beginnt man, die Welt in der Form zu sehen, die das Fernsehen selbst darstellt. Deshalb sagte McLuhan, dass jedes Mal, wenn ein neues Medium auftaucht, ein neuer Weg für die Menschen, zu kommunizieren, dieses eine Botschaft in sich birgt. Es leitet uns sanft dazu an, die Welt nach einem neuen Code zu betrachten. Die Art und Weise, wie die Informationen zu uns gelangen, so McLuhan, ist wichtiger als die Informationen selbst. Das Fernsehen lehrt uns, dass die Welt schnell ist, dass es um Oberflächlichkeiten und Äußerlichkeiten geht, dass alles auf der Welt auf einmal geschieht.
Das führte mich zu der Frage, welche Botschaften wir über die sozialen Medien aufnehmen und wie sich diese im Vergleich mit den Botschaften darstellen, die wir über gedruckte Bücher aufnehmen. Ich dachte zuerst an Twitter. Wenn man sich auf dieser Webseite anmeldet – egal, ob man Donald Trump, Bernie Sanders oder Bubba the Love Sponge ist –, nimmt man über dieses Medium eine Botschaft auf und sendet sie an seine Follower weiter. Was ist diese Botschaft? Erstens: Man sollte sich nicht lange auf eine Sache konzentrieren. Die Welt kann und sollte in kurzen, einfachen Aussagen von 280 Zeichen verstanden werden. Zweitens: Die Welt sollte sehr schnell interpretiert und zuverlässig verstanden werden. Drittens: Es kommt darauf an, ob die Menschen Ihren kurzen, einfachen, schnellen Aussagen sofort zustimmen und Ihnen applaudieren. Eine erfolgreiche Aussage ist eine, die sofort von vielen Menschen beklatscht wird; eine erfolglose Aussage ist eine, die sofort ignoriert oder verurteilt wird. Wenn Sie twittern, stimmen Sie in gewisser Weise mit diesen drei Prämissen überein, bevor Sie überhaupt etwas anderes sagen. Sie setzen diese Brille auf und sehen die Welt durch sie.
Wie sieht es mit Facebook aus? Was ist die Botschaft in diesem Medium? Die erste scheint zu sein: Ihr Leben existiert, um anderen Menschen gezeigt zu werden, und Sie sollten jeden Tag versuchen, Ihren Freunden die Highlights Ihres Lebens zu zeigen. Zweitens: Es kommt darauf an, ob die Menschen diese sorgfältig ausgewählten und bearbeiteten Highlights, die Sie in Ihrem Leben geschaffen haben, sofort mögen. Drittens: Jemand ist Ihr »Freund«, wenn Sie sich regelmäßig seine bearbeiteten Highlights ansehen und er sich Ihre anschaut – das ist es, was Freundschaft bedeutet.
Und Instagram? Erstens: Es kommt darauf an, wie man äußerlich aussieht. Zweitens: Es kommt darauf an, wie man äußerlich aussieht. Drittens: Es kommt darauf an, wie man äußerlich aussieht. Viertens: Es kommt darauf an, ob den Leuten gefällt, wie man aussieht. (Ich meine das nicht oberflächlich oder sarkastisch: Das ist wirklich die Botschaft, die diese Webseite vermittelt.)
Mir ist einer der Hauptgründe klar geworden, warum ich mich in den sozialen Medien so fühle, als sei ich aus den Fugen geraten – in Bezug auf die Welt und mich selbst. Ich glaube, dass all diese Ideen, die Botschaften, die diese Medien vermitteln, falsch sind. Denken wir nur mal an Twitter. Die Welt ist in Wirklichkeit sehr komplex. Um das ehrlich widerzuspiegeln, muss man sich in der Regel über einen längeren Zeitraum auf eine Sache konzentrieren, und man braucht Raum, um das ausführlich zu besprechen. Nur sehr wenige Dinge, die es wert sind, gesagt zu werden, lassen sich mit 280 Zeichen erklären. Wenn Ihre Antwort auf eine Idee sofort erfolgt, wird sie höchstwahrscheinlich oberflächlich und uninteressant sein, es sei denn, Sie haben jahrelanges Fachwissen zu diesem Thema aufgebaut. Ob Menschen Ihnen sofort zustimmen, ist kein Indikator dafür, ob das, was Sie sagen, wahr oder richtig ist – darüber müssen Sie selbst nachdenken. Die Realität kann nur dann sinnvoll verstanden werden, wenn man sich die gegenteiligen Botschaften von Twitter zu eigen macht. Die Welt ist komplex und erfordert ständige Konzentration, um verstanden zu werden. Sie muss langsam durchdacht und begriffen werden, und die meisten wichtigen Wahrheiten sind nicht gerade beliebt, wenn sie zum ersten Mal geäußert werden. Mir wurde klar, dass die Zeiten in meinem Leben, in denen ich auf Twitter am erfolgreichsten war – gemessen an der Zahl der Follower und Retweets –, die Zeiten waren, in denen ich als Mensch am wenigsten nützlich war: wenn ich unaufmerksam, einfältig und gehässig war. Natürlich gibt es auf der Webseite gelegentlich kleine Erkenntnisse, aber wenn dies zu Ihrer vorherrschenden Art der Informationsaufnahme wird, glaube ich, dass die Qualität Ihres Denkens schnell abnimmt.
Das Gleiche gilt für Instagram. Ich schaue mir gerne schöne Menschen an, wie jeder andere auch. Aber zu glauben, dass es im Leben hauptsächlich um dieses Oberflächliche geht – um Anerkennung für das Sixpack oder das Aussehen im Bikini –, ist dies das Rezept zum Unglücklichsein. Und das gilt auch für einen Großteil unserer Interaktionen auf Facebook. Es ist keine Freundschaft, wenn man eifersüchtig die Fotos, Angebereien und Beschwerden einer anderen Person betrachtet und erwartet, dass diese das Gleiche für einen selbst tut. Das ist sogar so ziemlich das Gegenteil von Freundschaft. Bei einer Freundschaft geht es darum, sich gegenseitig in die Augen zu sehen, gemeinsam etwas in der Welt zu unternehmen, einen endlosen Austausch von Lachen und Umarmen, Freude und Trauer und Tanzen. Das sind alles Dinge, die Facebook uns oft entzieht, indem es unsere Zeit mit hohlen Parodien der Freundschaft dominiert.
Nachdem ich all dies bedacht hatte, kehrte ich zu den gedruckten Büchern zurück, die ich an der Wand meines Strandhauses aufgestapelt hatte. Was, so fragte ich mich, ist die Botschaft, die in dem Medium des gedruckten Buchs steckt? Bevor die Worte ihre spezifische Bedeutung vermitteln, sagt uns das Medium des Buchs mehrere Dinge. Erstens: Das Leben ist komplex, und wenn man es verstehen will, muss man sich viel Zeit nehmen, um intensiv darüber nachzudenken. Man muss entschleunigen. Zweitens: Es lohnt sich, alle anderen Sorgen hinter sich zu lassen und sich auf eine Sache zu konzentrieren, Satz für Satz, Seite für Seite. Drittens: Es lohnt sich, darüber nachzudenken, wie andere Menschen leben und wie ihr Geist funktioniert. Sie haben ein komplexes Innenleben, genau wie Sie.
Ich habe gemerkt, dass ich mit den Botschaften des Mediums Buch übereinstimme. Ich glaube, sie sind wahr. Ich glaube, sie fördern die besten Seiten der menschlichen Natur – dass ein Leben, in dem es viele Phasen intensiver Konzentration gibt, ein gutes Leben ist. Das ist der Grund, warum mich das Lesen von Büchern nährt. Und ich bin mit den Botschaften in den sozialen Medien nicht einverstanden. Ich glaube, sie nähren vor allem die hässlichen und oberflächlichen Teile meines Wesens. Deshalb fühle ich mich ausgelaugt und unglücklich, wenn ich Zeit auf diesen Seiten verbringe – selbst, wenn ich nach den Spielregeln gut dastehe und Likes und Follower gewinne. Ich mag die Person, die ich werde, wenn ich viele Bücher lese. Die Person, die ich werde, wenn ich viel Zeit in den sozialen Medien verbringe, mag ich nicht.
Aber ich fragte mich, ob ich hier nicht etwas übertrieb – es waren ja nur meine Vermutungen. Daher interviewte ich Raymond Mar, Professor für Psychologie an der Universität von Toronto. Raymond ist einer der Sozialwissenschaftler, die weltweit am meisten über die Auswirkungen des Lesens von Büchern auf unser Bewusstsein geforscht haben, und seine Forschungen haben dazu beigetragen, eine ganz neue Art des Denkens über diese Frage zu eröffnen.
Als kleiner Junge las Raymond wie besessen, aber es war ihm nie in den Sinn gekommen, herauszufinden, wie sich das Lesen selbst auf die Art und Weise auswirkt, wie unser Verstand funktioniert, bis er als Doktorand eines Tages von seinem Mentor, Professor Keith Oatley, auf einen Gedanken gebracht wurde. Wenn man einen Roman liest, taucht man in die Gedankenwelt eines anderen Menschen ein. Man simuliert eine soziale Situation. Man stellt sich andere Menschen und ihre Erfahrungen auf eine tiefe und komplexe Weise vor. Wenn man also viele Romane liest, wird man vielleicht besser in der Lage sein, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, sagte er. Vielleicht ist Belletristik eine Art Empathie-Training, das die Fähigkeit fördert, sich in andere Menschen einzufühlen – eine der reichhaltigsten und wertvollsten Formen der Konzentration, die wir haben. Gemeinsam beschlossen Raymond und Keith, diese Frage wissenschaftlich zu untersuchen.
Die Erforschung dieser Frage ist nicht ganz einfach. Einige andere Wissenschaftler hatten eine Technik entwickelt, bei der man jemandem eine Passage vorliest und unmittelbar danach dessen Einfühlungsvermögen testet. Für Raymond war diese Methode jedoch fehlerhaft. Wenn das Lesen einen Einfluss auf uns hat, dann formt es uns über einen längeren Zeitraum hinweg – es ist nicht so wie bei Ecstasy, das man schluckt und dann ein paar Stunden lang eine unmittelbare Wirkung erlebt.
Zusammen mit seinen Kollegen entwickelte er ein ausgeklügeltes dreistufiges Experiment, mit dem er herausfinden wollte, ob es diesen längerfristigen Effekt gibt. Die Teilnehmer an diesem Test wurden in ein Labor gebracht und bekamen eine Liste mit Namen vorgelegt. Einige waren berühmte Romanautoren, andere waren berühmte Sachbuchautoren und wieder andere waren zufällige Personen, die überhaupt keine Schriftsteller sind. Sie wurden gebeten, die Namen der Romanautoren einzukreisen, und dann wurden Sie gebeten, separat die Namen der Sachbuchautoren einzukreisen. Raymond ging davon aus, dass Personen, die im Laufe ihres Lebens mehr Romane gelesen hatten, die Namen von mehr Belletristik-Autoren erkennen würden. Außerdem hatte er nun eine interessante Vergleichsgruppe – Menschen, die viele Sachbücher gelesen hatten.
Dann führte er mit allen Teilnehmern zwei Tests durch. Der erste verwendete eine Technik, die manchmal zur Diagnose von Autismus eingesetzt wird. Es werden viele Fotos der Augenpartien von Menschen gezeigt, und man wird gefragt: Was denkt diese Person? Auf diese Weise wird gemessen, wie gut man die subtilen Signale lesen kann, die den emotionalen Zustand einer anderen Person verraten. Beim zweiten Test schauten sich die Probanden mehrere Videos von echten Menschen in realen Situationen an, zum Beispiel von zwei Männern, die gerade ein Squash-Spiel beendet hatten und sich miteinander unterhielten. Die Teilnehmer sollten herausfinden: Wer hat das Spiel gewonnen? Wie ist die Beziehung zwischen den beiden? Wie fühlen sie sich? Raymond und die Versuchsleiter kannten die Antworten und konnten deshalb feststellen, wer in dem Test die sozialen Signale am besten erkennen und deuten konnte.
Ihre Ergebnisse waren eindeutig. Je mehr Romane man gelesen hatte, desto besser konnte man die Emotionen anderer Menschen einschätzen. Der Effekt war enorm. Dies war nicht nur ein Zeichen dafür, dass man besser gebildet war – denn das Lesen von Sachbüchern hatte im Gegensatz dazu keine Auswirkungen auf das Einfühlungsvermögen.
Ich fragte Raymond, warum das so sei. Lesen, so erklärte er mir, schafft eine »einzigartige Form des Bewusstseins … Während wir lesen, richten wir unsere Aufmerksamkeit nach außen auf das Wort auf der Seite und gleichzeitig gehen enorme Mengen an Aufmerksamkeit nach innen, während wir uns etwas vorstellen und geistig durchspielen.« Das ist etwas anderes, als wenn man einfach die Augen schließt und versucht, sich etwas spontan vorzustellen. »Es wird strukturiert – aber unsere Aufmerksamkeit befindet sich an einem ganz besonderen Ort, sie schwankt sowohl nach außen in Richtung der Seite, in Richtung der Wörter, als auch nach innen, in Richtung dessen, was diese Wörter darstellen.« Auf diese Weise werden »nach außen gerichtete Aufmerksamkeit und nach innen gerichtete Aufmerksamkeit« kombiniert. Vor allem beim Lesen von Belletristik stellt man sich vor, wie es ist, eine andere Person zu sein. Man ertappt sich dabei, dass man »versucht, die verschiedenen Charaktere, ihre Beweggründe, ihre Ziele zu verstehen und diese verschiedenen Dinge zu verfolgen«, sagt er. Das ist eine Art von Übung. Wahrscheinlich verwenden wir dieselben kognitiven Prozesse, die wir auch in der realen Welt anwenden würden, um unsere realen Mitspieler zu verstehen. Sie simulieren das Leben eines anderen Menschen so gut, dass die Fiktion ein viel besserer Simulator für die virtuelle Realität ist als die Maschinen, die derzeit unter diesem Namen vermarktet werden.
Jeder von uns kann immer nur einen kleinen Teil dessen erleben, was es heißt, ein heute lebender Mensch zu sein, sagte mir Raymond, aber wenn man Belletristik liest, erhält man einen Einblick in die Erfahrungen anderer Menschen. Das verschwindet nicht, wenn man den Roman aus der Hand legt. Wenn Sie später einer Person in der realen Welt begegnen, können Sie sich besser vorstellen, wie es ist, diese Person zu sein. Die Lektüre eines Tatsachenberichts macht Sie vielleicht kenntnisreicher, aber sie hat nicht diese Empathie erweiternde Wirkung.
Inzwischen gibt es Dutzende anderer Studien, die den von Raymond entdeckten Kerneffekt wiederholen. Ich fragte Raymond, was passieren würde, wenn wir ein Medikament entdeckten, das die Empathie so stark steigert, wie es in seiner Arbeit für das Lesen von Belletristik nachgewiesen wurde. »Wenn es keine Nebenwirkungen hätte«, sagte er, »wäre es meiner Meinung nach ein sehr beliebtes Medikament.« Je mehr ich mich mit ihm unterhielt, desto mehr wurde mir klar, dass Empathie eine der komplexesten Formen der Aufmerksamkeit ist, die wir haben – und die wertvollste. Viele der wichtigsten Fortschritte in der Geschichte der Menschheit waren Fortschritte in der Empathie – die Erkenntnis zumindest einiger weißer Menschen, dass andere ethnische Gruppen Gefühle, Fähigkeiten und Träume haben wie sie selbst; die Erkenntnis einiger Männer, dass die Art und Weise, wie sie Macht über Frauen ausgeübt haben, unrechtmäßig war und echtes Leid verursacht hat; die Erkenntnis vieler Heterosexueller, dass schwule Liebe genauso ist wie heterosexuelle Liebe. Empathie macht Fortschritt möglich, und jedes Mal, wenn man die menschliche Empathie erweitert, öffnet man das Universum ein wenig mehr.
Allerdings, und das betont Raymond selbst, können diese Ergebnisse auch ganz anders interpretiert werden. Es könnte sein, dass das Lesen von Belletristik mit der Zeit das Einfühlungsvermögen steigert. Es könnte aber auch sein, dass Menschen, die bereits über Empathie verfügen, sich einfach mehr zum Lesen von Romanen hingezogen fühlen. Das macht seine Forschung kontrovers und umstritten. Er sagte mir, dass wahrscheinlich beides zutrifft – dass das Lesen von Belletristik die Empathie steigert und dass sich empathische Menschen eher zum Lesen von Belletristik hingezogen fühlen. Es gibt jedoch einen Hinweis darauf, dass das Lesen von Belletristik tatsächlich eine signifikante Wirkung hat: Eine seiner Studien hat ergeben, dass Kinder umso besser die Gefühle anderer Menschen einschätzen können, je öfter ihnen Geschichten vorgelesen werden – etwas, das eher von den Eltern als vom Kind selbst entschieden wird. Dies deutet darauf hin, dass die Wahrnehmung von Geschichten tatsächlich das Einfühlungsvermögen der Kinder erweitert.
Wenn wir Grund zu der Annahme haben, dass das Lesen von Belletristik unser Einfühlungsvermögen stärkt, wissen wir dann auch, was die Medien, die die Belletristik weitgehend ersetzen, mit uns machen? Raymond ist der Meinung, dass es leicht ist, gegenüber den sozialen Medien versnobt zu sein und in eine moralische Panik zu verfallen, und er findet diese Denkweise albern. Vieles an den sozialen Medien sei gut, betonte er. Die Effekte, die er beschreibt, haben nicht in erster Linie mit der gedruckten Seite zu tun, sondern mit dem Eintauchen in eine komplexe Erzählung, die die gesellschaftliche Welt simuliert. Seine Studien haben ergeben, dass lange Fernsehserien ebenso wirksam sind, erklärte er. Aber es gibt einen Haken. Eine seiner Studien hat gezeigt, dass Kinder einfühlsamer sind, wenn sie Märchenbücher lesen oder Filme sehen, aber nicht, wenn sie kürzere Sendungen sehen. Das scheint zu dem zu passen, was wir in den sozialen Medien beobachten – wenn man die Welt nur bruchstückhaft sieht, setzt das Einfühlungsvermögen oft nicht so ein, wie es der Fall ist, wenn man sich dauerhaft und konzentriert mit einer Sache beschäftigt.
Während meines Gesprächs mit ihm überlegte ich: Wir verinnerlichen die Eigenschaften der Stimmen, denen wir ausgesetzt sind. Wenn man sich über einen längeren Zeitraum hinweg komplexen Geschichten über das Innenleben anderer Menschen aussetzt, wird sich das eigene Bewusstsein neu strukturieren. Man wird aufmerksamer, offener und einfühlsamer. Wenn man sich hingegen täglich stundenlang den unzusammenhängenden Fragmenten von Geschrei und Wut aussetzt, die in den sozialen Medien vorherrschen, werden auch die Gedanken so geformt sein. Die inneren Stimmen werden rauer, lauter und können zartere und sanftere Gedanken nicht mehr hören. Achten Sie darauf, welche Technologien Sie verwenden, denn Ihr Bewusstsein wird mit der Zeit wie diese Technologien geformt werden.
Bevor ich mich von Raymond verabschiedete, fragte ich ihn, warum er so viel Zeit damit verbracht hatte, die Auswirkungen des Lesens von Belletristik auf das menschliche Bewusstsein zu untersuchen. Bis zu dem Moment, als ich ihn das fragte, war er für mich so etwas wie ein Datenfreak, der seine Methoden bis ins kleinste Detail erläuterte. Doch als er antwortete, entspannte sich sein Gesicht. »Wir leben alle auf demselben Ball aus Schlamm und Wasser, der möglicherweise auf ein katastrophales Ende zusteuert. Wenn wir diese Probleme lösen wollen, können wir es nicht allein tun«, sagte er. »Deshalb halte ich Empathie für so wertvoll.«
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily