Abgelenkt: Wie uns die Konzentration abhandenkam und wie wir sie zurückgewinnen
Die Menschheit liest heute im Schnitt deutlich weniger als noch vor einigen Jahrzehnten. Ein Symptom für unsere verkümmerte Aufmerksamkeit?
Im West End von Provincetown gibt es eine wunderbare Buchhandlung namens Tim’s Used Books. Wenn man den Laden betritt, atmet man sofort den würzigen Geruch ein, der entsteht, wenn sich überall alte Bücher stapeln. In diesem Sommer ging ich fast jeden zweiten Tag dorthin, um mir ein neues Buch zum Lesen zu kaufen. An der Kasse arbeitete eine junge Frau, die sehr intelligent war und mit der ich mich gerne unterhielt. Mir fiel auf, dass sie jedes Mal, wenn ich reinkam, ein anderes Buch las – an einem Tag Vladimir Nabokov, an einem anderen Joseph Conrad, an einem anderen Shirley Jackson. »Wow«, sagte ich, »Sie lesen schnell.« »Oh«, erwiderte sie, »das tue ich nicht. Ich kann nur das erste oder zweite Kapitel eines Buchs lesen.« Ich fragte: »Wirklich? Und warum?« Sie antwortete: »Ich glaube, ich kann mich nicht konzentrieren.« Hier stand eine intelligente junge Frau mit viel Zeit, umgeben von vielen der besten Bücher, die je geschrieben wurden, und mit dem Wunsch, sie zu lesen, aber sie schaffte nur das erste oder zweite Kapitel, und dann erlahmte ihre Aufmerksamkeit, wie bei einem versagenden Motor.
Ich habe aufgehört zu zählen, wie viele Menschen, die ich kenne, mir das gesagt haben. Bei unserer ersten Begegnung erzählte mir David Ulin, der mehr als 30 Jahre lang Buchkritiker und Redakteur bei der Los Angeles Times war, dass er nicht mehr in der Lage war, über längere Zeiträume hinweg gründlich zu lesen, denn immer, wenn er versuchte, sich zu entspannen, wurde er von der Hektik der Online-Konversation zurückgerissen. David ist ein unglaublich intelligenter Mann, dessen ganzes Leben aus Büchern bestand. Das war beunruhigend.
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily