Selbst schlimmste Erlebnisse können überwunden werden. Diese Geschichte zeigt, wie
Erinnerungslücken, Flashbacks, Panikattacken: Traumata entstehen oft, aber nicht nur bei Krieg oder Flucht. Wie eine Therapie gelingen kann.
Mit einem Ruck ziehen sie das Tau so fest zu sich, wie sie können. Die Gruppe auf der anderen Seite verliert den Halt. 7 Frauen zwischen 50 und 65 Jahren purzeln übereinander, kugeln sich im Gras und gackern. Sie haben gerade gemeinsam eine 2-jährige Therapie absolviert. Eine von ihnen erzählt, sie sei kürzlich gefragt worden, ob man bei ihrer Gruppe mitmachen könne. Sie wirkten immer so lustig. Die Frau lacht laut auf: »Ich habe geantwortet, dass das leider nicht geht. Unsere Gruppe ist nur für ganz besondere Menschen.«
Alle Teilnehmerinnen wurden während der
Auf dem Balkan ist der Krieg nach 2 Jahrzehnten immer noch überall präsent. Bei den Filmfestspielen 2022 in Saravejo, der Hauptstadt von Bosnien und Herzegowina, wird die Geschichte der Frauen im Dokumentarfilm »Bigger Than Trauma« erzählt. 2 kroatische Filmemacherinnen haben die Gruppe bei ihrer Traumatherapie mit der Kamera begleitet. Was als Horror beginnt, entwickelt sich in eine intime Erzählung über Heilung, voller Hoffnung und Freundschaft.
Ich habe mir den Film in Sarajevo angeschaut, mit den Regisseurinnen und 2 Traumaexpertinnen gesprochen und dabei herausgefunden: Trauma gibt es nicht nur im Krieg. Das Thema betrifft uns alle.
Wenn aus Freunden und Nachbarn Feinde werden
Ana wäscht sich mithilfe eines grünen Kanisters, der auf ihren unverputzten Eingangsstufen steht. Er ist seitlich aufgeschnitten und mit Brunnenwasser gefüllt. Ana ist Serbin, wohnt aber schon ihr gesamtes Leben in einem kroatischen Dorf.
Vorsichtig benetzt sie erst den rechten, dann den linken Arm mit Wasser. Eine eigene Leitung kann sie sich nicht leisten. Der seit Jahrzehnten trockene Mörtel quillt noch zwischen den Ziegeln ihres kleinen Hauses heraus. »Vor dem Krieg hatte ich viele Freunde im Dorf«, erzählt die 63-Jährige. »Jetzt wollen nicht mal mehr die Vögel auf den Ästen mit mir Zeit verbringen.«
In Anas Dorf lebten Serben und Kroaten vor den Kriegen friedlich zusammen. »Als Kinder spielten wir
Das Thema Jugoslawienkriege ist komplex – in diesem Video versucht sich der Youtuber MrWissen2go an einer Zusammenfassung in unter 15 Minuten
Anfang der 90er, nach dem Kollaps der Sowjetunion, war auch
Aber was bedeutet das eigentlich?
Hinter einem Trauma steckt ein Schutzmechanismus unseres Körpers
»Ein Trauma ist eine Wunde der Seele«, erklärt Lara Broicher. Sie ist Expertin zum Thema, hat viele Jahre mit Betroffenen von häuslicher Gewalt und Folter gearbeitet. Beim Interview trägt sie einen weiten schwarzen Pullover, auf dem das Wort »POSITIVITY« in dicken bunten Buchstaben steht.
In der Fachsprache spricht man von einem Trauma, wenn ein Ereignis so schlimm, so außergewöhnlich ist, dass die eigenen Bewältigungsstrategien nicht mehr ausreichen. Broicher erklärt, bei einer Traumatisierung schalte sich ein Teil des Gehirns aus, um die traumatische Erfahrung nicht komplett erleben zu müssen. »Das ist ein sehr hilfreicher Schutzmechanismus des Körpers«, findet Broicher.
Allerdings bedeute das auch, dass die Gefühle aus der traumatischen Situation »roh« abgespeichert würden. Das führe ohne Behandlung später zu großen Problemen.
Ein Trauma ist eine Wunde der Seele. Ein Ereignis, das so schlimm, so außergewöhnlich ist, dass die eigenen Bewältigungsstrategien nicht mehr ausreichen.
In Zagreb sitzen die 14 Frauen im Stuhlkreis. Sie kennen die Probleme, die die Expertin andeutet: zerrüttete Beziehungen, Isolation und Körper, die immer wieder gegen sich selbst
Trailer des Films »Bigger Than Trauma«, der die Frauen bei ihrer Therapie begleitet
Doch die psychischen Folgen ihrer Traumata wirken sich auch auf die Gruppendynamik aus. Immer wieder kommt es zu Konflikten. Besonders Ana fällt es schwer, sich zu integrieren. Sie schaut den anderen Frauen mit kritischem Blick zu, rollt die Augen und bricht Streitgespräche vom Zaun. Bei den Partnerübungen fühlt sie sich übergangen. Am Ende der zweiten Einheit verlässt Ana die Gruppe wutentbrannt. Keiner weiß, ob sie zurückkommen wird.
Trauma ist immer auch eine Beziehungsstörung, zu anderen und zu sich selbst. »Eine Traumatisierung kann man sich vorstellen wie ein Wasserglas, das immer randvoll ist«, erklärt Expertin Broicher im Interview. Die kleinste Verärgerung bringe das Glas direkt zum Überlaufen. Broicher sagt, wenn man bei der Metapher bleibe, könne man sagen, den Traumatisierten fehlten die Mechanismen, einen Teil des Wassers wieder abzulassen.
Dieses Symptom eines Traumas nennt man »Hyperarousal«, also eine ständige Überspannung, die häufig mit Reizbarkeit oder Schreckhaftigkeit einhergeht. Andere Zeichen für ein Trauma sind Rückzug und Vermeidung,
Marija ist eine andere Teilnehmerin der Gruppe. Sie war als 20-Jährige während des Krieges über Monate von den Besatzern, der Jugoslawischen Volksarmee und serbischen Freischärlern, gefangen gehalten worden, musste für sie arbeiten und andere Dienste verrichten. Vor 19 Jahren verließ sie ihr Dorf und zog in ein 6-Quadratmeter-Zimmer im Haus einer alten Frau in Zagreb. Seitdem schafft es Marija nicht, auszuziehen, obwohl sie genug verdient. Ihr Trauma hält sie gefangen, schließen die Expertinnen. Die 56-Jährige ist eine der Ersten, die sich bei der Therapie für eine Körperübung öffnet.
Dafür stellt sie sich in die Mitte des Raums. Eine Therapeutin stellt sich in eine Ecke. Marija soll mit ihr interagieren und sich vorstellen, die Frau symbolisiere einen verlorenen Teil ihrer selbst. Sie will die Therapeutin aus der Ecke führen, doch die weigert sich wortlos. Eine zweite Expertin erklärt, damit sich die Kollegin bewege, müsse Marija ihr Mut zusprechen und zeigen, sie sei nicht allein. Marija soll laut sagen: »Das Ereignis ist passiert. Es hat sehr wehgetan, aber es ist jetzt vorbei.«
Doch die 56-Jährige schweigt. Je länger sie schweigt, desto mehr verliert sie ihre sonst rosige Gesichtsfarbe. Marija ist die gute Seele der Gruppe, sanftmütig mit einer tiefen, ruhigen Stimme. Dicke Tränen beginnen ihr über die bis dahin bereits farblosen Wangen zu kullern. Erst als eine weitere Frau ihr die Hände an den Rücken hält und damit Unterstützung leistet, schafft sie es. Marija atmet tief ein, lässt die Tränen fließen – und nach einer weiteren Pause spricht sie die Sätze laut aus. Im Anschluss fällt sie der Therapeutin erschöpft in die Arme. Der erste Schritt zur Heilung sei die Anerkennung des Ereignisses, so die Expertin.
Warum Trauma uns alle angeht
Häufig gehen Traumatisierungen mit Gedächtnislücken einher, was die Verarbeitung der traumatischen Erfahrungen zusätzlich erschwert. Die Betroffenen weigern sich, das Geschehene anzunehmen, was dazu führt, dass das Trauma immer und immer wieder im Kopf der traumatisierten Person abläuft. »Ein Trauma entsteht bei absolutem Kontrollverlust«, erklärt Lara Broicher. Ziel sei es, den Menschen ihre Mündigkeit wiederzugeben und ihre Wahrnehmung geradezurücken. Häufig fühlten die Betroffenen zudem noch große Scham. »Wir wollen ihnen zeigen: Du bist nicht unnormal oder schwach. Du reagierst völlig normal auf ein abnormales Ereignis.«
Von solchen abnormalen Ereignissen sind alle Menschen betroffen, die Krieg und Flucht erleben. Umso wichtiger ist eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Aus der Ukraine kommen derzeit immer wieder Schreckensnachrichten über
So landeten und landen auch in Deutschland viele schwer traumatisierte Menschen als unsere Kolleginnen, Mitschülerinnen und Nachbarinnen. Gerade hier sei Traumasensibilität besonders wichtig, erklärt Lara Broicher. »Bei Menschen, die aus einem Kriegsgebiet kommen, ist es zum Beispiel nicht ratsam, im Jugendzentrum oder in der Schule ›Ich packe meinen Koffer‹ zu spielen.«
Nicht nur im Krieg erleiden Menschen Traumata. Wo das größte Risiko lauert
Traumatisierende Ereignisse gibt es nicht nur im Krieg. Auch Unfälle oder Naturkatastrophen können ein Trauma zur Folge haben. In Deutschland ist der größte Gefahrenpunkt das eigene Zuhause. Laut Zahlen des Bundesfamilienministeriums wird etwa jede vierte Frau mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexualisierter Gewalt
Trauma ist eine Beziehungsstörung und kann vererbt werden. »Traumatisierte Mütter bekommen häufig traumatisierte Kinder, so schlimm das auch klingt. Umso wichtiger ist es, dass wir als Gesellschaft mehr über das Thema sprechen«, erklärt Traumaexpertin Broicher.
Marianne Kédia pflichtet ihr bei. Sie ist auf Traumata spezialisierte Psychotherapeutin in Paris und hat nach den Terroranschlägen in
Als Gegenmaßnahme fordert Kédia mehr Aufklärung in der Gesellschaft, Sensibilisierung des medizinischen Fachpersonals sowie mehr Geld für Prävention. Sie sagt: »Trauma ist der Kern von einem Großteil psychischer Krankheiten und doch wissen viele meiner Kolleg:innen kaum etwas über Traumaerkennung und -behandlung. Das ist doch irre.«
»Diese Frauen sind Heldinnen«
In Zagreb ist die Gruppe bei ihren letzten Therapiesitzungen angekommen. Ana ist wieder mit dabei. Sie hatte sich überzeugen lassen, dem Ganzen noch eine Chance zu geben. Bei einer Partnerübung mit Marija erlebt sie den Durchbruch. Die beiden stehen Rücken an Rücken.
Ana, der seit dem Krieg immer kalt ist, soll spüren, wie sich Marijas Körperwärme auf sie überträgt. Die Therapeutin erklärt Ana, dass es den warmen Teil auch in ihr gibt, sie ihm nur Raum geben müsse. Ana schließt die Augen und konzentriert sich auf die Wärme in ihrem und Marijas Körper. Ein vorsichtiges Lächeln umspielt ihre Mundwinkel, die Augen sind immer noch geschlossen. Die 63-Jährige entspannt ihre Muskeln komplett und flüstert: »Es ist ein Wunder, diese Übertragung von Wärme ist ein echtes Wunder.«
Nach 2 Jahren schließt die Gruppe die Therapie erfolgreich ab. Bei einer Gartenfeier messen sich die Frauen beim Tauziehen und lassen die vergangene Zeit Revue passieren. Ana fragt die Gruppe: »Sagt mal, war ich eigentlich euer größtes Problem? Wärt ihr ohne mich besser dran gewesen?« Eine Teilnehmerin antwortet lachend: »Wir wären auf jeden Fall besser dran, wenn du nicht so doofe Fragen stellen würdest.« Dann umarmt sie Ana.
Vor dem Kino in Sarajevo treffe ich die Regisseurin und die Produzentin des Dokumentarfilms »Bigger Than Trauma«, der die Geschichte von Ana, Marija und den anderen Frauen erzählt. »Das komplette Leben der Teilnehmerinnen hat sich verändert«, erklärt Vedrana Pribačić. Sie steht strahlend vor dem Eingang des größten Kinos der Filmfestspiele und trägt ein knallgrünes Kleid. Zum Beispiel Marija, erzählt Pribačić, sie sei aus ihrem winzigen Zimmer ausgezogen und habe jetzt, mit 56 Jahren, endlich ihre erste eigene Wohnung. »Diese Frauen sind Heldinnen«, fügt ihre Kollegin Mirta Puhlovski hinzu. Sie erzählt, einige von ihnen schafften es mit dem Film zum ersten Mal, ihren Familien und Partnern zu erzählen, was sie im Krieg hatten durchmachen müssen.
Bei der Vorführung im Kino sitzt Ana neben Puhlovski und Pribačić. Die Filmemacherinnen hatten sie eingeladen, sie nach Bosnien zu den Filmfestspielen zu begleiten. Im Abspann liest die 63-Jährige, die über 20 Jahre in Einsamkeit verwelkte: »Ana wohnt immer noch in ihrem Dorf. Ihr Haus hat jetzt fließendes Wasser. Sie genießt es, Zeit mit ihren Freundinnen aus der Gruppe zu verbringen.« Der Saal applaudiert, immer mehr Menschen stehen auf, aber sie gehen nicht. Sie klatschen weiter. Ana bekommt zum ersten Mal in ihrem Leben Standing Ovations.
Redaktionelle Bearbeitung: Katharina Wiegmann
Titelbild: Bigger than trauma - copyright