So zwingt man eine Millionenstadt dazu, klimaneutral zu werden
Man sammelt erst mal Unterschriften. Im Fall von Klimaneustart Berlin sind es über 260.000 geworden. Doch die Frage ist: Was kommt als Nächstes?
Samstag, 12. November
Der Himmel über Nordberlin changiert zwischen goldenem Herbst und grauer Suppe. Franca Mischo läuft über einen Spielplatz am Nordufer. Sie trägt pinke Socken, Jeans, einen langen, grünen Wollmantel, darüber eine rote Warnweste mit einem kleinen Flammensymbol – dem Logo des Bündnisses »Klimaneustart Berlin«.
In der Hand hält sie 2 Klemmbretter mit vielen Zetteln, die alle gleich aussehen: »Unterschriftenliste für die Zustimmung zum Volksbegehren über ein klimaneutrales Berlin ab 2030« steht ganz oben. Die Hälfte des Blatts besteht aus Textblöcken in kleiner Schrift. Dort ist beschrieben, worum es geht und wer unterschreiben darf. Darunter eine Tabelle mit Platz für 5 Unterschriften. Mischo und ihre Mitstreiter:innen wollen, dass Berlin 2030 klimaneutral wird. Sie haben noch 3 Tage, um die fehlenden 40.000 Unterschriften zu sammeln.
Berlin soll 15 Jahre früher klimaneutral werden
Derzeit verfolgt der Berliner Senat das Ziel, die Hauptstadt bis zum Jahr 2045 klimaneutral zu
240.000 Unterschriften ist die Marke, die sich die Initiator:innen selbst gegeben haben. Dem Volksbegehren muss ein gewisser Prozentsatz der Bürger:innen zustimmen, damit daraus ein Volksentscheid wird, bei dem dann alle per Wahl abstimmen können: »ja« oder »nein« zur Gesetzesänderung. In Berlin braucht ein erfolgreiches Volksbegehren 7% der Stimmberechtigten, das entspricht derzeit ca. 175.000 Personen. Die 65.000 zusätzlichen Unterschriften, die Mischo und Co. sammeln, sind ein Puffer. Denn die letzten Volksbegehren in Berlin haben gezeigt, dass am Ende viele Unterschriften ungültig sind.
Seit 1995 gab es in Berlin 11 Volksbegehren, in 7 Fällen kam es zum Volksentscheid. Da ging es beispielsweise um die Flughäfen Tempelhof und Tegel oder um das Stromnetz. In Bayern wurde mal per Volksentscheid der Senat abgeschafft; das Volksbegehren zur Rettung der Bienen war dort 2019 so erfolgreich, dass es der Landtag umgesetzt hat, bevor es zum Volksentscheid kam. Die genaue Ausgestaltung des direktdemokratischen Instruments ist Ländersache.
Was viele nicht wissen: Bundesweite Volksbegehren werden nur zugelassen, wenn es darin um die Neugliederung der Bundesländer geht, also falls sich zum Beispiel Sachsen und Sachsen-Anhalt zusammenschließen oder deren Grenze verschieben wollten.
Seit Juli liegen die Listen des aktuellen Volksbegehrens in Berliner Bioläden, hängen an Kühlschränken in WGs, seit Wochen stehen Menschen in roten Warnwesten vor Veranstaltungen oder in Parks und sammeln Unterschriften. Franca Mischo hat im September angefangen zu sammeln. Seitdem, sagt sie, sei sie jede Woche 4 oder 5 Tage für das Volksbegehren auf der Straße. Die 23-jährige Studentin koordiniert das Kiezteam Wedding, Reinickendorf und Moabit, schreibt auf Telegram Hunderte Nachrichten, um weitere Leute zu aktivieren.
Kurz vor der Deadline am 14. November steht auf der Kippe, ob die Initiative ihr Ziel von 240.000 Unterschriften erreichen wird. Mischo, mit ihren 2 Klemmbrettern vor der Brust, lässt sich vor dem Spielplatz in ein langes Gespräch verwickeln. Ein junger Typ lehnt ihr gegenüber auf seinem Motorrad, er ist Monteur für Solaranlagen und
Selbst wenn wir es nicht schaffen sollten, haben wir so, so viele Gespräche geführt, die hoffentlich etwas angeregt haben.
Die vollen Unterschriftenlisten steckt Mischo auf dem Klemmbrett nach ganz hinten. Am Montag wird sie einen großen Stoß Listen in der Sammelstelle abgeben.
Übergabe auf den letzten Drücker
Montagnacht, 14. November
Der Himmel über der Berliner Innenstadt ist von einem nebligen Dunkelblau. Im Gebäude der Senatsverwaltung brennt kein Licht mehr, nur die Stufen zur Tür sind beleuchtet, an ihr hängt ein Zettel mit der Aufschrift »Defekt!«. Die letzte Charge Unterschriftenlisten steht in 8 Pappkartons auf dem kalten Asphalt auf der Straße. Eine Lichterkette liegt darauf, drumherum wuseln etwa 100 Menschen in roten Warnwesten, auch Franca Mischo ist da. Überall stehen Fahrräder und Schilder der Kampagne, hier und da hört man Ausbrüche von Freude. Aus Rücksicht auf die Nachbarschaft jubeln sie so leise wie möglich. Es ist 23:30 Uhr, die Initiator:innen des Volksbegehrens haben bis zur letzten Minute gesammelt und selbst ausgezählt. Auf insgesamt 261.968 Unterschriften sind sie gekommen. Sie glauben, dass es zum Volksentscheid kommen wird. Die Stimmung ist aufgekratzt.
Doch wer arbeitet um diese Uhrzeit in der Senatsverwaltung, um die Kisten entgegenzunehmen? Eine Pförtnerin. Auch Polizei ist vor Ort, ein paar Beamt:innen stehen auf den Stufen vor der Tür, als 8 Initiator:innen mit jeweils einer Kiste reinlaufen und kurz darauf grinsend wieder herauskommen.
Von hier aus werden die Listen am nächsten Morgen per Kurier in 12 verschiedene Bezirkswahlämter gebracht. Dort sind seit Juli immer wieder Stapel eingegangen, damit nicht am Ende alles auf einen Schlag kommt. Die Listen landen auf den Tischen von Verwaltungsangestellten, die jetzt 2 Wochen Zeit haben, um die letzte Charge auszuzählen.
Im Wahlamt kommt alles zusammen
Mittwochvormittag, 23. November
Ein Kilometer Luftlinie von dort entfernt, wo Franca Mischo die Unterschriften gesammelt hat, läuft Janka Schmidt durch die Gänge des Bürgeramts Mitte und verteilt die Listen an die Mitarbeiter:innen. Schmidt ist schlicht gekleidet, trägt Brille. Ihre kurzen Haare hat sie sich halb zurückgebunden. Seit Kurzem leitet sie das Wahlamt im Bezirk Mitte, das heißt, sie koordiniert alle Wahlen von der Europawahl bis zur Schöffenwahl und eben auch Volksbegehren. Zusätzlich fällt das Backoffice für Pass- und Meldeangelegenheiten in ihre Zuständigkeit, weil nicht immer Wahlen sind. Normalerweise. Doch gerade kommt in ihrem Büro vieles zusammen und all das gleichzeitig.
Mitte November hat der Verfassungsgerichtshof entschieden, dass die Wahlen vom September 2021 teilweise wiederholt werden müssen. Schmidt und den anderen Wahlämtern bleiben nur 90 Tage zur Vorbereitung. Gerade versucht Schmidt, zusätzliche Wahlkabinen zu organisieren. Und dann sind da auch noch die Unterschriftenlisten, die bis Freitag ausgezählt sein sollen.
Auszählen ist Handarbeit
Sie hat sich selbst einen Hefter mit Unterschriftenlisten auf den Tisch gelegt und zeigt, wie die Listen ausgewertet werden. Auf einem ihrer 2 Bildschirme öffnet sie das Programm VOIS. Hier gibt es eine Maske, in die sie Geburtsdatum und Name oder Adresse von den Listen abtippen kann, das Programm sucht dann nach dem Eintrag im Melderegister und zeigt die vollständigen Daten an, die Schmidt mit den handschriftlichen Daten auf der Liste abgleicht. Praktisch, denn oft sind die Daten auf dem Papier krakelig oder der Kuli hat nicht richtig geschrieben.
Das Programm erkennt außerdem, ob die Person alle Bedingungen für eine gültige Abstimmung erfüllt. Dafür muss diese älter als 18 Jahre alt sein, eine deutsche Staatsbürgerschaft haben und seit mindestens 3 Monaten in Berlin gemeldet sein. Ist all das erfüllt, zeigt das Programm »gültig« in grüner Schriftfarbe und Schmidt klickt auf »eintragen«, außerdem macht sie auch mit dem Kulli ein x auf dem Papier vor sich. Wenn die Person beispielsweise nicht die deutsche Staatsbürgerschaft hat oder bereits unterschrieben hat, muss Schmidt auch das vermerken. Am Ende unterschreibt sie den Zettel und legt ihn auf die Ecke ihres Schreibtischs.
8 Minuten für 5 Unterschriften
Für die nächste Liste braucht Schmidt 8 Minuten, auch weil zwischendrin Mitarbeiter:innen mit einer Frage an ihre Tür kommen. 8 Minuten für 5 Unterschriften, davon 4 gültig. In dem Tempo müssen die Mitarbeiter:innen des Bezirksamts Mitte insgesamt 500 Stunden arbeiten, um 15.000 gültige Unterschriften zu registrieren. Die braucht die Landeswahlleitung bis Ende der Woche. Am Dienstag darauf soll verkündet werden, ob es zu einem Volksentscheid kommt.
»Bei manchen Volksbegehren wird schnell klar, dass es nicht ausreicht, um das Quorum zu erreichen. Aber hier ist es jetzt wirklich knapp. Wir haben eine
Bei der Ungültigkeit der Unterschriften gibt es klare Fälle wie »2-mal unterschrieben« oder »andere Staatsangehörigkeit«. Eine Unterschrift kann aber auch ungültig sein, wenn Schmidt weder Name noch Adresse richtig entziffern kann. Ist das ein »r« oder ein »s«? Sie sagt, sie gebe nicht nach dem ersten Versuch auf. Manchmal reichen dem Programm die Anfangsbuchstaben des Nachnamens in Kombination mit dem Geburtsdatum. Manchmal gibt es zu viele Eintragungen auf diese Kombination. Ein paar Mal geht Schmidt extra ins Melderegister und sucht dort.
Ich sehe das so: Die Person hat das ja extra unterschrieben, die wollte, dass ihre Stimme gilt. Da gebe ich mir doch Mühe! Meine Aufgabe bedeutet mir viel, ich verstehe das Wahlamt als Maschinenraum der Demokratie.
Links neben Schmidts Tastatur liegt ein Dokument mit Richtlinien zur Auszählung. Darin steht zum Beispiel, wie man vorgehen muss, wenn der Vorname fehlt oder jemand statt seiner Adresse Gänsefüßchen eingetragen hat. Grundsätzlich gilt: Die Person muss zweifelsfrei identifiziert werden, damit ihre Stimme gelten kann.
Geht das nicht automatisch?
Ob das alles automatisch ausgezählt werden könnte? Janka Schmidt ist sich unsicher, welche digitalen Voraussetzungen dafür notwendig wären, und verweist in der Frage an die Landeswahlleitung. Die hat laut einer Mitarbeiterin dazu keine konkreten Pläne, verweist wiederum an eine andere Abteilung in der Senatsverwaltung, die sich da »vielleicht etwas überlege«.
Ein Volksbegehren bedeutet: Viel Aufwand, hohe Kosten
Einstweilen werden die Listen von Hand überprüft. Im Wahlamt sind sie dafür derzeit nicht genug Leute. »Wir müssen uns Unterstützung aus dem Frontoffice des Bürgeramts holen, also von Mitarbeiter:innen, die sich sonst um die akuten Anliegen der Bürger:innen kümmern«, beschreibt Schmidt.
Ein Volksbegehren verursacht an dieser Stelle einen hohen Aufwand für die Verwaltung, auch hohe Kosten. Geht das Volksbegehren durch, entstehen weiterer Aufwand und Kosten für den Volksentscheid. Genau darum entbrennt in Berlin ein Streit. Noch bevor offiziell verkündet wurde, dass das Volksbegehren erfolgreich war, geht das Bündnis Klimaneustart Berlin erneut auf die Straße.
Dienstag, 29. November
Um 09:15 Uhr versammeln sich Menschen mit roten Warnwesten vor dem Roten Rathaus in Berlin-Mitte. Sie fordern, den Volksentscheid am selben Tag durchzuführen, an dem auch die Wiederholung der Wahl stattfindet, also am 12. Februar 2023. Sie warnen vor einem großen Schaden für die Demokratie und der Verschwendung von Steuergeldern.
Das Volksbegehren war erfolgreich
Ihre Befürchtung: Sollte es zu einem Extratermin für den Volksentscheid kommen, würden voraussichtlich weniger Menschen zu der Wahl gehen als am Tag der Wahlwiederholung. Auch ein Volksentscheid ist nur gültig, wenn eine gewisse Anzahl an Stimmberechtigten gewählt haben. Innensenatorin Iris Spranger (SPD) schätzt die Zusammenlegung der Wahlen schlicht für nicht machbar. Die Unterlagen für die Wahl müssten ab dem 2. Januar verschickt werden. Um auch die Informationsbroschüren für den Klimaentscheid mitzuschicken, müssten die Argumente der Volksentscheidsinitiatoren sowie die Stellungnahme des Senats und des Abgeordnetenhauses eigentlich jetzt druckreif vorliegen,
Am Nachmittag dann verkündet der Landeswahlleiter, worauf alle gewartet haben: das endgültige Ergebnis des Volksbegehrens. Die Berliner Bezirksämter hätten 261.841 Unterschriften geprüft; 180.547 davon seien gültig – mehr als die erforderliche Anzahl. Es kommt zum Volksentscheid.
Klimaentscheide in ganz Deutschland
Damit reiht sich Berlin in eine stetig wachsende Liste von Orten ein, die mithilfe eines Volksentscheids bis spätestens 2035 klimaneutral werden sollen. Die Klimaschutzorganisation
Was Klimaneutralität in der Praxis auf kommunaler Ebene bedeute, erklärt Ines Gütt von German Zero: »Wir müssen Gebäude sanieren, unsere Energie- und Wärmeversorgung umstellen, Industrie und Handwerk neu denken, Leute ausbilden, Moore wieder vernässen und vieles mehr.«
Chancen der Demokratie, Grenzen der Verwaltung
Städte und Kommunen seien an einer Schlüsselposition, um diese Veränderungen voranzubringen. Ein Volksentscheid könne den notwendigen Anstoß geben. Die lokalen Teams von German Zero arbeiten auch nach Abgabe der Unterschriften weiter mit, beteiligen sich zum Beispiel an der Umsetzung bestimmter Maßnahmen sowie am Monitoring oder unterstützen die Klimaschutzmanager:innen in der Verwaltung.
Die Klimaentscheide zeigen, dass sich mit den gegebenen demokratischen Instrumenten einiges in Bewegung setzen lässt. Sie zeigen aber auch die Grenzen der Verwaltung auf. In Berlin steht bis jetzt nicht fest, ob der Volksentscheid gemeinsam mit der Wahlwiederholung stattfinden wird.
Und die Unterschriftenlisten? Die wurden von den Mitarbeiter:innen der Wahlämter in braune Briefumschläge gesteckt und ins Archiv gebracht. Falls man die Auszählung in den nächsten Jahren noch mal überprüfen muss.
Update vom 13. Dezember: Der Berliner Senat hat entschieden, dass der Volksentscheid am 26. März 2023 stattfindet, also getrennt von der Wahlwiederholung.
Redaktionelle Bearbeitung: Maria Stich
Mit Illustrationen von Claudia Wieczorek für Perspective Daily