Darum sind gerade alle krank
Liegen deine Lieben auch mit Erkältung, Grippe und Co. flach? Das trifft aktuell 9 Millionen Menschen in Deutschland. Woran das liegt und was helfen kann.
Kurz nachdem ich mit der Recherche für diesen Text beginne, erwischt es mich: Husten, Schnupfen, Fieber, das volle Programm. Meinen Partner und unseren 2-Jährigen trifft es noch übler. 5 Tage lang hängen wir in den Seilen, zwingen uns 2-mal am Tag zum Spazierengehen, schlürfen schüsselweise Suppe.
Als ich ein Rezept für ein Medikament bei unserer Kinderärztin abhole, reicht die Schlange bis ins Treppenhaus. Glücklicherweise können wir darauf verzichten, uns mit krankem Kind in die Schlange einzureihen, denn der Infekt verläuft nicht übermäßig schwer. Eine »normale« Atemwegserkrankung, die dadurch leider nicht weniger anstrengend ist.
So wie uns geht es im Moment vielen Menschen in Deutschland. Einige können sich zu Hause auskurieren, andere landen in überlasteten Arztpraxen oder – im schlimmsten Fall – überfüllten Krankenhäusern. Besonders Kinderstationen in Ballungsgebieten
Gerade erkranken mehr Menschen als in den Jahren zuvor
Laut Robert Koch-Institut ist die Zahl der Atemwegsinfekte in diesem Jahr tatsächlich ungewöhnlich hoch. Etwa 9,3 Millionen Menschen sind Hochrechnungen zufolge derzeit erkrankt, mehr als jede:r Zehnte. Aktuell sind die Zahlen sogar höher als während der schweren Grippewelle 2017/2018.
Bei Schulkindern und jungen Erwachsenen ist die Menge der Infekte in den letzten Wochen besonders rasant gestiegen. Die meisten Menschen erwischen momentan
Gegenwärtig bringen Influenzaviren sogar mehr Menschen ins Krankenhaus als COVID-19. Unter allen Patient:innen, die mit einer Atemwegsinfektion ins Krankenhaus gebracht werden mussten, konnten Mediziner:innen bei 9% eine COVID-19-Erkrankung diagnostizieren. Der Anteil der Influenzadiagnosen stieg in der letzten Woche dagegen auf 25%.
Doch woran liegt es, dass momentan so viele Menschen krank sind, besonders Kinder? Die wichtigsten Fakten zur aktuellen Krankheitswelle.
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Haben die Coronamaßnahmen unserem Immunsystem geschadet?
Eine derzeit verbreitete These, besonders im Netz: Die Maßnahmen zum Infektionsschutz hätten dafür gesorgt, dass unser Immunsystem nicht mehr richtig arbeitet, weil es kaum etwas zu tun hatte. Schließlich haben Masken und Hygienemaßnahmen alle Keime und Erreger ferngehalten. Dass unser Immunsystem »nicht richtig arbeitet« oder »kaputt« ist, stimmt so aber nicht. »Unser Immunsystem funktioniert ganz normal. Es ist nicht geschwächt, sondern hatte lediglich weniger Kontakte zu viralen und bakteriellen Erregern«, erklärt mir Martina Prelog. Die Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin arbeitet am Uniklinikum Würzburg und ist Fach-Immunologin bei der Deutschen Gesellschaft für Immunologie.
Während der Pandemie hielten die Infektionsschutzmaßnahmen, die die Verbreitung von COVID-19 bremsten, auch andere Krankheiten in Schach. In den letzten Jahren haben deshalb viel weniger Menschen Infektionen mit Influenza-, RS- und Rhinoviren durchgemacht. Aber auch Magen-Darm-Infekte waren seltener. Die Zahl der Atemwegserkrankungen insgesamt erreichte in der Saison
Um effizient arbeiten zu können, passt sich unser Abwehrsystem an unsere jeweilige Lebenssituation an. Stellt es fest, dass darin bestimmte Krankheitserreger gerade keine Rolle spielen, wäre es Energieverschwendung, sich trotzdem speziell darauf vorzubereiten. Das Immunsystem kümmert sich um das, was gerade wichtig ist – und Atemwegserreger zählten in den letzten 2 Jahren nicht dazu. Jetzt ändert sich das. Mit Beginn der kalten Jahreszeit und ohne die Infektionsschutzmaßnahmen der letzten Jahre breiten sich Erkältungs- und Grippeviren wieder aus. Darauf reagiert das körpereigene Abwehrsystem, indem es eine Immunreaktion in Gang bringt.
So reagiert der Körper nach der »Erregerpause«
Um zu veranschaulichen, was genau in unserem Körper passiert, wenn wir nach längerer Zeit auf einen Erreger treffen, stellen wir uns die Viren als Einbrecher vor, die sich in unserem Organismus breitmachen. Bemerkt sie der Körper, schaltet er die Alarmanlage – unser Immunsystem – ein.
Damit die Immunabwehr feststellen kann, wer die Schurken sind, muss sie nun die etwas vergilbten Fahndungsplakate für Viren abstauben. Vielleicht hat sich einer der Eindringlinge auch einen Schnurrbart angeklebt, der auf dem alten Plakat nicht zu sehen war. Das abzugleichen braucht etwas Zeit. Bis geklärt ist, um wen es sich handelt, bleibt unserem Körper nichts anderes übrig, als eine breitere Abwehr in Gang zu setzen.
Mögliche Symptome der Abwehrreaktion sind Husten, Schnupfen und Fieber. Ist der Körper die Erreger erfolgreich losgeworden, sind auch alle Fahndungsplakate auf dem neuesten Stand und das System besonders aufmerksam. Sollten sich die Eindringlinge in nächster Zeit erneut blicken lassen, erwischt sie unsere Abwehr schon, bevor sie Ärger machen.
Wenn ich etwa einmal im Jahr Kontakt mit einem bestimmten Erreger habe, dann hat das Immunsystem eine Art Gedächtnis aufgebaut, die Infekte verlaufen dann meist auch etwas milder.
Sowohl bei einer spezifischen als auch unspezifischen Immunantwort wird das Immunsystem durch einen Infekt daran erinnert, wie es einen Erreger am effektivsten abwehren kann.
(Un-)Spezifisches Immunsystem? Klicke hier, um mehr darüber zu erfahren!
- Das »angeborene« oder »unspezifische« Immunsystem begleitet uns schon seit unserer Geburt. Es ist darauf eingestellt, schädliche Bakterien und Viren schnell zu erkennen und unschädlich zu machen. Dieses Immunsystem wird auch »unspezifisches« Immunsystem genannt, weil es mit allen Erregern in etwa auf die gleiche Weise verfährt. Zu diesem angeborenen Immunsystem zählt zunächst einmal der physische Schutz durch Haut und Schleimhäute – es ist die erste Barriere, die Krankheitserreger aufhält. Treffen Erreger, Keime oder Mikroben auf einen dieser Schutzwälle – etwa durch ein Händeschütteln, beim Einatmen oder über die Nahrung –, verhindern Säuren, Enzyme oder Schleim, aber auch die Flora von Haut- und Schleimhaut, dass Erreger weiter in den Körper vordringen können. Gelingt es einem Erreger doch irgendwie, diese erste Barriere zu überwinden, kommen Abwehrzellen und Antikörper zum Einsatz.
- Das »erworbene« oder »spezifische« Immunsystem kommt dann ins Spiel, wenn das angeborene Immunsystem die erste Arbeit erledigt hat. Beide Systeme arbeiten eng zusammen. Es wird im Laufe unseres Lebens immer weiter ausgebildet – je nach Erregern, denen wir begegnen – und geht gezielter gegen diese vor als das angeborene Immunsystem. Für dieses gezielte Vorgehen muss es zunächst erkennen, um welche Art von Erreger es sich handelt – das dauert länger als die generelle Antwort des angeborenen Immunsystems. Der Vorteil: Das erworbene Immunsystem hat eine Art Gedächtnis, mit dessen Hilfe es sich an Viren und Bakterien erinnert, die unser Körper in der Vergangenheit schon bekämpft hat. Trifft unser Körper erneut auf diese Erreger, hat das erworbene Immunsystem die Antwort schnell parat. Dieses Immunsystem ist auch dafür verantwortlich, dass wir gegen manche Krankheiten immun werden können.
Wieso die Immunsystem-Updates jetzt Probleme machen
Für den Einzelnen ist es in der Regel kein Problem, wenn das Immunsystem nach einer längeren Pause auf einen Erreger trifft. Wir werden krank und sind anschließend wieder für eine Weile immun. Der bloße Fakt, dass unser Organismus in den letzten Jahren seltener auf einige krankmachende Viren getroffen ist, ist an sich sogar manchmal positiv. Denn jeder Infekt birgt Risiken, besonders für ältere, vorbelastete oder sehr junge Patient:innen.
Das aktuelle Problem besteht darin, dass ein großer Teil der Bevölkerung nicht (mehr) gegen die Erreger immun ist und es deshalb viele Menschen auf einmal trifft. Die Viren können ungebremst durch die ganze Bevölkerung rauschen. Aktuell ist mehr als 1/10 der Bevölkerung erkrankt. Das RKI geht von 9,3 Millionen akuten Atemwegserkrankungen aus.
Darum sind Kinder besonders betroffen
Unter Kindern sind die Infektionszahlen gerade besonders hoch. Die Zahl der Kinder, die mit einer schweren akuten Atemwegserkrankung im Krankenhaus behandelt werden müssen, liegt laut RKI deutlich über den Werten der Vorjahre. Etwa 58% dieser schwer erkrankten Kinder haben sich mit dem RS-Virus angesteckt.
Dieses Virus erwischt die meisten Menschen mit ziemlicher Sicherheit in den ersten 2 Lebensjahren. Kleinkinder und Babys haben allerdings noch keine Antwort auf den Erreger, auch keine verstaubten Fahndungsplakate. Der Körper muss diese erst einmal komplett neu anfertigen. Auch die allgemeine Abwehr ist bei Kindern noch nicht so gut ausgebildet.
»Im frühen Säuglingsalter muss das Immunsystem erst reifen«, sagt Martina Prelog. Impfungen seien zwar mittlerweile in der Lage, eine Menge Infekte abzuwehren, die Kinder früher das Leben kosten konnten, trotzdem sei die erste Zeit kritisch. Häufige Infekte könnten zudem die Entwicklung der Immunabwehr stören. Dabei könne das Immunsystem in eine bestimmte Richtung gedrängt werden, sodass entzündliche oder allergische Erkrankungen begünstigt würden. Kinder, die im ersten Lebensjahr oft erkrankten, seien in der Folge beispielsweise anfälliger für bronchiale Probleme. »Ab dem zweiten, dritten Lebensjahr kommen Kinder schon besser mit Infektionen zurecht«, so die Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin.
Erst später mit Erregern wie dem RS-Virus in Kontakt zu kommen ist für das einzelne Kind also eigentlich von Vorteil. Doch wie bei den Erwachsenen, führen die nach hinten verschobenen Infektionen auch bei Kindern dazu, dass sich gerade viele von ihnen auf einmal anstecken. Weil sie noch empfänglicher für die Viren sind als Erwachsene, rauscht das Virus durch die jüngeren Altersgruppen zurzeit noch schneller hindurch.
Neben den Kindern verschlägt es auch Menschen über 60 aktuell häufiger als sonst mit einer Infektion zum Arzt oder sogar ins Krankenhaus. »Auch im Alter ist das Immunsystem weniger fit«, sagt Prelog. Neben RS-Viren spielen hier aktuell Infektionen mit dem Influenzavirus eine entscheidende Rolle.
Die Lage scheint sich gerade wieder etwas zu entspannen
Die gute Nachricht: Aktuell sinken die Infektionszahlen bei den jungen Kindern wieder, besonders in der Altersgruppe
»Allerdings bleiben Kinder oft auch noch eine Weile nach einer Infektion empfänglich für neue Erreger«, so die Fachärztin. Wochenlanges Husten etwa sei nach einer durchgemachten Infektion nicht unüblich, die gereizten Atemwege seien empfindlich. »Das Immunsystem reagiert in dieser Zeit sehr sensibel«, sagt Prelog. »Infekte greifen auch die Schleimhäute an, die wichtig für die Immunabwehr sind. Andere Erreger können dann leichter andocken.«
Stress, COVID-19-Infektionen, Krankheitsfokus: Diese Faktoren könnten zudem noch eine Rolle spielen
Die aufgeschobenen und jetzt nachgeholten Infektionen in allen Altersgruppen sind wahrscheinlich der Hauptgrund dafür, dass gerade so viele Menschen erkranken. Es gibt aber noch andere Faktoren, die eine Rolle spielen könnten:
- Stress: Die wirtschaftliche Lage, der Krieg in der Ukraine und die Nachwirkungen der Pandemie – wir leben aktuell in stressigen Zeiten. »Wir wissen mittlerweile, dass sich Stress erheblich auf die Funktion des Immunsystems auswirkt«, sagt Prelog. Es sei möglich, dass uns die Situation empfänglicher für Krankheitserreger mache.
- COVID-19 wirkt auf die Immunabwehr: Viele Menschen haben in den letzten Jahren eine COVID-19-Infektion durchgemacht. »Es gibt Hinweise darauf, dass das Immunsystem nach einer schweren COVID-19-Erkrankung beeinträchtigt ist«, so Prelog. Das könne dazu führen, dass unsere Immunabwehr auch weniger gut mit den anderen Viren zurechtkomme. Sie führt fort: »Man kennt diesen Effekt bereits für andere Erreger, zum Beispiel für die Masern«. Um diese Wirkung von COVID-19 zu bestätigen, brauche es aber noch weitere Forschungsergebnisse.
- Erhöhte Aufmerksamkeit: Während der Pandemie sind viele Menschen aufmerksamer geworden, wenn es um Erkrankungen geht. Eine Vermutung, die die RKI-Forschenden in ihrem Wochenbericht äußern: Menschen könnten aktuell so sensibilisiert sein, dass sie eher einen Arzt aufsuchten. So würden mehr Krankheiten in die Statistiken einfließen als sonst.
- Impflücken: Einer der aktuell verbreitetsten Erreger und Auslöser von Krankenhausaufenthalten ist das Influenzavirus. In den vergangenen Jahren ließen sich nur wenige Menschen gegen das Virus impfen – in der Risikogruppe ab 60 Jahren waren es im letzten Jahr nicht einmal 50%. Die Zielvorgabe der Europäischen Union liegt bei 75% bei älteren Menschen. Würden sich mehr Menschen per Impfung schützen, gäbe es weniger schwere Verläufe.
Am Ende sind es verschiedene Dinge, die einen mehr oder weniger großen Einfluss auf die aktuelle Situation haben. Abschließend klären lässt sich das vermutlich nur schwer. »Es wirken hier viele Faktoren zusammen, die sich nur schwer trennen lassen«, erklärt Prelog. Das mache es auch schwierig, die Ursachen in Studien zu untersuchen. Eine Kontrollgruppe zu finden, die nicht mit den Folgen der Pandemie zu kämpfen habe, sei beispielsweise ein unmögliches Unterfangen.
Was hilft jetzt? Reformen und einige Maßnahmen zur Soforthilfe
Wenn sich der Trend weiter fortsetzt, könnte sich die Lage in den Kinderkliniken bald wieder etwas entspannen, zumindest bis zur nächsten Krankheitswelle. Vertreter:innen der Kindermedizin beklagen schon lange,
Auch andere Probleme muss die Politik möglichst bald lösen. Aktuell sind etwa fiebersenkende Mittel und einige Antibiotika knapp. Die Regierung müsse sich um deren Beschaffung kümmern, forderte der Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte,
Trotzdem gibt es ein paar Dinge, die wir jetzt sofort unternehmen können, um die Lage etwas zu verbessern:
- Zu Hause bleiben: »Wer krank ist, sollte die ersten Tage unbedingt zu Hause bleiben, um die Erreger nicht zu verbreiten«, sagt die Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin. Statt sich krank zur Arbeit oder in die Schule zu schleppen, heißt es also auskurieren – oder das Nötigste, wenn möglich, im Homeoffice zu erledigen.
- Hygienemaßnahmen anwenden: Wer trotzdem in Menschenmengen muss, etwa zum Einkaufen oder in die U-Bahn, kann auf die Maske zurückgreifen. Statt die Masken in der Tasche zu lassen, nur weil das Tragen keine Pflicht mehr ist – wie etwa im bayerischen ÖPNV –, könnten wir sie trotzdem in öffentlichen Räumen aufsetzen. Es schade zumindest nicht und es bestehe die Chance, dass wir so einige Menschen vor Viren schützen könnten. Auch das regelmäßige Händewaschen könne Ansteckungen verhindern. Die meisten Menschen würden sich vermutlich trotzdem irgendwann infizieren, dennoch könnten schon minimale Hygienemaßnahmen die Übertragung zumindest verzögern oder sogar verhindern. »Je weniger infektiöse Partikel übertragen werden, umso eher hat unser Immunsystem die Chance, adäquat darauf reagieren zu können«, so Martina Prelog.
- Impfungen auffrischen: Wer einem besonderen Infektionsrisiko ausgesetzt ist, schwanger, vorerkrankt oder älter als 60 ist, sollte sich dringend gegen die Grippe impfen lassen. Auch für weitere Gruppen
- Selbstfürsorge betreiben: Der wichtigste Tipp für ein gesundes Immunsystem, das gut mit Erkrankungen zurechtkomme, sei ein gesunder Lebensstil, sagt Prelog. Teil davon seien ausreichend Schlaf, regelmäßige Bewegung und eine ausgewogene Ernährung. Auch Stress zu vermindern,
All diese Maßnahmen lassen sich nicht einfach umsetzen. Besonders Stressvermeidung ist in der aktuellen Situation alles andere als einfach. Sich bewusst zu machen, dass es der Gesundheit guttut, sich auch mal um sich selbst zu kümmern, kann trotzdem eine wichtige Erinnerung sein. Als ich diese letzten Zeilen tippe, brummt mein Kopf wieder etwas von der Erkältung – Zeit, eine Pause einzulegen und eine Runde spazieren zu gehen.
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily