Was ich in Srebrenica über Versöhnung gelernt habe
Für Teil 2 meiner Bosnienreportage bin ich nach Srebrenica gereist, wo 1995 ein Völkermord stattgefunden hat. Dort erzählen ein Bosniake und eine Serbin von ihrem Weg der Annäherung.
Ist es möglich, zu vergeben, wenn Unverzeihliches passiert ist, wenn gemordet, gefoltert, vergewaltigt wurde? Katharina Wiegmann und Judith Braun haben versucht, diese Frage mit den Werkzeugen der Philosophie und der Psychologie zu beantworten:
Die Frage nach Vergebung wird komplexer, wenn es nicht nur eine Person ist, die Unrecht erfährt, sondern eine ganze Gesellschaft. Denn politische Versöhnungsprozesse sind oft die Aufgabe mehrerer Generationen.
Ich habe mich deshalb nach Bosnien-Herzegowina aufgemacht. In dem Land auf dem Balkan tobte vor 30 Jahren der wohl heftigste der Jugoslawienkriege. Und ein Teil der bosniakischen Bevölkerung erlitt ein grausames Kriegsverbrechen: den Genozid von Srebrenica.
Ich habe mit Menschen gesprochen, die Traumatisches erlebten und trotzdem gegenüber den Täter:innen keinen Hass (mehr) hegen; die daran arbeiten, verfeindete Gruppen miteinander ins Gespräch zu bringen; die für sich persönlich Versöhnung gefunden haben und sich diese Versöhnung auch für ihr Land wünschen.
Jene Menschen will ich in den nächsten Wochen vorstellen und ihren Geschichten Raum geben.
»Es ist ein Erfolg, wenn junge Leute über Tiktok sprechen«
Die Kleinstadt Srebrenica liegt in einem grünen, von Wald und Hügeln gesäumten Talkessel im Osten Bosniens. Srebrenica war lange eine der multiethnischsten Gemeinden des Landes. Hier lebten muslimische Bosniak:innen, christliche Kroat:innen und orthodoxe Serb:innen Tür an Tür, interreligiöse Ehen gehörten dazu. Die Stadt war als Kurort sehr beliebt, jährlich reisten Tausende Tourist:innen zu den bekannten Heilwasserquellen. Der Boden war reich an Zink, Blei sowie Aluminium und die Wälder ringsum boten Holz als wertvollen Rohstoff. In Srebrenica wurden deshalb besonders viele Fabriken gebaut, die Wirtschaft florierte.
Wenn man weiß, was im Juli 1995 in Srebrenica passiert ist, mag diese Beschreibung unglaublich klingen. Vor dem
Von dieser Realität erzählen heute Bilder und eingerahmte Zeugenberichte
30 Jahre nach Beginn des Bosnienkriegs gleicht Srebrenica einer Geisterstadt. Viele Gebäude sind über die Jahrzehnte zerfallen, sie klaffen wie offene Wunden zwischen den bewohnten Häusern. Die Schusslöcher an den Hausfassaden erinnern an den Krieg, der die einstige Kurstadt und Touristenhochburg in einen Ort des kollektiven Traumas verwandelt hat.
Kein Wunder, dass die wenigsten Familien an diesen Ort zurückgekehrt sind. Lebten früher rund 40.000 Menschen im gesamten Gemeindegebiet, ist die Bevölkerung heute laut offiziellen Angaben auf 14.000 Einwohner:innen geschrumpft – das sind
Zu den wenigen muslimischen
Bekir und ich laufen durch den Gedenkfriedhof von Srebrenica, auf dem die
Immer wieder bleibt Bekir vor einem Grabstein stehen und murmelt ein arabisches Gebet. Für seinen Onkel. Für noch einen Onkel. Für seinen Vater. »Ich war etwas mehr als ein Jahr alt, als wir flüchteten, und habe daher keine Erinnerungen mehr an den Genozid. Aber trotzdem verfolgt mich der Krieg schon mein ganzes Leben lang.«
Traumata, die eine gesamte Gesellschaft durchlebt, werden häufig auch jenen Generationen mitgegeben, die die Gewalt
Felix Franz erzählt die berührende Geschichte 7 mutiger Frauen, die ihr Trauma durch sexualisierte Gewalt, die sie während der Jugoslawienkriege erfahren haben, 30 Jahre später zu bewältigen lernen:
Zwar gehen serbische Kinder heute zusammen mit muslimischen und kroatischen Kindern in die Schule; Menschen unterschiedlicher Volksgruppen begegnen sich am Arbeitsplatz. Sobald jedoch sensible politische Themen berührt werden, fällt es schwer, miteinander zu sprechen – zu verschieden sind die kollektiven Erinnerungen und nationalen Diskurse in den einzelnen Bevölkerungsgruppen. Davon erzählt der Jugoslawienexperte Andrea Rizza Goldstein. Er begleitet Erinnerungsreisen an Orte des
Er erklärt, dass heute noch viele Serb:innen den Genozid an den Bosniak:innen leugnen; die muslimische Bevölkerung bleibe wiederum in ihrem Opferdiskurs gefangen. Gerade weil Politiker:innen auf beiden Seiten von solchen Narrativen profitierten, gebe es von Regierungsseite her wenig Interesse an einer Annäherung oder einer gemeinsamen Aufarbeitung der Vergangenheit.
Umso wichtiger sind Bürger:innen wie Bekir, die den einseitigen Erzählungen die Komplexität der Realität und der verschiedenen Perspektiven entgegenhalten.
Bekir arbeitet heute für den Verein
Wie hat er es geschafft, der anderen Seite die Hand zu reichen, obwohl sie ihm seinen Vater nahm?
»Ich weiß nur eines: dass wir es versuchen müssen. Es ist manchmal schwierig, aber wir müssen uns versöhnen. Besonders für die Generationen, die noch kommen. Ich merke, dass auch die Generationen, die Jahre nach dem Krieg geboren wurden, das Gewicht des Krieges immer noch mit sich tragen. Zu Unrecht. Deshalb muss es Alternativen geben, wie Adopt Srebrenica, wo die Leute auch die andere Seite hören können.
Leider sind die meisten politischen Kräfte auf allen Seiten dagegen. Sie können nicht sagen: Unsere Wirtschaft läuft gut. Daher sagen sie: Wenn ihr uns nicht wählt, werden die Kroaten, die Serben oder die Bosnier kommen und uns zerstören.
Ich lebe in einer Zeit, in der es heißt: Wenn man in Bosnien geboren wird, hat man automatisch einen Feind. Ich möchte meinem Kind ermöglichen, dass es morgen keinen Feind mehr hat. Das kann ich nicht schaffen, wenn ich hasse. Ich kann das nur schaffen, wenn ich eine Hand zur anderen Seite ausstrecke.
Meine Inspiration ist mein Vater. Ich wollte niemals etwas sein, was er auch nicht war. Aus Geschichten weiß ich: Er war ein guter Mensch. Er war keiner, der andere ermordet, weil sie anders sind. Er hatte auch serbische Freunde. Ich will sein wie er. Deshalb mache ich diese Arbeit. Ich will mich nicht auf Nationalismus beschränken.
Ich glaube, dass sich die neuen Generationen anders entwickeln. Meine Generation hat noch über den Krieg gesprochen. Viele Jugendliche, die heute zu uns kommen, von beiden Seiten, fangen wieder an, über normale Dinge miteinander zu sprechen: Über Computerspiele, oder über Tiktok. Das ist ein großer Erfolg, wenn die jungen Leute über Tiktok statt über den Krieg sprechen.
Was mir Hoffnung gibt? Dass ich auch serbische Freunde habe. Wenn auch nur ein Serbe und ein Bosniake sich wieder als Freunde sehen können, ist das schon ein Erfolg. Es zeigt mir, dass die Menschen zueinanderfinden können. Danach müssen wir immer streben.« – Bekir Halilović
Eine dieser serbischen Freund:innen von Bekir ist Valentina Gagić.
»Erst muslimische Frauen erzählten mir die ganze Wahrheit«
Valentina ist auch Teil von Adopt Srebrenica. Darüber hinaus gründete sie 2006 gemeinsam mit anderen Frauen die Nichtregierungsorganisation (NGO)
Bei diesen Treffen wurde erstmals im Jahr 2006 offen über die Vergangenheit in Srebrenica gesprochen,
Valentina zog mit ihrem Mann und ihren Kindern 1995 nach Srebrenica, kurz nach dem Ende des Bosnienkriegs. Die Stadt war verlassen, viele Häuser standen leer. Vom Massaker, das zuvor dort stattgefunden hatte, wusste sie noch nichts.
Für die Serb:innen sei es ein schwieriger und schmerzhafter Prozess, zu begreifen, was wirklich in Srebrenica passiert sei, erzählt Valentina; denn in den nationalen Narrativen komme der Genozid nicht vor. Erst als die geflüchteten muslimischen Familien begannen, nach Srebrenica zurückzukehren, erfuhr Valentina die ganze Wahrheit.
Ab diesem Zeitpunkt änderte Valentina ihr Leben. Sie beschloss, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und für eine bessere Zukunft ihrer Kinder zu arbeiten. Ihr Mut kostete sie einen hohen Preis: Viele Berufswege, vor allem öffentliche Stellen, blieben ihr verwehrt, und somit der Zugang zu besser bezahlten Jobs. Auch ihre sozialen Beziehungen wurden durch ihren Aufarbeitungsprozess strapaziert. Staatliche Unterstützung für ihre Arbeit erhielt sie nicht.
Trotzdem sei Valentina froh über ihre Entscheidung, sagt sie: »Ich bin frei vom Käfig der Identität, des Nationalismus. Ich kann selbst entscheiden, wie ich die Dinge sehe, die im Krieg passiert sind.«
Wie sie die Dinge sieht, hat sie mir erzählt.
»Als der Krieg begann, war ich 19 Jahre alt. Ich wohnte in einem Internat in Sarajewo, wo ich zur Schule ging. Dort lebten Jugendliche aus ganz Jugoslawien. Sie waren für mich wie eine Familie, und es war mir egal, ob sie Muslime, Serben oder Kroatinnen sind. Ich dachte immer: Krieg kann überall passieren, nur hier in Bosnien nicht. Denn hier sind die Leute gut zueinander. Aber 1992 hat sich von einem Tag zum anderen alles verändert.
Meine Eltern schickten mich und meine Schwester in die Slowakei. Sie sagten, dort seien wir sicher. Sie glaubten, der Krieg wäre in einem Monat schon wieder vorbei und wir könnten zurück. Wir glaubten das alle. Wir waren so dumm.
Ich entschied, nach Bosnien zurückzukehren und zu heiraten. Als der Krieg vorbei war, sagte mein Mann zu mir: Wir brauchen ein Haus – das seiner Familie war nämlich im Krieg zerstört worden –, wir können in Srebrenica eines erhalten, als Kompensation, denn dort stehen viele leer. Für mich war das Erklärung genug. Überall im Land waren Menschen geflüchtet, um Schutz zu finden. So zog ich mit meinem einjährigen Sohn und meinem Mann nach Srebrenica. Die Stadt war ohne Wasser, ohne Elektrizität. Aber das war für uns normal, das kannten wir aus dem Krieg.
Als die ersten Geflüchteten Ende der 90er-Jahre zurück nach Srebrenica kamen, erfuhr ich zum ersten Mal, was hier im Juli 1995 passiert war. Bosnische Frauen erzählten mir alles. Das war für mich ein Schock. Ich konnte einfach nicht begreifen, wie so etwas geschehen konnte. Es fällt mir schon schwer zu verstehen, wie jemand einen Menschen umbringen kann. Aber Tausende?
Srebrenica gehört wahrscheinlich zu den 5 wichtigsten Dingen in meinem Leben, die mich zu der Person gemacht haben, die ich heute bin.
Ich wusste, ich muss etwas tun. Deshalb habe ich gemeinsam mit anderen die NGO Sara Srebrenica gegründet. Auch, um die Frauen zu empowern. In der traditionellen bosnischen Gesellschaft haben die Männer meist das Geld und die Macht. Wir wollen Frauen zeigen, dass auch sie Macht haben, wenn sie zusammenarbeiten. Auch über Volksgruppen hinweg.
Es war nicht immer leicht. Es gab Zeiten, wo ich sowohl von der serbischen als auch von der bosnischen Community ausgegrenzt wurde. Manche Leute sagten, ich sei verrückt. Aber mittlerweile ist es mir egal, was die Leute denken.
Am Anfang verstanden die Muslime nicht, was ich in der Gedenkstätte von Srebrenica zu suchen hatte. Sie verstanden nicht, dass ich nicht als Serbin dort bin, sondern als Mensch, der mitfühlt.
Als Mutter liegt mir besonders am Herzen, meinen Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Auch deshalb mache ich das. Ich bin so froh, dass meine Kinder, vor allem meine Tochter, frei sind von ethnischen Zwängen und Nationalismus. Das ist nicht leicht in unserer Gesellschaft. Meine Tochter ist die einzige serbische Jugendliche in Srebrenica, die die Gedenkstätte besucht hat.
Ich glaube, tief drinnen wissen die meisten Serbinnen, was geschehen ist. Doch sie schweigen, weil sie Angst vor sozialer Ausgrenzung haben. Weil sie ihre Kinder vor dem Schrecken schützen möchten.
Wie wir Nationalismus überkommen können? Wir müssen uns darauf besinnen, dass wir für dieselbe Sache kämpfen. Wenn die Heizung in der Schule ausfällt zum Beispiel, dann haben meine Kinder, egal ob sie serbisch oder bosniakisch sind, ein Problem. Wenn die Wasserversorgung in der Stadt nicht funktioniert, leiden wir alle, Bosniaken wie Serben.
In Srebrenica fehlen Jobs, Infrastruktur, Geschäfte – aber wir können nur zwischen einem bosniakischen Politiker oder einer serbischen Politikerin wählen. Nicht zwischen guten und schlechten Volksvertretern. Die Leute sagen, das sind ›unsere‹ Politiker. Das ist keine echte Wahl für mich. Ich habe keine Politiker. Ich habe nur meine Kinder. Und für die wünsche ich mir eine bessere Zukunft.« – Valentina Gagić
Obwohl das Trauma in Srebrenica noch zu spüren ist, zwischen den Menschen viel ungesagt bleibt und sich die Politik auf den ethnischen Zerwürfnissen ausruht, statt sie zu heilen, sprießen in Srebrenica aus allen Fassadenrissen zarte Pflänzchen der Versöhnung. Der Wille, alte Mauern zu zerschlagen, findet sich versteckt in den kleinen Gesten der Bevölkerung: Seit 1995 hat es keinen einzigen Racheakt gegeben; eine Bar im Zentrum der Stadt, wo Bosniak:innen mit Serb:innen zusammen Tischfußball spielen, heißt
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily